9punkt - Die Debattenrundschau
Ohne rot zu werden
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Europa
Die Berliner Zeitung publiziert ein imaginiertes Streitgespräch von Ingo Schulze, der sich mit A und B zwei Personen über einen Frieden der Ukraine mit Russland streiten lässt - ziemlich erfolglos, wie sich herausstellt.
Für die Nato kommt's drauf an. Die Türkei versucht, sie zu erpressen und macht eine Zustimmung zum Nato-Eintritt Finnlands und Schwedens von der Auslieferung von kurdischen Flüchtlingen abhängig zu machen. Das ist Erpressung, schreibt Andreas Zumach in der taz, und nicht die einzige: "Eine ähnlich miese Erpressung versucht der irreführenderweise als 'Sozialist' firmierende nationalistische Präsident Kroatiens, Zoran Milanović. Er fordert, dass das Wahlgesetz im benachbarten Bosnien und Herzegowina zugunsten der dort lebenden Kroaten geändert wird, bevor das kroatische Parlament den Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands ratifiziert. Dahinter steht das Ziel, den souveränen Staat Bosnien und Herzegowina zwischen Kroatien und Serbien aufzuteilen." Reinhard Wolff erzählt, wie Schweden auf die türkische Erpressung reagiert. Wolf Wittenfeld schildert den Fall des im schwedischen Exil lebenden Journalisten und Verlegers Ragip Zarakolu, der auf türkischen Auslieferungslisten aufgetaucht sein soll.
Recep Tayyip Erdogan liebt Krisen, zur Not fabriziert er sie selbst. Das hilft ihm bei den Wählern zu Hause, meint Can Dündar auf Zeit online anlässlich Erdogans Ablehnung einer Nato-Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens. Aber diesmal mögen auch ein paar persönliche Empfindlichkeiten dahinter stehen. "Auf der Nato-Außenministerkonferenz in Berlin erhob der türkische Außenminister Çavuşoğlu wütend die Stimme gegen seine schwedische Kollegin Linde mit den Worten: 'Wir haben genug von Ihrer feministischen Politik', wie Reuters meldete. In der Türkei, wo von siebzehn Ressorts nur das Familienministerium von einer Frau geleitet wird, ist nicht zu erwarten, dass sich eine Mentalität, die den Platz der Frau im Haus und bei der Kindererziehung preist, für feministische Politik erwärmen würde."
In Mecklenburg-Vorpommern geht nun ein Untersuchungsausschuss den Machenschaften um die Nord-Stream-Stiftung nach, die den Bau der Pipeline unter das Mäntelchen des Umweltschutzes steckte. Der eigentliche Skandal war aber im Grunde die Popularität des Projekts im Land, schreibt Matthias Wyssuwa in der FAZ: "In Mecklenburg-Vorpommern hatte man spätestens seit der Einführung des Russlandtages im Jahr der russischen Annexion der Krim bewiesen, dass man die Nähe zu Moskau pflegt, ohne rot zu werden. " Auch jetzt noch deute nichts darauf hin, dass Ministerpräsidentin Manuela Schwesig "im Norden allzu viel Unterstützung verloren hätte".
Es gibt immer noch keine überzeugende deutsche Anerkennung der Kolonialverbrechen, schreibt der Namibier Henning Melber in der taz: "Im Mai 2021 wurde von den Sonderbeauftragten Deutschlands und Namibias eine zum 'Versöhnungsabkommen' stilisierte Übereinkunft paraphiert. Darin wird gerade mal ein Siebtel der veranschlagten Baukosten von Stuttgart 21 als Entschädigung für die strukturellen Konsequenzen dieser kolonialen Zerstörung lokaler Gemeinschaften angeboten. Diese erbärmliche Geste grenzt an eine Beleidigung der Nachfahren der damaligen Opfer und ist einer mehrerer Gründe, weshalb die namibische Regierung das Dokument noch immer nicht ratifiziert hat."
