9punkt - Die Debattenrundschau

So viel Desinteresse

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.05.2022. Putin ist nicht verrückt, meint Karl Schlögel in Zeit online, er hat es geschafft, sowohl linke als auch rechte Ideologien gegen die Globalisierung zu seinem Vorteil zu bündeln. In der SZ warnt Alexander Rhotert, ehemals Kabinettschef im Stab des Hohen Repräsentanten in Sarajewo, dass ein zweiter Krieg in Bosnien-Herzegowina ausbrechen könnte. Wandel durch Handel ist längst passiert, meint Sascha Lobo in Spiegel online: Die Autokratien haben den Westen gewandelt. Auch nach dem 27. Schulattentat in diesem Jahr wird Amerika seine Waffengesetze nicht ändern, ist der New Yorker überzeugt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.05.2022 finden Sie hier

Europa

Eine Maßnahme Putins in den besetzten Gebieten zeigt, dass er sehr wohl die Ukraine als Nation tilgen will, berichtet Friedrich Schmidt in der FAZ: "Er unterzeichnete einen Erlass, der es Bewohnern der Gebiete Saporischschja (in dem Melitopol liegt) und Cherson erlaubt, die russische Staatsangehörigkeit in vereinfachtem Verfahren zu erhalten... Dort sollen bald auch russische Fahrzeugnummernschilder ausgegeben werden; einstweilen werden die Bewohner der Stadt ermuntert, die ukrainische Flagge auf ihren Kennzeichen mit einem Symbol des Taurischen Gubernats zu überkleben. Die Sticker dazu verteilen prorussische Kräfte. Das von den Besatzern eingerichtete Lokalfernsehen feiert die Aktion als 'Rückkehr zum Ursprung'."

Der Ukraine-Krieg hat bisher gezeigt, dass schwere Waffen immer besser durch leichte Waffen bekämpft werden können, schreibt der Experte Phillips Payson O'Brien bei Atlantic, der die Kriegsführung auf Dauer verändert sieht: "Die Wirksamkeit defensiver Feuerkraft wird sich weiter verbessern. Panzerabwehrwaffen werden größere Reichweiten erzielen, und ihre Fähigkeit zur Ortung und Genauigkeit werden sich verbessern. Drohnen werden in der Lage sein, länger in der Luft zu bleiben und sich der Sichtung besser zu entziehen, während sie ihre Effizienz erhöhen und ihre Rechenleistung verbessern. Die Fähigkeit beider Systeme, schwere Landfahrzeuge zu zerstören und dabei ungesehen zu bleiben, wird sich verbessern. Das Massaker an russischen Fahrzeugen, das wir in der Ukraine gesehen haben, wird die Norm werden, nicht die Ausnahme."

Allerdings hat die russische Armee gegen diese Nadelstiche eine zwar primitive, aber wirksame Antwort gefunden, schreibt der Militärforscher Jack Watling im Guardian: Sie hat "auf den massiven Einsatz von Artillerie zurückgegriffen und zerstört ein Dorf nach dem anderen, das sie nach dem Rückzug der ukrainischen Einheiten einnimmt. Für die ukrainischen Streitkräfte mag die derzeitige russische Taktik nicht nur unausgereift und nihilistisch sein, sie ist auch gefährlich. Um den Vormarsch der Russen zu stoppen, müssen die ukrainischen Streitkräfte den Boden besetzen. Dadurch sind ihre Einheiten schwerem Bombardement ausgesetzt, und die Zahl der ukrainischen Opfer nimmt stetig zu."

Die Duma hat durch ein einstimmig beschlossenes Gesetz das Alter, bis zu dem Männer eingezogen werden könen, auf 65 Jahre heraufgesetzt, berichtet Inna Hartwich in der taz: "Die Neuerung ist Teil der verdeckten Mobilmachung in Russland. Da die Führung - so sagen es Beobachter*innen im Land - aus Sorge über fallende Zustimmungswerte für die 'Spezialoperation' und damit auch für den Präsidenten keine Generalmobilmachung ausruft, aber dennoch Nachschub an militärischem Personal braucht, setzt sie auf geschickte Mobilisierung mit anderen Mitteln."

In der SZ kritisiert Wolfgang Krach Olaf Scholz' misslungenen Auftritt in Davos, wo es dem Kanzler wieder nicht gelang zu erklären, warum Deutschland der Ukraine nicht mehr hilft. Irgendwann wird es zu spät sein, warnt Krach. In Mittel- und Osteuropa sei schon jetzt viel Porzellan zerschlagen: "Nach 1990 hat sich die wiedervereinigte Bundesrepublik in diesen Staaten viel Vertrauen erworben, im Baltikum, in Tschechien, der Slowakei und auch in Polen. Dieses Vertrauen ist jetzt zerbrochen. Umso unverständlicher, dass die Regierungskoalition praktisch keine Bundestagsabgeordneten nach Davos geschickt hat, um dort ihre Politik zu erklären - aus den USA waren elf Vertreter des Repräsentantenhauses und zwölf Senatoren angereist. So viel Desinteresse muss man sich leisten können."

