9punkt - Die Debattenrundschau

Zweitliebste Kandidaten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.05.2022. Der russische Krieg hat sich verheddert, ebenso wie die Propaganda des Putin-Regimes, konstatiert die taz. Die Behandlung der Gefangenen von Mariupol zeigt, was geschieht, wenn die Ukrainer keine schweren Waffen haben, meint die FAZ. Die Bürger sollen künftig, eine Erst-, Zweit- und Drittstimme bekommen, um den Bundestag zu wählen - die FAS protestiert. In der SZ fordert Christoph Schwennicke von der Verwertungsgesellschaft Corint Media Geld von Google. Im Guardian erzählt die Schrifstellerin Bisi Adjapon, was die mögliche Abschaffung des Rechts auf Abtreibung in den USA für Ghana bedeutet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.05.2022 finden Sie hier

Europa

Der russische Krieg hat sich verheddert, ebenso wie die Propaganda des Putin-Regimes. Alles laufe nach Plan, beteuert die Regierung ohne Unterlass, aber niemand kennt den Plan. Inna Hartwich wirft in der taz einen entsetzen Blick auf ein mörderisches Scheitern. "Eine Okkupation und ein Regimewechsel in der Ukraine sehe Moskau nicht vor, wiederholt der russische Außenminister Sergej Lawrow stets. Dass in Cherson russische Fahnen an Regierungsgebäuden wehen, dass der ukrainische Bürgermeister von den Russen abgesetzt worden ist, dass dort der Rubel eingeführt werden soll, dass nur noch das russische Fernsehen empfangen werden kann, dass weiterhin der ukrainische Mobilfunk abgestellt wurde und die Gerüchte nach einem Referendum zur Schaffung der sogenannten 'Volksrepublik Cherson' nicht verstummen, nennt Lawrow freilich keine Besetzung."

Als sich die ukrainischen Soldaten ergaben, die im Asow-Stahlwerk von Mariupol ausgeharrt hatten, hieß es, sie würden bald ausgetauscht werden. Kaum waren die ersten auf russischem Boden, verkündeten russische Offizielle, man solle sie als Kriegsverbrecher behandeln, ihnen den Prozess machen, vorher aber die Todesstrafe wieder einführen. Das war vor einigen Tagen, jetzt hört man nichts mehr von den Gefangenen. Aber an ihrem Beispiel kann man gut studieren, was der Ukraine bei einer Kapitulation bevorstünde, ermuntert Michael Hanfeld in der FAZ die Unterzeichner des Emma-Briefes: "Ein 'manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt' postuliert der offene Brief. ... Hätte die Ukraine schwere Waffen gehabt, hätte sie die Eingeschlossenen von Mariupol befreien können, sagt Präsident Wolodimir Selenski. Das mag man bezweifeln, 'manifest' jedoch ist, was geschieht, wenn die Ukrainer diese Waffen nicht haben."

Pazifismus allein aus der deutschen Erfahrung des Krieges abzuleiten, wie es Harald Welzer tut, greift wesentlich zu kurz, schreibt Achim Doerfer in der Jüdischen Allgemeinen: "Verdrängt wird da jede Diskussion um die Wehrhaftigkeit der Opfer - doch darum und um deren Motive muss es zuerst gehen. 'Nie wieder' muss heißen: nie wieder Wehrlosigkeit. Das jedenfalls war die Lehre der Opfer, umgesetzt in der Selbstermächtigung von Juden einschließlich der Gründung eines wehrhaften Staates, der Selbstermächtigung auch von Homosexuellen, Sinti und Roma! Das ist kein Feld, in dem nur kühler Utilitarismus herrschen darf."

Warum sind die Ungarn in ihrer Mehrheit solche Putin-Fans? In der NZZ versucht der ungarische Historiker Krisztian Ungvary zu erklären: Da ist einmal die staatliche Propaganda für Putin. Und Ungarn hat inzwischen in vielen Punkten die russische Politik übernommen: "Für finanzielle Zuwendungen an bestimmte NGO sind besondere Meldungs- und Erkennungspflichten vorgeschrieben. Dasselbe spielte sich in der politischen Landschaft ab. Wie in Russland werden auch in Ungarn Scheinparteien gegründet, um die Chancen der echten Opposition gering zu halten. Sodann schafft Fidesz ähnliche Medienstrukturen wie Putin. Der einzige, aber gewichtige Unterschied besteht in den Mitteln der Gewaltausübung. In Ungarn begnügt man sich damit, unbequeme Redaktionen durch finanzielle Massnahmen kaltzustellen. Die Nationalisierung der Wirtschaft schaffte in beiden Ländern linientreue Oligarchen. Sowohl in Ungarn als auch in Russland wird der Westen als der Dekadenz verfallen und dem Gesinnungsterror von Woke-Kultur und LGBT-Propaganda ausgesetzt dargestellt." Ungvary deutet auch an, dass Orban von Putin erpresst werden könnte, kann das aber nicht belegen.

