9punkt - Die Debattenrundschau

Eine langjährige Tendenz

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.05.2022. Die SPD steht vor der Geschichte nicht so honorig da, wie man lange Zeit dachte: Die FAZ durchleuchtet die Russland-Liebe Sigmar Gabriels. Der Spiegel blickt auf die aktuelle SPD in Niedersachsen. Und Jan-Werner Müller wirft in der London Review of Books einen Blick zurück in die einstige Ostpolitik der SPD. Angela Merkels Beitrag verdient aber ebenfalls eine Würdigung, findet der Tagesspiegel. Der britische Autor Paul Mason staunt in der taz: "Einige Stimmen aus der deutschen Linken haben der Ukraine die Kapitulation nahegelegt. Das habe ich nirgends sonst gehört." Die FR bringt Masons Antwort auf Habermas
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.05.2022 finden Sie hier

Europa

Der britische Aktivist und Journalist Paul Mason, Autor des Buchs "Faschismus - Und wie man ihn stoppt" , ist zur Zeit in deutschen Medien omnipräsent. Im Interview mit Interview taz-Autor Jan Pfaff erklärt er, warum er als Linker für Waffenlieferungen an die Ukraine ist. An die Adresse Jürgen Habermas' und Olaf Scholz' und ihrer Beschwörung eines Atomkriegs sagt er: "Egal ob wir uns fürchten oder nicht, die Ukraine wird sich nicht ergeben. Ich lehne es ab, mich Putins Logik zu unterwerfen. Es ist eine Logik, die sagt: Weil Putin entscheidet, was er als existenzielle Bedrohung wahrnimmt, um einen atomaren Erstschlag auszulösen, darf man keinen Widerstand leisten oder muss die Unterstützung so fein kalibrieren, dass dieses Risiko ausgeschlossen ist. Wenn wir das akzeptieren, lassen wir Putin nicht nur über die Ukraine bestimmen, sondern auch über uns." Mason bekennt auch seine Verblüffung über die deutsche Debatte: "Einige Stimmen aus der deutschen Linken haben der Ukraine die Kapitulation nahegelegt. Das habe ich nirgends sonst gehört."

Die FR bringt heute auf zwei Seiten Paul Masons Antwort auf Jürgen Habermas' SZ-Artikel: "Konventionelle Kriege gegen eine Atommacht können nicht gewonnen werden? Doch." Nicht erpressen lassen, ist auch hier Masons Maxime: "Jeder Mensch, der heute in einer Demokratie lebt, muss sich jetzt folgenden grundsätzlichen Fragen stellen. Angesichts des Aufstiegs Russlands und Chinas als totalitäre Atommächte: Sind wir bereit, die Unterstützung der demokratischen Opposition innerhalb dieser Staaten aufzugeben? Sind wir bereit, ihre Forderung nach einem Ende der internationalen Rechtsordnung zu akzeptieren? Sind wir bereit, ganze Länder, Völker und Sprachen von ihren ethno-nationalistischen Eroberungszügen vernichten zu lassen?"

Die SPD steht vor der Geschichte nicht so honorig da, wie man lange Zeit dachte. Die Fäden der über Jahrzehnte freundlichen Politik gegenüber dem russischen Autokraten Putin laufen in Niedersachsen zusammen, schreiben Reinhard Bingener und Markus Wehner in der FAZ. Sie widmen sich besonders Sigmar Gabriel, der jüngst behauptete, er habe ja zu Russland eine ganz andere Meinung als Schröder. Das Gegenteil war der Fall: Gabriel war einer der Lobbyisten Putins in der deutschen Politik, so die beiden FAZ-Autoren. Er setzte sich in zahllosen deutsch-russischen Foren für eine Verständigung mit Putin ein, auch noch nach der Besetzung der Krim: "Bei einem Treffen Ende Oktober 2015 in Putins Residenz in Nowo-Ogarjowo bei Moskau dankte Gabriel Putin dafür, dass der russische Präsident sich so viel Zeit für ihn genommen habe, obwohl er 'gerade mit dem Konflikt in Syrien' viel zu tun habe. Gabriel sagte, ihm sei 'völlig unklar', was Russland und Deutschland binnen 15 Jahren so weit habe auseinanderbringen können." Nach 2018 wollte er auch privat von seinen Kontakten profitieren und beteiligte sich an der Beratungsfirma VIB, die ihre Expertise in der Energiewirtschaft rühmte und wo er auch mit dem SPD-Poltiker Heino Wiese kooperierte, "zum damaligen Zeitpunkt russischer Honorarkonsul in Hannover sowie Chef der Wiese Consult GmBH, die für Unternehmen Kontakte nach Russland knüpft".