Während dessen zündelt Putin munter in Bosnien-Herzegowina, ungehindert vom Hohen Präsidenten, dem ehemaligen Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt, kritisiert Alexander Rhotert, ehemals Kabinettschef im Stab des Hohen Repräsentanten in Sarajewo, in der SZ. Schmidt lasse die serbischen und kroatischen Führer Bosniens ungeschoren gegen die bosnische Verfassung verstoßen und nationalistische Emotionen aufschaukeln. "Der, dem alles zupass kommt, sitzt in Moskau. Putin käme die Eröffnung einer zweiten Front auf dem Balkan sehr gelegen. Mittels überschaubarer Investition könnte er maximale Rendite erzielen: Bosnien liegt eben nicht an der Peripherie der EU, sondern in deren Innenhof. Erneute Sezession und Gewalt könnte von Bosnien sehr schnell auf andere Länder des ehemaligen Jugoslawiens überspringen. Nordmazedonien, Montenegro, Kosovo, ja Serbien selbst sind alle multiethnische, fragile Staaten. Die Friedensarbeit des Westens der vergangenen 27 Jahre ist akut gefährdet. Dutzende Milliarden Euro haben Washington und Brüssel hier investiert. Bosnien ist das größte Aufbauprojekt seit dem Marshallplan nach 1945."

Im Interview mit Zeit online (leider hinter Bezahlschranke) warnt der Historiker Karl Schlögel davor, Putin als Verrückten zu betrachten. Er sei eine ganz und gar neue Erscheinung: "Seine Rede vor dem Einmarsch in die Ukraine hat genau gezeigt, wie er denkt, wie seine imperialistischen Obsessionen Hand in Hand gehen mit präziser politischer Intuition. Auf G7-Gipfeln oder bei seinen Treffen mit Donald Trump konnte man sehen, wie aufmerksam Putin das westliche Führungspersonal studiert hat. ... Putin hat es geschafft, die verschiedenen Ideologien gegen die Globalisierung zu bündeln, indem er sie mit Antiamerikanismus und Kritik an der liberalen Ordnung und den demokratischen Gesellschaften vermischt hat. Ich hätte mir bis vor ein paar Jahren nie vorstellen können, dass eine rechte Internationale ihre ideologische Basis in Moskau finden würde. Kurzum, die Russen waren sehr gut darin, alle Schwächen der internationalen Ordnung ideologisch auszunutzen. Hier in Deutschland haben wir Protestmärsche gesehen, bei denen die Menschen Parolen wie 'Putin, rette uns!' gerufen haben."

Seinen "kalten Blick" in der Ukrainekrise zu beklagen, sei nur ein "weiterer Ausdruck defizitären strategischen Denkens in Deutschland", verkündet Herfried Münkler im Interview mit der Welt. Scholz müsse Rücksicht auf seine "Sentimentalpazifisten" nehmen, versucht er dann die Haltung des Bundeskanzlers zu erklären. Aber wenn die Ukraine jetzt verliere, werde der Frieden nicht von Dauer sein. "Denn wenn Putin mit seiner großräumlichen Annexionspolitik durchkommt, wird das globale Lerneffekte haben. Der erste globale Lerneffekt wird darin bestehen, dass viele Länder sagen: Naja, was Putin kann und der hat sich die halbe Ukraine geholt, könnten wir ja jetzt auch mal versuchen, wo auch immer. Ein Zugeständnis an Putin in der besten Absicht der Friedensfreunde hätte den Effekt, dass wir in eine Ära von Eroberungskriegen hineingehen." Neulich hatte Münkler allerdings noch prophezeit: "Die Ukraine wird unter die Räder kommen, wie auch immer die Sache ausgeht" (unser Resümee).
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Überwachung