Boris Johnson ist kein Clown, sondern ein Politiker der gerade dabei ist, mit fünf neuen Gesetzen die Demokratie in Britannien in erschreckendem Ausmaß einzuschränken, warnt Ferdinand Mount, Journalist und ehemaliger Berater von Margaret Thatcher, in der FAZ. So soll u.a. der Premierminister künftig die unbeschränkte Macht haben, das Parlament aufzulösen. Das Recht des Einzelnen auf Anrufung eines Gerichts gegen staatliche Entscheidungen soll eingeschränkt werden, eine Ausweispflicht für Wähler soll eingeführt werden, was vor allem die Armen, die oft keinen Ausweis haben, zum Nichtwählen ermutigen wird. Und der Nationality and Borders Act erlaubt, dass künftig männliche Asylsuchende deportiert werden können, nach Ruanda zum Beispiel, um von dort ihr Asylverfahren durchzufechten. "In derselben Flotte illiberaler Gesetze segelt auch der kolossale, 300 Seiten lange Police, Crime, Sentencing and Courts Act. Entscheidend an dem Gesetz ist die Macht, die es der Polizei verleiht, öffentliche Demonstrationen aufzulösen und zu kriminalisieren, weil sie zu laut seien, selbst wenn nur eine einzige Person daran teilnähme. Natürlich sind die Polizisten ihre eigenen Richter, wenn es um die Frage geht, was denn 'zu laut' ist. Neben einer Erweiterung des Rechts, Menschen ohne jeden erkennbaren Verdachtsgrund anzuhalten und zu durchsuchen, gibt das Gesetz einem schlecht gelaunten Polizeikommandanten freie Hand, Menschen auf der Straße an nahezu allem zu hindern, was ihm missfällt. ... Einen derartigen legislativen Anschlag hat es seit mehr als einem Jahrhundert nicht gegeben."
Ideen
Jörg Häntzschel unterhält sich in der SZ mit Bernd Scherer, dem Leiter des Berliner Hauses der Kulturen der Welt und beseelten Verfechter des Begriffs des "Anthropozäns", dem seine Haus viele Ausstellungen und Verantaltungen widmet. Der Begriff will widerspiegeln, dass der Mensch durch sein Eingreifen Erd- und Klimageschichte so maßgeblich beeinflusst und beschädigt hat, dass eine erdgeschichtliche Epoche danach zu benennen ist. Die Aufklärung hat uns in dieses Schlamassel geführt, so Scherer, der sie dennoch nicht aufgeben will. Aber man müsse einen neuen Freiheitsbegriff entwickeln: "Man muss sich fragen, ob es in den vorhandenen Freiheitsräumen nicht Alternativen gibt, die man bisher nicht mitdenkt. Locke hat Freiheit an Besitz gebunden, im 20. Jahrhundert wurde daraus der Konsum. Gibt es nicht andere Definitionen von Freiheit, die uns wieder ein Verhältnis zur Natur erlauben? Ein Beispiel: Ich habe vor vier Jahren das Auto abgeschafft, seitdem fahre ich mit Genuss Rad." Seine Theorien erklärt Scherer auch in seinem Buch "Der Angriff der Zeichen".
In der NZZ warnt Thomas Ribi vor Einschränkungen der Meinungsfreiheit - offiziell etwa durch den geplanten Digital Services Act der EU, inoffiziell etwa durch ein Totschweigen anderer Meinungen im linksliberalen Milieu. "Öffentlichkeit ist keine Kirche, die dem, was ich sage, einen gepflegten Nachhall geben soll. Sie ist eine Bar, in der alles zur Sprache gebracht werden kann, was zur Sache vorzubringen ist. Auch wenn es mir nicht passt. Auch wenn es lauter vorgebracht wird, als mir das lieb ist. Und selbst dann, wenn ich persönlich angegriffen werde. Wer sich öffentlich äußert, setzt nicht nur seine Meinung der Kritik aus, sondern bis zu einem gewissen Punkt auch sich als Person. Ich darf niemanden diskriminieren. Aber ich habe kein Recht, nicht beleidigt zu werden. Demokratie verlangt Stehvermögen. Und braucht Debatten, die nicht vorzeitig blockiert werden."
Politik

Ein Bericht bei tagesschau.de klärt über die Methodik der Recherche auf: "Wenn Fotos im Freien aufgenommen wurden, besteht die Chance, diese Aufnahmen zu verorten. Merkmale wie Gebäude, Mauern oder Bäume lassen sich in manchen Fällen mit Satellitenbildern abgleichen. Dem Reporterteam ist dies in mehreren Fällen gelungen."
Trotz des Friedensabkommen mit den Farc-Rebellen ist die Gewalt in Kolumbien ungebremst, schreibt der Sozialwissenschaftler Enzo Nussio in der NZZ am Vorabend der Präsidentschaftswahlen in Kolumbien. Dennoch hat der Friedensprozess etwas verändert, eine "Öffnung des politischen Systems": "Zum ersten Mal scheint es nun möglich, dass Kolumbien einen linken Präsidenten wählt. Während alle anderen größeren Länder Lateinamerikas bereits linke Regierungen hatten, hatte die Linke in Kolumbien nie eine Chance auf das Präsidialamt, nicht zuletzt wegen des Schreckgespensts der Farc-Rebellen. Nun schafft es Petro sogar, weit über die Linke hinaus Anhänger zu gewinnen, zum Beispiel im Lager der früheren Santos-Regierung."