9punkt - Die Debattenrundschau

Wir kaufen eure Jachten, und ihr kauft unser Gas

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.06.2022. Die New York Times berichtet über die Arbeit von "KleptoCapture", einer Ermittlungseinheit, die sich mit dem "oligarchisch-industriellen Komplex" befasst: Tausende verdienen auch in Deutschland ihr Geld damit, russischen Oligarchen zuzuarbeiten. Der russische Faschismus kommt aus dem Stalin-Kult, schreibt der ukrainische Autor Dmytro Bushuyev in der Berliner Zeitung. Die FAZ fragt, warum SPD-Politiker das Wort "gewinnen" nicht mehr über die Lippen bringen. In der SZ setzt sich der Historiker Kai Struve mit der Wahrnehmung Stepan Banderas im Westen und in der Ukraine auseinander.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.06.2022 finden Sie hier

Europa

Das Problem ist nicht "nur Putin", laut Umfragen befürworten 71 Prozent der Russen den Krieg gegen die Ukraine, schreibt Dmytro Bushuyev, bis 2020 Redenschreiber für den Premierminister der Ukraine, in einem Essay in der Berliner Zeitung. "Wie kommt es, dass sich Russland in einen faschistischen Staat verwandeln konnte, so wie Deutschland in den 1930er-Jahren?", fragt er: "Niemand hat das moderne Russland daran erinnert, dass der deutsche Faschismus und der sowjetische Kommunismus eigentlich zwei Seiten derselben totalitären Medaille sind. Der Kult um Stalin ist so populär wie nie zuvor. Er wurde und wird heute als 'harter', strenger, aber gerechter Führer dargestellt, dessen 'weise Führung' die UdSSR zum Sieg führte. Dieser ideologische Hintergrund wurde durch die politischen Prozesse in Russland noch verstärkt: der Aufstieg der Autokratie, die strenge Zensur und die Ablehnung der Demokratie, die als 'westliches Gift' betrachtet wird. In den letzten zehn Jahren hat sich diese außergewöhnliche Darstellung Russlands als Schutzschild, das Europa (und die Welt) vor den Nazis bewahrt hat, durchgesetzt." Er fordert die "maximale Bandbreite an Sanktionen"  und eine "vollständige Entnazifizierung" Russlands.

Die belarussische Historikerin Yuliya von Saal erzählt in der FAZ, wie in Russland und Belarus seit Stalin-Zeiten Kinder für eine militarisierte Ideologie eingespannt werden: "Historiker behaupten, die Geschichte wiederhole sich nicht. Doch jedes Mal, wenn ich nach Belarus oder Russland reiste, hatte ich das Gefühl, die gleiche Schallplatte der 'patriotischen Erziehung' zu hören, eingebettet in die Erinnerungskultur des glorreichen Widerstandskrieges. Doch irgendwann wurde mir klar, dass die Schallplatte eine moderne geworden ist, dass das Lied mit neuer Intensität und aktualisiertem Text gespielt wird."

"Wir kaufen eure Jachten, und ihr kauft unser Gas" - so hat Evgeniy Kochman mal sein Geschäftsmodell beschrieben. Kochman betreibt die in Monaco basierte Firma Imperial Yachts, die mit Hunderten Angestellten Jachten für Oligarchen bauen lässt, betreibt, mit Personal versorgt und zur Not auch wieder verkauft. Dieser "oligarchisch-industrielle Komplex" ist ein Milliarden-Business und versorgt Tausende von Angestellten in Europa mit Einkommen, berichtet eine Reportergruppe in einer großen Recherche der New York Times. Die amerikanische Ermittlungseinheit, die sich mit solchen Firmen beschäftigt heißt "KleptoCapture". Das Selbstverständnis der Einheit lautet laut Times: "Leute anzuvisieren, die ihren Lebensunterhalt mit Geldwäsche verdienen, ist eine der wichtigsten Prioritäten." Etwa 2014 erhielt Imperial Yachts "den Zuschlag für sein bisher größtes Projekt, eine 349-Fuß-Superjacht, die von der deutschen Werft Lürssen gebaut werden sollte: die Amadea. Ihr russischer Eigner scheute keine Kosten: handgemalte Wolken im Michelangelo-Stil über dem Esstisch, ein Hummer-Aquarium, eine Feuerstelle und am Bug eine fünf Tonnen schwere Art-Déco-Albatros-Galionsfigur aus Edelstahl. Nick Flashman, ein ehemaliger Yachtkapitän, der zu Imperial wechselte, leitete das Projekt. Die Inneneinrichtung wurde von der französischen Firma Zuretti entworfen." Danach baute die Firma eine noch größere Jacht, die oft Putin zugeordnet wird. Die Sprecher der Firma beteuern, dass man nicht mit Personen zusammenarbeitet, die unter Sanktionen stehen.