37,4 Prozent der deutschen Autoproduktion wird in China verkauft. Solche Zahlen könnten das politische Konzept "Wandel durch Handel" glatt in sein Gegenteil verkehren", warnt Sascha Lobo auf Spon angesichts der Xinjiang Police Files: "Die liberalen Demokratien des Westens könnten sich wandeln, und das nicht zum Besseren, weil sie heftig mit China handeln. Denn der Überwachungs- und Kontrollapparat, der auch in den Xinjiang Police Files in seinen Umrissen sichtbar wird, ist zwar lange bekannt. Weniger bekannt hingegen ist der Export: China hat seine Überwachungstechnologien in rund 80 Länder geliefert, auch in Europa, zuletzt etwa nach Serbien. Das heißt, wir müssen uns ohnehin mit chinesischer Überwachung beschäftigen und deshalb mit der Technologie sowie der Ideologie dahinter. Die jetzt deutlich sichtbare Massenunterdrückung der Uiguren folgt aus dem wichtigsten, selbsterklärten Ziel, das die KP mithilfe der Überwachung erreichen will : 'Aufrechterhaltung der Stabilität'. Diese Formulierung ist alles andere als irrelevant, sie stellt vielmehr sowohl die Perspektive auf die per Überwachung gesammelten Daten dar als auch die Richtung der Interpretation."

Die Europäer müssen endlich aufwachen, sonst werden sie eine digitale Kolonie, meint die Sozialwissenschaftlerin Francesca Bria, die u.a. mehrere Jahre Chief Digital and Innovation Officer von Barcelona war. Im Interview mit Zeit online (leider hinter einer Bezahlschranke) plädiert sie für eine "gesamteuropäische Strategie ... und digitale Industriepolitik". Kurz: "Wir brauchen unser eigenes Technologiepaket, um Möglichkeiten für offene Plattformen zu schaffen, für kluge Mobilität, städtische Dienste, Bürgerbeteiligung. Die neuen Technologien müssen 'made in Europe', aber anders sein." Wie man das macht, hat Bria, die einen umwerfenden Optimismus ausstrahlt, in Barcelona gezeigt: "Wir haben sogenannte Datensouveränitätsklauseln in die Verträge geschrieben, die die Stadt mit Dienstleistern abschließt. Denn bei jeder Dienstleistung, egal in welcher Branche, fallen heute Daten an. Egal ob es um Telekommunikation, Elektrofahrräder oder Abfallmanagement geht. Die Klauseln besagen, dass ein Unternehmen alle Daten, die es mit der von ihm erbrachten Dienstleistung sammelt, an die Stadt abgeben muss", die wiederum die Bürger entscheiden lässt, wie weit sie deren Daten nutzen darf.
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Religion

An der Wittenberger Kirche - einem symbolischen Bau des Luthertums - prangt ein jüngst renoviertes mittelalterliches Fresko, das in drastischer Darstellung eine "Judensau" zeigt. Man könnte das Relief von der Kirchenwand abnehmen, es im Innern der Kirche präsentieren und dort mit Texttafeln in den historischen Kontext stellen, schreibt der Theologe und Aktivist Ulrich Hentschel in der taz. Aber die Stadt weigert sich: "Für die demokratische Gesellschaft stellt sich darum die Frage, ob sie bereit ist, das sture Festhalten der Wittenberger Gemeinde an ihrem Schmährelief einfach zu akzeptieren. Warum sollte der Wittenberger Kirche die strafbewehrte verbale Beschimpfung 'Du Judensau' erlaubt sein, nur weil sie in Stein geschlagen ist und unter Denkmalschutz steht? Es darf auch für die Kirche kein Sonderrecht auf antijüdische Darstellungen geben."
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Politik

Immer wieder gibt es brutale Gewalt von schwarzen Südafrikanern gegen ebenfalls schwarze Migranten, die in Südafrika arbeiten wollen. Südafrika ist eines der gewalttätigsten Länder der Welt - fünfzig Morde geschehen täglich, viele an Migranten. Die extreme Fremdenfeindlichkeit erklärt Kwangu Liwewe  in newlinesmag.com auch aus der ehemaligen Apartheidspolitik: "Schwarze Migranten 'wurden von der weißen Regierung absichtlich ins Land geholt, um die schwarzen Südafrikaner zu schwächen und zu frustrieren, indem sie den Ausländern eine Vorzugsbehandlung gewährten, aber im gleichen Atemzug verteufelten sie das übrige Afrika, um Schwarze davon abzuhalten, ins Exil zu gehen und das Apartheidregime zu bekämpfen', so Loren Landau, Dozent am Africa Center for Migration & Society an der Witwatersrand University in Johannesburg. Diese Dissonanz führte zu einer Welle afrikanischer Migranten nach Südafrika, die jedoch mit einer zunehmenden Flut von Fremdenfeindlichkeit und Gewalt gegen Schwarze konfrontiert wurden."

