9punkt - Die Debattenrundschau

In Russlands virtueller Welt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.05.2022. Die Städte des Donbass werden durch das unaufhörliche Bombardement der russischen Armee förmlich pulverisiert, berichtet der BBC-Korrespondent Quentin Sommerville. "Die Ukraine hat keine andere Wahl als zu siegen, wenn sie überleben will", schreibt Richard Herzinger in seinem Blog. Wer glaubt, dass Putin einen "gesichtswahrenden" Ausweg braucht, um den Krieg zu beenden, irrt sich in der Realität, meint Timothy Snyder. Was sagt die Missbrauchsaffäre um Walter Homolka über das Judentum in Deutschland und deutsche Politik, fragt die Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.05.2022 finden Sie hier

Europa

Die Städte des Donbass werden durch das unaufhörliche Bombardement der russischen Armee förmlich pulverisiert. Die folgende, von BBC-Korrespondent Quentin Sommerville gepostete Szene zeigt, wie russische Soldaten, einen toten Kameraden abtransportieren - in der total zerstörten Stadt Rubischne:

Rubischne ist ein Vorort der belagerten Doppelstadt Sjewjerodonezk und Lyssytschansk, erläutert Sommerville in seinem Bericht: "Wenn Sewerodonezk und Lyssytschansk fallen, wäre ganz Luhansk besetzt." Der Beschuss ist äußerst intensiv: "Russland führt hier keinen Zermürbungskrieg, sondern einen Krieg der Auslöschung. Und im Moment gewinnt Russland hier. Die kleine Stadt ist verschwunden - vom Erdboden verschluckt. Die Art und Weise, wie sie vor etwa zwei Wochen fiel, markiert eine wichtige Wende in der russischen Kriegsführung. Die langen Panzerkolonnen und die Panzer- und Infanterieangriffe der ersten Monate gibt es nicht mehr. Stattdessen werden groß angelegte Artillerieangriffe - in Rubischne bis zu 1.500 Granaten pro Tag - eingesetzt, um den Widerstand zu brechen, bevor ein Vorstoß zu Boden erfolgt."

"Die Ukraine hat keine andere Wahl als zu siegen, wenn sie überleben will", schreibt Richard Herzinger in seinem Blog. Aber im Westen macht sich inzwischen einer eher maue Stimmung breit. Sogar die Krankheitsgerüchte um Putin spielten den Beschwichtigern in die Hände, weil sie die Hoffnung erweckten, dass sich die Sache von selbst erledigt. Währenddessen wird der Krieg immer brutaler: Die "russische Großoffensive im Donbass bringt die dort kämpfenden ukrainischen Armee-Verbände in höchste Bedrängnis. Sollte es dazu kommen, dass sie eingekesselt und zerschlagen werden, würden die Invasoren bald auch wieder Charkiw, Kiew und sogar die Westukraine ins Visier nehmen. Niemand sollte so naiv sein zu glauben, dass Putin sich mit der Eroberung des Donbass begnügen und sein Ziel, die gesamte Ukraine einzunehmen und zu zerstören, jemals aufgeben würde."

Wer glaubt, dass Putin einen "gesichtswahrenden" Ausweg braucht, um den Krieg zu beenden, irrt sich in der Realität. In Putins Welt der alternativen Fakten wird gar nicht so gedacht, meint Timothy Snyder in seinem Blog: "Was passiert, wenn Putin findet, dass er in der Ukraine verliert?  Er wird sich schützen, indem er den Sieg erklärt und das Thema wechselt.In der Realität braucht er keine Ausweichmöglichkeit, denn dort liegt seine Macht gar nicht. Alles, was er tun muss, ist, die Geschichte in Russlands virtueller Welt zu ändern, wie er es schon seit Jahrzehnten tut. Dafür muss er nur die Tagesordnung in einer Sitzung neu festlegen. In der virtuellen Realität gibt es immer einen Ausweg, und aus diesem Grund kann Putin nicht 'in die Enge getrieben' werden."