"In Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine sind die politischen Eliten keinesfalls stimmlose, unschuldige Opfer, sondern vielmehr willfährige Handlanger und ein nicht unwesentlicher Teil der außen- und sicherheitspolitischen Elite darüber hinaus auch aktiver Nutznießer aktueller Entwicklungen", schreibt Alexander Dubowy, der für die Berliner Zeitung einen Beitrag des Politik-Analysten Kirill Rogov resümiert: "Die in das Machtsystem Putin inkorporierten und einen wesentlichen Teil der wirtschaftsliberalen, prowestlichen Eliten bildenden ehemaligen oligarchischen Gruppen (wie beispielsweise Alfa Group, Roman Abramowitsch, Oleg Deripaska) gehen zur sogenannten Strategie der zwei Taschen über. Die in Russland verdienten Mittel werden zur Absicherung in den Westen transferiert, so Rogov. Dieser pragmatisch-zynische Zugang minimiere einerseits Konflikte um die Ausrichtung der Innenpolitik mit neuen machtbewussten antiwestlichen und isolationistischen Elitengruppen (vor allem der heterogenen Gruppe der sogenannten Silowiki - Personen mit Geheimdienst-, Polizei- oder Militärhintergrund) und mache andererseits institutionelle und rechtsstaatliche Reformen in Russland zum Schutz und Garantie der Eigentumsrechte weniger dringlich und letztlich obsolet."

Der polnische Premieriminister Mateusz Morawiecki antwortet in der FAZ auf die Forderung des greisen Henry Kissinger, die Ukraine solle Russland einen Teil ihres Territoriums abtreten und Europa möge eine Verständigung mit Russland suchen, und erspart ihm eine sarkastische Pointe nicht: "In den hundert Tagen des Krieges hat die Ukraine der Welt zwei Dinge bewiesen. Erstens: dass die alte Macht Russlands heute viel weniger imposant ist, als viele glaubten. Zweitens: dass auch ein kleineres Volk einem größeren Widerstand leisten kann, wenn es einen unbeugsamen Charakter hat. Es ist schon erstaunlich, dass man Kissinger daran erinnern muss, der doch den Vietnamkrieg aus nächster Nähe beobachtet hat."

Eine Rekord-Mehrheit von 78 Prozent der Ukrainer spricht sich laut Umfrage der ukrainischen Stiftung "Demokratische Initiativen" gegen jegliche Zugeständnisse an Russland aus, berichtet die ukrainische Journalistin Valeriia Semeniuk im Tagesspiegel (hinter Paywall). Am deutlichsten ist der Stimmungsumschwung in den bisher als prorussisch geltenden Gebieten. Zudem verärgern westliche Forderungen nach einem Kompromiss mit Putin die Ukrainer: "Im Jahr 2014 riet der Westen der Ukraine nachdrücklich, bei der Annexion der Krim ein Auge zuzudrücken und die aus ukrainischer Sicht ungünstigen Minsker Abkommen zum Donbass zu unterzeichnen. Heute sind sehr viele Ukrainer überzeugt, dass es genau diese Nachgiebigkeit war, die nun zu einem großen Krieg führte. Das Präsidialamt in Kiew wiederholt wie ein Mantra: 'keine Beschwichtigung des Aggressors, keine Wiederholung von Minsk'."

Jürgen Kaube spießt in der FAZ ein Dlf-Interview mit Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht, SPD, auf, in dem diese  wie auch ihr Chef das Wort "gewinnen" partout nicht über die Lippen brachte: "Es wirkte wie ein Spiel, bei dem verliert, wer 'gewinnen' sagt. Es geht hier nicht um Worte, meint die Ministerin. Wird deshalb so hartnäckig verweigert, die naheliegendsten zu verwenden? Als besitze das Wort eine magische Qualität, die geeignet wäre, Ungeheuerliches auszulösen. Weswegen Olaf Scholz (SPD) zur Abwehr dieser Gefahr das Wort 'bestehen' eingeführt hat. Denn 'die Ukraine soll den Krieg gewinnen' ist zum 'You-Know-What' der regierenden Sozialdemokraten geworden.

