9punkt - Die Debattenrundschau

So oft in diesem Park der Kuckuck 'kuckuck' ruft

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.06.2022. "Warum hat Europa den Krieg in der Ukraine zugelassen", fragt Viktor Jerofejew in der Zeit, und die Blindheit Europas halte an. Eliot A. Cohen erinnert in Atlantic an die Tugend der Beharrlichkeit im Krieg. Mit Russland wird man keinen "Interessenausgleich" erzielen, meint Richard Herzinger im Perlentaucher. Das Tableau verschiebt sich immer mehr "zugunsten der Illiberalen", fürchten die Historiker Sönke Neitzel und Bastian Matteo Scianna in der NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.06.2022 finden Sie hier

Europa

"Warum hat Europa den Krieg in der Ukraine zugelassen", fragt Viktor Jerofejew in der Zeit: "Europa ist dermaßen blind, dass es das Wichtigste nicht begreift: In Russland sind die 'Silowiki', also die Vertreter der Geheimdienste und des Militärs, stärker als die Intelligenzija, und das Volk hat nie gewusst, was Demokratie ist, mit Ausnahme einiger Monate zwischen Februar und November 1917. Dieses Frühjahr lebe ich bei Berlin im wunderbaren Schloss Wiepersdorf. Journalisten schauen bei mir vorbei: Sagen Sie, wann endet der Krieg? So oft in diesem Park der Kuckuck 'kuckuck' ruft, so viele Wochen bleiben bis zum Ende des Krieges. Eine genauere Antwort, verstehen Sie bitte, gibt es nicht."

Ein Reporterteam der Zeit bringt die Verstimmung zwischen Kiew und Berlin auf den Punkt: "Viele Ukrainer glaubten, sagt etwa André Härtel von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, einer der besten Kenner der ukrainischen Innenpolitik, Deutschland befinde sich wegen seiner 'Abhängigkeit von russischer Energie in einer faktischen Kollaboration mit Moskau: Wir sind nicht in der Lage, uns vom Gas zu entkoppeln, wir liefern nicht systematisch schwere Waffen wie andere, und kommunikativ-symbolisch setzen wir auf Zurückhaltung.' In Kiew sei deshalb die Vermutung weit verbreitet, so Härtel, viele in der deutschen politischen und wirtschaftlichen Elite wollten eine möglichst 'schnelle Rückkehr zum business as usual mit Russland'. Es ist eine Vermutung, die auch in Deutschland viele haben."

Richard Herzinger erinnert im Perlentaucher an das schmähliche Versagen des Westens in Afghanistan und den neuen Terror gegen Frauen, mit dem sich die Taliban bedanken. Auch in Russland bringt Beschwichtigung nichts: "In Wahrheit will das Putin-Regime keinerlei 'Interessensausgleich'. Durchsetzen will es nichts weniger als eine 'Weltordnung', in der keine Werte, Normen und Regeln mehr gelten, die der mörderischen Willkür seines kriminellen Unterdrückungssystems Grenzen setzen. Es gleicht darin durchaus islamistischen Machtgebilden wie den Taliban."

Was der Politologe Eliot A. Cohen in Atlantic schreibt, klingt fast schon wie die Motivierungsrede eines Trainers: "Eine der Hauptlehren der Militärgeschichte ist, wie sehr Beharrlichkeit zählt. Sie ist oft genauso wichtig wie Strategie und Geschick, Bewaffnung und Technologie. Viele Intellektuelle und einige Politiker missverstehen dies, indem sie elegante Ideen und die Feinheiten und Spitzfindigkeiten diplomatischer Manöver überbewerten. Aber als Winston Churchill 1940 sagte, Großbritannien sei bereit, 'notfalls jahrelang zu kämpfen, notfalls allein', meinte er das."

Und so wird im russischen Staatsfernsehen über den Krieg geredet:



Es kursieren immer wieder Meldungen, es seien Ukrainer nach Russland verschleppt worden.Die Wahrheit ist komplizierter, berichten Andrea Jeska und Michael Thumann in der Zeit. Sie sind nach Russland gefahren und treffen sowohl Menschen, die keine andere Fluchtrichtung hatten als Russland, als auch solche, die tatsächlich deportiert wurden. Und "es gibt ganze Netzwerke, die Ukrainer, die über die russischen Westgrenzen kommen, betreuen und sie dabei unterstützen, das Land Richtung Lettland oder Estland wieder zu verlassen. Es gibt Telegram-Gruppen, in denen sich Menschen austauschen. Es gibt Flüchtlingsunterkünfte, die Russen für Ukrainer zur Verfügung stellen. Es gibt also Hilfe in dem Land, das die Ukraine überfallen hat. Und zwar von den Bürgern."

Viel Hoffnung für die Ukraine haben die Historiker Sönke Neitzel und Bastian Matteo Scianna in der NZZ nicht. Gebietsabtretungen werden die Ukrainer hinnehmen müssen, das "Tableau" verschiebe sich immer mehr "zugunsten der Illiberalen", befürchten sie. Die Ukraine "hängt am Tropf der USA, und ein Blick in die Geschichte zeigt die Gefahr, dass den Ukrainern das gleiche Schicksal wie zum Beispiel den Kurden widerfahren könnte: Ein Partner wurde wiederholt zynisch fallengelassen. Auch die Bilder des Afghanistan-Abzuges sollten uns noch in Erinnerung sein. Der Wille der Vereinigten Staaten, sich in der Ukraine zu engagieren, wird endlich sein. Man sollte nicht vergessen, dass der strategische Fokus Washingtons nach wie vor auf China liegt und es schon deshalb keinen direkten Krieg mit Russland riskieren wird. Dies umso weniger, wenn deutlich wird, wie wenig die Europäer - Deutschland an der Spitze - für ihre eigene Sicherheit zu leisten bereit sind."