Zum unermüdliche Einsatz der SPD besonders in Niedersachsen für Wladimir Putin, recherchiert auch der Spiegel. Auch der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil war bis vor kurzem darin unbeirrbar, schreibt Hubert Gude: "Russland ist für Niedersachsen ein wichtiger Wirtschaftspartner. VW lässt in Kaluga jährlich 100.000 Autos produzieren, der Zulieferer Continental Autoreifen."

Gerhard Schröder hat seinen Aufsichtsratsposten bei Rosneft niedergelegt, der ihm harte Sanktionen als Putin-Freund hätte einbringen können. Aber Schröder ist nur ein besonders extremer Repräsentant einer Tendenz in der ganzen SPD, schreibt Jan-Werner Müller in der London Review of Books. Der Mauerfall war hier überhaupt kein Bruch: "Sozialdemokraten dieses Typs teilen eine langjährige Tendenz, die mindestens auf Egon Bahr, den Architekten der Ostpolitik von Willy Brandt in den späten 1960er Jahren, und Helmut Schmidt zurückgeht. Sie behandeln Stimmen aus den Ländern zwischen Deutschland und Russland bestenfalls als lästige Ablenkung von den weltgeschichtlichen Notwendigkeiten der Entspannung und der internationalen Freundschaft zwischen den Großmächten. Sie haben die polnische Solidarność in den frühen 1980er Jahren abgetan und in den letzten Jahren die osteuropäischen Kritiker von Nord Stream als pathologische Russophobiker kritisiert."

"Kritik an Schröder und an Steinmeier war gestern. Jetzt kommt Merkel an die Reihe", meint allerdings Stephan-Andreas Casdorff vom Tagesspiegel mit Blick auf ein Spiegel-Interview mit Norbert Röttgen, der Merkel indirekt, aber deutlich kritisiert. Casdorff dazu: "Beteiligt war sie allerdings. Eine Untersuchung der Russlandpolitik ihrer Jahre erscheint im Bundestag möglich; zum 'schwerwiegenden Versagen', dass 'einfach angenommen' wurde, Wladimir Putin teile die deutsche Sicht der Welt und werde nicht einmarschieren, 'obwohl schon 180.000 Soldaten an der Grenze standen'. Röttgen findet das 'schlicht naiv'."
Archiv: Europa

Ideen

Im Interview mit Sonja Zekri in der SZ erklärt der amerikanische Historiker Timothy Snyder, warum er den Ukraine-Krieg am ehesten in der postkolonialen Optik begreifen will: "Dass Europa eine Geschichte der Nationalstaaten ist, beruht auf einem nachträglich konstruierten Mythos der Europäischen Union. In etwa so: Wir alle waren Nationalstaaten, aber nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir begriffen, dass wir uns besser nicht gegenseitig bekämpfen. In Wahrheit hatten die Europäer keine Nationalstaaten, sondern Imperien. Der Zweite Weltkrieg war ein imperialer Krieg, nur lag das deutsche Imperium in Europa."
Archiv: Ideen