"Deutschlands Interesse an der Freiheit Osteuropas ist historisch bestenfalls lauwarm gewesen. Brennend war jedoch das Interesse am Geschäft", schreiben die beiden Wirtschaftswissenschaftler Veronika Grimm und Albrecht Ritschl in der FAS. Sie erzählen die lange Geschichte der deutschen Bündnisse mit Russland über die Länder Osteuropas hinweg. Aber nun hat Russland seinen Angriffskrieg gestartet: "Geopolitische Allianzen müssen neu gedacht werden. Um nicht erpressbar zu sein, muss Deutschland diversifizieren, obwohl Russland am günstigsten liefern könnte. Das ist kurzfristig extrem herausfordernd, aber mittelfristig weniger dramatisch, als es den Anschein hat. Denn der Übergang zur Klimaneutralität wird den globalen Energiehandel grundlegend verändern."

Die Parteien des durch Überhangmandate enorm angewachsenen Bundestags bemühen sich, Überhangmandate abzuschaffen, damit der Bundestag wieder eine praktikable Größe gewinnt. Bleibt aber das Problem, wie man einerseits das proportionale Wahlergebnis abbildet und andererseits Direktmandate ermöglicht. Der Vorschlag der Ampelkoalition sieht vor, dass wir jetzt drei Stimmen haben: eine Personenstimme, eine Ersatzstimme und eine Listenstimme. Mit der Ersatzstimme sollen die Wähler ihren zweitliebsten Kandidaten wählen. Das führt zu manchen Komplikationen. Justus Bender ist in der FAS überhaupt nicht einverstanden: "So kann man Überhangmandate abschaffen. Abgeschafft würde aber auch die Haltung, durch die es zu Überhangmandaten kommt: dass der Anspruch eines direkt gewählten Abgeordneten so wichtig ist, dass er zwingend bedient werden muss. Unsere Demokratie funktioniert von unten nach oben. Die Keimzelle ist nicht Berlin, sondern Wahlkreise wie Marburg-Biedenkopf und Pfaffenhofen. Nur weil uns der Bundestag zu groß ist, dürfen wir nicht einem Wahlsieger sein Mandat vorenthalten."

Jan Feddersen fragt in der taz, ob nicht der 23. Mai, der Tag an dem das zunächst nur provisorisch gemeinte Grundgesetz in Kraft trat, als Feiertag begangen werden könnte. Es sollte zunächst gar keine "Verfassung" im herkömmlichen Sinn sein: "Und doch erwies sich das nun gültige Grundgesetz als Superwerkzeug, um ein liberales, rechtsstaatliches Selbstverständnis in der Bundesrepublik durchzusetzen - in Abgrenzung zum Nationalsozialismus natürlich, aber auch zur Verfassung der DDR, die wesentlich den realsozialistisch-diktatorischen Faktor der SED-Herrschaft beförderte. Ein solcher Tag, eben der 23. Mai: Verdient der nicht, dass er ein gesetzlicher Feiertag wird?" Feddersen sammelt Stimmen von Intellektuellen zum Vorschlag, die sich teils befürwortend, teils skeptisch äußern.
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Medien

In der SZ wärmt Christoph Schwennicke, Geschäftsführer der Verwertungsgesellschaft Corint Media, unverdrossen das Märchen von den Verlagen auf, die ihre "Inhalte" kostenlos an Google und Co abgäben. Tun sie natürlich nicht, aber das weiß Schwennicke vielleicht nicht, sonst würde er die Verlage nicht mit Bob Dylan, Bruce Springsteen oder Sting vergleichen, die ihre Verwertungsrechte für Milliarden Dollar an den Vermögensverwalter Blackrock verkauft haben: "Sie alle haben begriffen, wie viel Geld sich mit den Rechten an ihren Schöpfungen verdienen lässt." Sicher, nur wollen die Zeitungen nicht wie die Musiker ihre Verwertungsrechte verkaufen, sondern Geld dafür bekommen, dass ihre hinter einer Bezahlschranke versteckten Artikel in den Suchergebnissen von Google gelistet werden. Schwennicke ficht das nicht an, er hofft auf das neue Presseleistungsschutzrecht: "Es sollte die Digitalmonopolisten zwingen, für die Presseinhalte pauschal zu bezahlen, mit denen sie bislang gratis ihr Geschäftsmodell zum eigenen Vorteil betrieben. Dieses Recht ist das schärfste Schwert, das die Presse bislang im Überlebenskampf gegen die Digitalkonzerne von der Politik an die Hand bekommen hat." Vorausgesetzt, die Verlage vereinigten sich gegen Google und Co, so Schwennicke.