Die Publizistin und Ex-DDR-Leistungssportlerin Ines Geipel hat ein Buch über die Menschenexperimente der sozialistischen Weltraumforschung geschrieben. Im Welt-Interview mit Andrea Seibel spricht sie über die sowjetische Sehnsucht nach der Unterwerfung des Kosmos, mangelndes Wissen des Westens über den Osten und die Gewalt des Putinismus, die vor allem durch Widerrede angestachelt werde: "Wir wissen nicht, was mit Nawalny wird. Fakt ist, dass sein Widerstand ein wesentlicher Katalysator für den Hass und die Entgrenzung des Putin-Systems heute war. Das ist ohne Nawalny nicht zu denken. Nicht ohne Politkowskaja, Nemzow, Memorial. Sie waren zentrale Auslöser. Sie mussten weg. Die Ukraine und der innerrussische Widerstand gehören zusammen. Vor allem aber bleiben sie, trotz der vielen Opfer."

Trotz der Sanktionen ist Putin auch Profiteur des Krieges, den er angezettelt hat, berichtet Huileng Tan im Business Insider: "Nach Prognosen von Bloomberg könnten sich die russischen Öl- und Gasverkäufe in diesem Jahr auf 285 Milliarden US-Dollar belaufen. Das sind 20 Prozent mehr als die Einnahmen des Landes aus Öl und Gas in Höhe von 235,6 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021."

Außerdem: Frauke Steffens geht in der FAZ den Verbindungen zwischen der amerikanischen Trump-Rechten und noch extremeren Kräften zum Putinismus nach.

==========

Michael Wolffsohn hat gerade das Buch "Eine andere jüdische Weltgeschichte" veröffentlicht. Im großen Interview mit Susanne Lenz (Berliner Zeitung) erklärt er, weshalb er Ruangrupa für nicht ernst zunehmende "Heuchler" hält (ausgerechnet indonesische Muslime ereifern sich über Palästina, schweigen aber "von dem einheimischen Problem Papua-Neuguinea, das annektiert wurde, unterdrückt wird und von Indonesien wegkommen möchte"), warum er die BDS-Resolution des Bundestags unterstützt oder das Ende des jüdischen Volkes befürchtet. Außerdem erläutert er, weshalb er glaubt, dass illiberale Demokratien wie Ungarn Juden besser schützen: "Ungarn ist ein autoritärer Staat, der mehr auf Sicherheit achtet. Dazu kommt die unterschiedliche Migrationspolitik. Im Zuge des zu begrüßenden ethisch-humanen Impetus der bundesdeutschen Migrationspolitik vor allem seit 2015, ist der militante Antijudaismus mitimportiert worden. Das ist eine unbestreitbare Tatsache, die nicht gern genannt wird. Aber wenn man sie bekämpfen möchte, kann man diese Diagnose nicht missachten."
Archiv: Europa

Medien

Religiös betreibt Tayyip Erdogan eine Talibanisierung, doch selbst seine konservative Wählerschaft ist nicht mehr so treu wie einst, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne, medienpolitisch läuft es dagegen auf eine Putinisierung hinaus, etwa mit einem Mediengesetz , das Zitate von Quellen unter dem Schutz der Anonymität verfolgt: "Das Gesetz erhöht nun die Haftstrafe für alle, die Quellen nutzen, die ihre Namen nicht genannt haben wollen, um die Hälfte. Links zu Meldungen, die der Regierung nicht genehm sind, können künftig ohne Gerichtsbeschluss innerhalb von vier Stunden gelöscht werden. Hält sich jemand nicht an die nirgendwo schriftlich festgehaltenen 'moralischen Pressegrundsätze', wird ihm der Presseausweis entzogen."
Archiv: Medien
Stichwörter: Türkei, Mumay, Bülent

Politik

Gegen die Ausbreitung chinesischer Konfuzius-Institute, dem Äquivalent etwa zum deutschen Goethe-Institut, war erstmal nichts einzuwenden, meint Florian Coulmas in der NZZ. Allerdings entstand weltweit und in "atemberaubendem" Tempo ein gigantisches Netzwerk aus, immer aggressiver verbreiteten die Institute chinesische Propaganda. Universitäten sollten sich von den Instituten trennen, fordert er: "Von China entsandte Mitarbeiter der KI unterstehen dem chinesischen Bildungsministerium und sind weisungsgebunden; die Universität hat darauf keinen Einfluss. Das wiederum korrumpiert ihr höchstes Gut, die Freiheit von Wissenschaft und Forschung. Solange strukturell die Möglichkeit der Einmischung von außen in Angelegenheiten der Universität besteht, ist dieser Widerspruch unauflösbar. Hier liegt auch der Unterschied zu Alliance Française oder British Council sowie ähnlichen Einrichtungen. Natürlich dienen auch diese Kulturinstitute der Öffentlichkeitsarbeit und der Imagepflege ihrer Länder. Aber sie sind nicht in Universitäten eingebettet und gehen ihren kulturpolitischen Aktivitäten unabhängig nach, auch wenn es gelegentlich Berührungspunkte gibt."
Archiv: Politik
Stichwörter: China, Konfuzius-Institute