==============

Der britische Schauspieler Stephen Fry hat in einem Interview mit der Times seine Regierung aufgefordert, endlich die Elgin Marbles an Griechenland zurückzugeben, berichtet Spon: "Nach Frys Ansicht kommt das British Museum auf immer neue Ausreden, um eine Rückgabe zu vermeiden. Zu der Rechtfertigung, die Statuen wären in weit schlechterem Zustand, wenn sie in Athen geblieben und nicht in London ausgestellt worden wären, merkt der Schriftsteller an: 'Wenn dein Freund ein Feuer im Haus hat und du nimmst sein Gemälde an dich, damit es nicht verbrennt, dann kann man auch nicht sagen: Ich behalte es für immer, denn ohne mich wäre es verbrannt - dann hätte man es auch verbrennen lassen können.'"
Archiv: Europa

Ideen

Im britischen Onlinemagazin Unherd protestiert der britische Journalist Tomiwa Owolade gegen alle Versuche, alle Schwarzen außerhalb Afrikas durch die Brille afroamerikanischer Erfahrungen zu sehen. So geschehen bei der globalen Übernahme der BLM-Proteste. In ihrem Gefolge werde jetzt auch in Britannien das Wort black oft mit großem B geschrieben, in der London Review of Books und im Times Literary Supplement etwa, obwohl diese Schreibweise von amerikanischen Autoren wie Lori Tharpe eingeführt wurde, um an die Versklavung der Afroamerikaner zu erinnern: "Im Gegensatz zu Tharps bin ich jedoch kein Amerikaner. Meine Vorfahren wurden nicht gegen ihren Willen in das Land gebracht, in dem ich jetzt lebe. Tatsächlich sind die meisten schwarzen Briten heute jüngste Einwanderer oder Kinder von Einwanderern aus unabhängigen afrikanischen Staaten. Die besondere historische Beziehung zwischen dem transatlantischen Sklavenhandel und den schwarzen Amerikanern lässt sich nicht ohne Weiteres auf die heutige schwarze britische Bevölkerung übertragen. So zu tun, als ob dies der Fall wäre, hieße, die Geschichte meines Volkes zu leugnen, um es mit den Worten von Tharps auszudrücken."
Archiv: Ideen

Medien

Frédéric Leclerc-Imhoff ist der achte Journalist, der im Krieg gegen die Ukraine ums Leben kam. Er war mit einem humanitären Konvoi zur Evakuierung von Zivilisten unterwegs, der von den Russen beschossen wurde. 

Archiv: Medien

Gesellschaft

Alan Posener hat in der Welt krasse Fälle von sexuellem Missbrauch im Abraham-Geiger-Kolleg aufgedeckt (unser Resümee). Verantwortlich ist demnach der am Geiger-Kolleg lehrende Mann Walter Homolkas, einer der einflussreichsten Persönlichkeiten im deutschen Reformjudentum, der an allen Enden und Ecken mit Politik und Institutionen verbandelt ist. Nach dem Bericht meldeten sich wie in solchen Fällen häufig weitere Opfer des Missbrauchs. Zeit für Selbstkritik sowohl in der jüdischen Gemeinde als auch in der deutschen Politik, findet Posener: "Warum hat die Politik Homolka hofiert und ihm dadurch erst seine Macht verschafft? Die Antwort liegt in dem instrumentellen Verhältnis der deutschen Politik zu den Juden: Die Wiederentstehung 'blühender' jüdischer Gemeinden sollte neben Sühnegesten wie dem Bau des Holocaustmahnmals demonstrieren, dass ein neues Deutschland entstanden sei. Das Jüdische Museum mit seinem verlogenen-beschönigenden - und von der neuen Direktorin zu Recht geänderten - Motto 'Zwei Jahrtausende deutsch-jüdischer Geschichte' war Teil dieses Selbsterlösungsprojekts. Die Neueinwanderung von 'Kontingentjuden' aus der ehemaligen Sowjetunion sollte das Humankapital für die deutsch-jüdische Wiedergeburt liefern."
Archiv: Gesellschaft

Geschichte

Die SZ publiziert einen bislang noch unveröffentlichten Brief Hannah Arendts 1965 an den Spiegel-Redakteur Rolf Becker zur Frage, ob die Schuld von NS-Verbrechern verjähren sollte. Sie ist dagegen, aber wenn doch Verjährung, "dann aber bitte auch einen Schlusstrich unter die Frage der Ostgrenze und Anerkennung der Oder-Neisse-Linie! Und energisches Vorgehen gegen Leute, die von einer Wiedergewinnung des Sudentenlandes faseln. Und last not least, die Anerkennung seitens der Regierung in Bonn, dass Verträge wie der Prager Vertrag vom November 1938 bezüglich des Sudentenlandes, ungültig sind. Wenn man die Sache so macht, was ja so gut wie ausgeschlossen ist, könnte man die Weltmeinung für sich gewinnen - nicht, wie ich glaube, die Meinung des jüdischen Volkes. Aber das sind natürlich reine Phantasien."
Archiv: Geschichte