Der Börne-Preis, einst eine renommierte Institution, ging an den Chefredakteur der NZZ, Eric Gujer, der das Blatt kräftig nach rechts gerückt hat. Leon de Winter spricht in seiner natürlich in der NZZ abgedruckten Laudatio viel über das angeblich grassierende Klima der Hysterie und ein wenig über Eric Gujer, dessen Artikel eine "tragisch-heroische" Qualität auszeichne. Der Börne-Preis wurde übrigens von dem Frankfurter Unternehmer Michael Gotthelf gestiftet, dem wir auch den Schirrmacher-Preis verdanken - und der ging im letzten Jahr an den Trump-Fan Peter Thiel.
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Politik

In Australien hat der Labour-Politiker Anthony Albanese gegen erbitterten Widerstand die Wahlen gewonnen, auch wenn er in einer Koalition regieren muss. Es ist auch ein Sieg über die Verharmlosung des Klimawandels durch die Vorgängerregierung von Scott Morrison, schreibt Urs Wälterlin in der taz: "Selbst der konservativste Wähler hat ein offenes Ohr für - laut Morrison - 'linke' Wissenschaftler, wenn er einmal die Flammen eines herannahenden Buschfeuerinfernos mit dem Gartenschlauch bekämpfen musste. Der Zusammenhang zwischen immer häufigeren 'Jahrhundertkatastrophen' und der globalen Erhitzung ist klar erwiesen. Die Regierung dagegen verbot ihren Wissenschaftlern zeitweise sogar, den Klimawandel auch nur zu erwähnen."
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Stichwörter: Australien, Klimawandel

Kulturpolitik

Kulturstaatsministerin Claudia Roth befindet sich auf Israel-Reise, meldet die Jüdische Allgemeine. Gestern besuchte sie die Gedenkstätte Yad Vashem: "Die Grünen-Politikerin will sich während ihres Besuchs auch mit israelischen Künstlern sowie Vertretern der deutschen politischen Stiftungen austauschen. Am Montag trifft sie den israelischen Kulturminister Hili Tropper." Ob auch die Debatte um die Documenta und die Positionierung deutscher Kulturinstitutionen zur Boykottbewegung BDS thematisiert werden, scheint noch nicht bekannt.
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Gesellschaft

Im Guardian fürchtet die ghanaisch-amerikanische Schrifstellerin Bisi Adjapon die Auswirkungen der Außerkraftsetzung von Roe v. Wade auf Frauen in der ganzen Welt, auch in Ghana, wo Abtreibung meist zwar verboten ist, aber praktiziert wird. Oft mit Zustimmung des Mannes: "Ein männlicher Verwandter gestand mir mit minimaler Reue, wie er Frauen eher zu Abtreibungen zwang, als Verhütungsmittel zuzulassen, und ihnen sogar drohte, sie zu verlassen, wenn sie sich nicht fügten. In einer Kultur, in der die Ehe für die Frauen einen Wert darstellt, sind sie oft machtlos, sich zu weigern. Aber nichts ist vergleichbar mit dem Schrecken, den ein Kind empfinden muss, wenn es schwanger wird, wie bei der Vergewaltigung meiner 13-jährigen Nichte. Ihre Mutter, eine überzeugte Christin, zwang meine Nichte, die Schule abzubrechen und das Kind zu gebären, was einen Kreislauf aus Armut, weiteren Kindern und einer katastrophalen Ehe in Gang setzte, der schließlich in ihrem tragischen Tod gipfelte. ... So etwas muss nicht passieren. Abtreibung ist in Ghana illegal, außer in Fällen von Inzest, Vergewaltigung, fötalen Anomalien oder wenn das Leben einer Frau in Gefahr ist. Doch Unwissenheit, Armut, religiöser Glaube und Stigmatisierung halten Mädchen und Frauen davon ab, eine Abtreibung vorzunehmen, selbst wenn sie legal wäre."
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