Wenn Joe Biden etwas kann, dann trauern und Trauer kommunizieren, schreibt Susan B. Glasser in einem traurig sarkastischen Kommentar zum Massaker von Uvalde im New Yorker. Aber niemand glaubt daran, dass er oder irgendwer sonst den immer rasenderen Waffenwahn der USA stoppen kann - Uvalde war in diesem Jahr zwar das bisher tödlichste, aber auch schon das 27. Schulattentat in den USA. Was bedeutet "Presidential Leadership" überhaupt noch, wenn in einer solchen Lage nicht gehandelt werden kann, fragt Glasser: "Früher riefen nationale Tragödien nach Worten des Trostes, die die ganze Nation einschlossen. Es gab den Wunsch, wenn auch nicht die Realität, dass solche Schrecken schließlich zu Reformen führen könnten. Oder zumindest zu einem gemeinsamen Gefühl der Trauer und einem neuen Ziel. Das war einmal. Wir können nicht mehr gemeinsam trauern. Wir können nichts mehr gemeinsam tun."

Zur Unterdrückung der Muslime in Xinjiang konnte sich der Irak noch nicht äußern. Er war zu beschäftigt mit der Verabschiedung eines Gesetzes, das irakischen Bürgern unter Todesstrafe jeden Kontakt mit israelischen Bürgern verbietet, berichtet die SZ. "Das Gesetz gilt nicht nur für Iraker im In- und Ausland. Auch ausländische Institutionen, Firmen und Privatpersonen, die im Irak tätig sind, können für jeglichen Kontakt zu Israelis bestraft werden. Der einflussreiche schiitische Geistlichen Muktada al-Sadr rief seine Anhänger nach der Abstimmung auf, auf den Straßen des Landes zu feiern."
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Kulturpolitik

In Russland gerät auch der Kulturbetrieb immer stärker unter Druck, berichtet Herwig G. Höller im Standard. So wurde die Retrospektive von Grischa Bruskin in der Tretjakow-Galerie (mehr hier) drei Monate vor ihrem offiziellen Ende geschlossen. "In der Kunstszene war die Schließung mit dem angeblichen Ausstellungsbesuch eines hochrangigen Vertreters des Kulturministeriums in Verbindung gebracht worden. Bruskins Reflexionen über Kollektivismus und Militarismus hätten dem Bürokraten, der von Geheimdienstlern begleitet worden sein soll, nicht behagt. Eine in diesem Museum bereits aufgebaute Sammlungsausstellung, die den künstlerischen Underground der späten Sowjetunion mit aktueller russischer Kunst kontextualisiert, harrt seit Ende April ihrer Eröffnung. Die Verzögerung wird mit 'technischen Gründen' erklärt. 'Die Situation ist wie bei Bruskin - das Problem sind nicht konkrete Kunstwerke, sondern die Ausrichtung', sagte ein involvierter Künstler. Informierte Gesprächspartner hätten ihm von 'vielen Denunziationen' gegen die noch nicht eröffnete Schau berichtet."
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Medien

Diese Karikatur der SZ hat auf Twitter eine Flut von empörten Kommentaren ausgelöst - sie zeigt einen schlecht getroffenen und unwirsch dreinblickenden Wolodimir Selenski, wie er übergroß als Videobild in die Konferenz von Davos projiziert wird. Viele lesen sie als antisemitisch. Die SZ versucht sich zu erklären.


Die Süddeutsche Zeitung hat schon länger ein Problem mit ihren Karikaturen, erläutert Frederik Schindler in der Welt. Schon 2018 hatte die Zeitung versprochen, mehr Sensibilität zu entwickeln: "Damals hatte die SZ die Zusammenarbeit mit ihrem langjährigen Karikaturisten Dieter Hanitzsch beendet, nachdem sie eine antisemitische Karikatur von Hanitzsch veröffentlichte, die den Eurovision Song Contest (ESC) zu einem Event israelischer Kriegspropaganda umdeutete und die ESC-Gewinnerin Netta Barzilai mit dem Antlitz des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu darstellte, mit großen, abstehenden Ohren sowie einer Davidstern-Rakete in der Hand."

Und Stefan Laurin kommentiert bei den Ruhrbaronen: "Nein, das Weltwirtschaftsforum in Davos war keine Veranstaltung, die von Selenski beherrscht wurde. Er war nur der Repräsentant eines Landes, dessen Bevölkerung gegen einen Aggressor kämpft und mit dem Rücken an der Wand steht und um Hilfe bittet. Und genau deshalb im Gegensatz zu Scholz all unsere Unterstützung verdient hat!"

SZ Autor Ronen Steinke twittert eine Verteidigung: "Ich finde die Aufregung in diesem Fall unberechtigt. Die karikierte Figur wird nicht 'als Jude' karikiert. Das war bei Netanjahu damals (2018) anders, der ja mit Davidstern verziert war und einen jüdischen religiösen Satz in der Sprechblase hatte..."
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