Gesellschaft

Inge Viett ist im Alter von 78 Jahren gestorben. Wolgang Kraushaar erzählt in der taz noch einmal das düstere Leben der Terroristin, die von der Bewegung 2. Juni zur konkurrierenden RAF überlief. Und er erwähnt einen der zahlreichen kaum bekannten Kollateralschäden der deutschen Terroristen: "Im August 1981 gerät Viett in Paris in eine Polizeikontrolle. Weil sie auf ihrer Suzuki ohne Helm unterwegs ist. Sie versucht zu flüchten. Den ahnungslosen Verfolger, einen Verkehrspolizisten, streckt sie aus kurzer Entfernung nieder. Das Ergebnis ist eine Querschnittslähmung, die sein Leben zerstört. Er stirbt im Jahr 2000 mit nur 54 Jahren, ohne irgendein Zeichen des Mitleids oder Bedauerns von Viett erfahren zu haben."

Außerdem: In der SZ porträtiert Marlene Knobloch die Feministin Karin Howard, die einst mit Alice Schwarzer gegen das Abtreibungsverbot kämpfte und heute in Kaliforniern lebt.
Archiv: Gesellschaft

Medien

Dass Stern-Gründer Henri Nannen in den ersten Jahren ein emsiger Nazi-Propagandist war, ist schon länger bekannt und nun durch eine Recherche bei Funk (unser Resümee) noch eindeutiger belegt worden. Er habe zwar trotz allem auch Verdienste für den Journalismus, meint Christian Mayer in der SZ. "Doch als Namensgeber für einen bedeutenden Journalistenpreis und einer Hamburger Journalistenschule von Rang ist er jetzt für viele nicht mehr tragbar. Die Verantwortlichen täten gut daran, eine qualvolle Debatte zu vermeiden und souverän zu entscheiden."
Archiv: Medien
Stichwörter: Nannen, Henri

Politik

Dubai wird zum Ausweichort für russische Oligarchen, die sich auf  den künstlichen Inseln des Emirats monströse Villen kaufen, berichtet Karim El-Gawhary in der taz, der unter anderem mit der Immobilienmaklerin Alessia Sheglova gesprochen hat. Aber auch eine Menge IT-Leute aus Russland lassen sich in Dubai nieder: "Ein wichtiges Argument für Russen, sich in Dubai niederzulassen, dürfte auch der Geldverkehr sein, der problemlos möglich ist. 'Es gibt in den Emiraten keine Sanktionen gegen russische Banken. Beim Kauf einer Immobilie oder für eine Miete wird einfach aus Russland überwiesen', sagt die Maklerin. Das wäre im Westen so nicht mehr möglich, die Emirate profitieren von den Sanktionen dort. Sie waren auch eines von weltweit nur drei Ländern, die sich bei einer Resolution des UN-Sicherheitsrats im Februar, die russische Invasion in die Ukraine zu verurteilen, ihrer Stimme enthalten haben - zusammen mit China und Indien." Scheich Mansour bin Zayid Al Nahyan, Besitzer des englischen Fußballvereins Manchester, scheint ein besonderes Herz für die Oligarchen zu haben, so El-Gawhary.

Lisa Schneider befragt ebenfalls für die taz die Sicherheitsexpertin Jodi Vittori zum Thema. Sie erklärt, warum gerade die Emirate zum Schlupfloch für Putins Milliardäre wurden: "Die Emirate befinden sich in einem Zustand, den man 'regulatory capture' nennt. Das bedeutet, dass diejenigen, die für die Förderung dieser Wirtschaftssektoren - Finanz- und Bankwesen, Gold oder Immobilien - zuständig sind, nicht nur die Vorschriften aufstellen, sondern auch persönlich von diesen Geschäften profitieren. Gleichzeitig sollen sie diese auch überwachen. In den Emiraten gibt es keine unabhängigen Aufsichtsgremien. Alle Institutionen existieren nur, solange die königlichen Familien und andere Eliten es ihnen gestatten." Aber solange sie nur ihre Herrscher respektieren, seien die Emirate gegenüber jedem tolerant: Oligarchen, Terroristen, westliche Unternehmen. Solange Orte wie Dubai funktionieren, haben Sanktionen wenig Sinn, meint Vittori.
Archiv: Politik