9punkt - Die Debattenrundschau

Erheblich Vorschub

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.06.2022. Joe Biden erklärt in einem Artikel für die New York Times, warum die USA die Ukraine weiter unterstützen - und bis zu welcher Grenze. In der NZZ warnt der Historiker Martin Rhonheimer vor den Folgen für Europa, sollte die Ukraine den Krieg verlieren und von Russland einverleibt werden. Sollte Hamburg tatsächlich erwägen, die Staatsoper Hamburg zu schleifen, um Platz für ein Immobilienprojekt zu machen, fragt die FAZ. Der Historiker Stephan Malinowski hat für sein Hohenzollern-Buch den deutschen Sachbruchpreis bekommen. Die taz und andere Medien würdigen seinen Beitrag zur Debatte. Die Welt warnt vor Chatkontrolle.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.06.2022 finden Sie hier

Europa

Alexej Nawalny reagiert mit einem sarkastischen Twitter-Thread auf eine weitere Erhöhung seines Urteils:


Die Schikane hat System. In der FAZ berichtet Kerstin Holm, dass der Künstlerin und Musikerin Alexandra Skotschilenko, die gegen den Krieg protestierte, indem sie Preisschilder im Supermarkt überklebte, im Gefängnis medizinischen Behandlung verweigert wird.

Die jüngst beschlossenen Öl-Sanktionen der EU gegen Putin werden durchaus Wirkung haben, erklärt der Ökonom Sergej Gurijew im Gespräch mit Katharina Wagner im Wirtschaftsteil der FAZ: "Das Land gibt mehr Geld für den Krieg aus und nimmt weniger Steuern aus Öl- und -Gas-Exporten ein. Im Moment heuert Putin für viel Geld neue Soldaten in armen Regionen an und verspricht den Familien hohe Summen für den Fall, dass sie umkommen. Wenn aber das Haushaltsdefizit weiter wächst, werden Putin die Mittel ausgehen, um den Krieg in der Intensität wie jetzt weiterzuführen."

Trägt möglicherweise doch Amerika eine Mitschuld an den vielen ukrainischen Kriegstoten, allein durch seine Unterstützung der Ukraine, fragt der konservative Publizist Christopher Caldwell in der New York Times: "Selbst wenn wir  Putins Behauptung nicht akzeptieren, dass Amerikas Bewaffnung der Ukraine der Grund dafür sei, dass es überhaupt zum Krieg gekommen ist, so ist sie doch mit Sicherheit die Ursache die immer intensivere, explosivere und tödlichere Form des Krieges. Unsere Rolle dabei ist nicht passiv oder zufällig. Wir haben den Ukrainern Grund zu der Annahme gegeben, dass sie in einem Krieg der Eskalation siegen können. Tausende von Ukrainern wären wahrscheinlich nicht gestorben, wenn die Vereinigten Staaten sich zurückgehalten hätten."

Die New York Times publiziert heute aber auch einen Gastbeitrag des amerikanischen Präsidenten Joe Biden: "Die unprovozierte Aggression, die Bombardierung von Entbindungskliniken und Kulturzentren sowie die Zwangsvertreibung von Millionen von Menschen machen den Krieg in der Ukraine zu einer tiefgreifenden moralischen Frage." Biden erklärt, weitere Waffen liefern zu wollen. Einen direkten Kriegseingriff der USA schließt er aber weiter aus.

Der Historiker Martin Rhonheimer warnt in der NZZ von den Folgen für Europa, sollte die Ukraine den Krieg verlieren und von Russland einverleibt werden: "Eine auf diese Weise von Russland beherrschte Ukraine würde der Verwirklichung des imperialen Traumes Putins einen wesentlichen Schritt näherbringen. Die baltischen Staaten mit ihrem hohen russischen Bevölkerungsanteil wie auch die Moldau könnten sich dem Einfluss Russlands nur schwer entziehen. Der Druck auf Polen würde steigen, zumal dort nun ein enorm hoher ukrainischer Bevölkerungsanteil existiert. Die sozialen Spannungen, die daraus voraussichtlich entstehen und von Russland sicherlich gefördert werden, wird Putin dann als Vorwand für Einmischungen und Druckversuche nutzen können. Und das wäre nur der Anfang."

Auch der ehemalige Botschafter Hans-Dieter Heumann plädiert auf Zeit online dafür, die Ukraine nicht untergehen zu lassen. Dazu gehören Diplomatie, aber auch Waffen: "Die Strategie des Westens im Kalten Krieg, Diplomatie mit militärischer Stärke zu verbinden, hat funktioniert. Der Westen hat den Kalten Krieg gewonnen, auch wenn er das so nicht sagt. Die Sowjetunion und heute Russland wurden bis jetzt von einem Angriff auf das Gebiet der Nato abgeschreckt, aber eben nur der Nato. Die Ukraine konnte vor dem russischen Angriff am 24. Februar 2022 nicht bewahrt werden, sicher auch weil sie kein Mitglied der Nato ist."

Olaf Scholz setzt mit seinem verschlossenen Stil die kommunikative Leere Angela Merkels fort, einer Demokratie ist dieser Stil nicht angemessen, schreibt taz-Kolumnist Georg Diez: "Zur Demokratie gehören Bilder, die beglaubigen, zur Demokratie gehören Sätze, die erklären, eine Sprache, die Räume öffnet. Es reicht nicht, schnarrend und unwillig ein paar Brocken hinzuwerfen, ohne Mühe, ohne Verständnis für das Gegenüber, ohne Empathie."
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Kulturpolitik

Der Milliardär Klaus-Michael Kühne will Hamburgs Oper schleifen, um an ihrem Standort zusammen mit dem KaDeWe-Verhunzer René Benko ein schickes neues Immobilienprojekt hochzuziehen. Dafür solle eine neue Oper in der Hafencity entstehen, so Kühne im Spiegel. Die Politik reagiert reserviert, berichtet Matthias Alexander in der FAZ. Sorgen macht eher dieser Satz: "Staatsopern-Intendant Delnon, der die Kritik Kühnes am künstlerischen Rang seines Hauses nicht kommentieren möchte, äußert sich begeistert über die Perspektive, eine Oper am Strand der Elbe zu erhalten."
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Staatsoper Hamburg

Geschichte

Der Historiker Stephan Malinowski hat für sein Hohenzollern-Buch den deutschen Sachbuchpreis bekommen. Damit wird auch Malinowskis Beitrag zu dieser Debatte insgesamt gewürdigt, schreibt Andreas Fanizadeh in der taz: "Die Hohenzollern-Erben durften anfangs auf einen dürftig erscheinenden Forschungsstand setzen. Doch bereits 2014 stellte Malinowski als Sachverständiger des Landes Brandenburg, gestützt auf Akten- und Archivfunde, fest: 'Wilhelm Kronprinz von Preußen hat durch sein in großer Stetigkeit erfolgtes Handeln die Bedingungen für die Errichtung und Festigung des nationalsozialistischen Regimes verbessert. Sein Gesamtverhalten hat der Errichtung und Festigung des nationalsozialistischen Regimes erheblich Vorschub geleistet.' Als er die Forschungsergebnisse 2015 in der Zeit publizierte, den Streit öffentlich machte, gingen die Hohenzollern juristisch gegen ihn vor." Nebenbei sei darauf hingewiesen, dass Malinowski auch sehr früh schon - nämlich 2007 - intensiv kritisch mit postkolonialistischen Theorien auseinandersetzte. Weitere Gratulationen finden sich in der SZ und dem Tagesspiegel.

In der FR erinnert Arno Widmann an die Festnahme Andreas Baaders heute vor fünfzig Jahren.
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Gesellschaft

Antje Hildebrandt erzählt in einem detailreichen Artikel bei t-online.de von einer Aktion der deutschen #MeToo-Bewegung, die den Beschuldigten, den Comedian Luke Mockridge, ohne Beweise in die Position des Schuldigen bugsiert hätte. Treibende Kraft war die Social-Media-Influencerin Jorinde Wiese, die am Ende sogar von der deutschen #MeToo-Bewegung selbst ausgeschlossen wurde, aber auch der Spiegel und andere Medien gingen auf die Geschichte ein: Wiese "sei vielen zu radikal gewesen. Trotzdem passierte danach etwas, wovor Frauen wie Catherine Deneuve oder Ingrid Caven schon 2018 gewarnt haben, als die Bewegung aus den USA nach Deutschland übergeschwappt ist: Der Kampf gegen Machtmissbrauch hatte sich in sein Gegenteil verkehrt. 'Der Drive der Bewegung ging in Richtung Rufmord', bilanziert die Berliner Autorin Barbara Sichtermann, eine Feministin der ersten Generation."

"Geschlechterstereotype in dieser Kriegssituation jetzt massiv zu kritisieren, wäre zynisch", sagt der Männerforscher Björn Süfke im Gespräch mit Simone Schmollack in der taz, aber auch: "Dass ich das mal sagen würde, hätte ich nie gedacht", denn "Was sollen die Männer in der Ukraine auch anderes tun? Sie kämpfen um ihr Land, um ihr Leben, sie sind von Auslöschung bedroht. In dieser Situation spielen Genderaspekte verständlicherweise eine untergeordnete Rolle."
Archiv: Gesellschaft

Überwachung

"Digitale Bürgerrechte sind keine Bürgerrechte zweiter Klasse - auch nicht das digitale Briefgeheimnis. Der Staat dampft schließlich auch keine Briefe auf oder hört massenhaft Telefongespräche ab", so Ann Cathrin Riedel und Teresa Widlok vom Verein für liberale Netzpolitik, die in der Welt vor der Chatkontrolle warnen, die die EU plant. "Sollte der Entwurf verabschiedet werden, dürfte die EU-Kommission Kommunikation im Internet umfassend kontrollieren: Sämtliche Nachrichten und andere Inhalte könnten überwacht werden. Dadurch möchte die EU-Kommission Missbrauchsdarstellungen von Kindern und Jugendlichen finden. Mit der Intention, Kindesmissbrauch zu verhindern, schafft die EU-Kommission damit aber den krassesten Fall anlassloser Massenüberwachung, den wir seit der NSA-Affäre erleben. Nur sind es dieses Mal nicht fremde Geheimdienste, die uns bespitzeln, es ist die Europäische Union. Und selbst Kinderschutzorganisationen bezeichnen den Vorschlag zur Chatkontrolle wegen der flächendeckenden Scans privater Kommunikation als unverhältnismäßig."
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