Türkische Oppositionelle, die im schwedischen Exil leben, fürchten jetzt die Auslieferung, berichtet taz-Korrepondent Reinhard Wolff. Hintergrund sind die Forderungen Tayyip Erdogans nach Schwedens Antrag auf Nato-Eintritt, uns Schweden hat bereits in der Vergangenheit Auslieferungsersuchen von Autokratien stattgeben, so Wolff: "Mittlerweile fordern manche Stimmen, Stockholm solle den Beitrittsantrag zurückziehen. In der ansonsten Nato-freundlichen konservativen Stockholmer Tageszeitung Svenska Dagbladet begründet ein Leitartikel dies mit der unklaren Ausrichtung der Militärallianz. Was wolle sie sein?: 'Eine verteidigungsstrategische Abmachung rein technischen Charakters mit einem willkürlich zusammengewürfeltem Haufen von Mitgliedern oder eine Vereinigung, die das Ziel hat, liberale Werte zu schützen.' Solange es innerhalb der Nato fundamentale Uneinigkeit über solche prinzipiellen Fragen gebe, bestehe ansonsten ständig das Risiko neuer Erpressungsversuche."
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Internet

Mary Beard, die große Historikerin der Alten Welt, erzählt Gina Thomas in der FAZ, warum sie Twitter so gern hat: "Es ist eine großartige Informationsquelle. Auf Twitter erfahre ich, welche Entdeckungen bei römischen Ausgrabungen in Italien gemacht worden sind. Außerdem kommt man mit Menschen ins Gespräch, denen man sonst nicht begegnen würde. Zu den schönsten Dingen gehört es, wenn Menschen tweeten, sie seien noch drei Stunden in Pompeji und fragten sich, was man unternehmen sollte. Dann tweetet man ihnen einen Vorschlag und erhält im Gegenzug ein Foto."
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Stichwörter: Beard, Mary, Twitter

Ideen

"Der Zorn der angeblich linken und emanzipatorisch gesinnten Empfindlichen richtet sich auffällig oft gerade gegen linke, emanzipatorische Kräfte", schreibt der Philosoph Robert Pfaller in seinem neuen Buch "Zwei Enthüllungen über die Scham". Im Welt-Gespräch mit Marie-Luise Goldmann erklärt er: "Die Aufforderung, dass sich jemand schämen soll, wird in der Regel von jungen Aktivisten gegen ältere Linke gerichtet. Sie beanspruchen, im Namen einer angeblich besonders empfindlichen Minderheit zu sprechen und versuchen mit der Schambehauptung ihre älteren Mitstreiter mundtot zu machen. Hier geht es um Karriereinteressen - nicht selten auf Kosten der Sache, für die man zu kämpfen vorgibt. Denn oft werden damit besser qualifizierte Leute aus dem Weg geräumt. Bezeichnend ist, dass man jetzt die Wahrheit, die man zu besitzen meint, nicht mehr für andere zugänglich macht. Man behauptet nur, sich zu schämen oder verletzt zu sein, und das ist es dann schon."
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Stichwörter: Pfaller, Robert, Scham

Geschichte

Hierzulande fehlt noch immer das "Verständnis für die Erfahrungen mit sowjetischen Massenverbrechen in Osteuropa und vor allem in der Ukraine", schreibt der Historiker Kai Struve in der SZ: Vor allem in der Wahrnehmung Stepan Banderas und seiner Erinnerung in der Ukraine herrschen in Deutschland zwei Missverständnisse vor, meint er: "Zum einen gibt es eine falsche Deutung des Verhältnisses der Bandera-OUN zu den Deutschen, die in mancher Hinsicht den Verfälschungen der in Russland bis heute fortwirkenden sowjetischen Propaganda ähnelt. Eine gewisse ideologische Nähe zwischen der Bandera-OUN und dem NS-Staat übersetzte sich nicht in eine Unterstützung des deutschen Okkupationsregimes. (…) Zum anderen ist in der deutschen Öffentlichkeit die Bandera-Verehrung in der Ukraine meist als Beleg für die fehlende Auseinandersetzung mit der Kollaboration und für nationalistische, rechtsextreme Tendenzen gesehen worden. Auch eine solche Deutung führt zu falschen Schlüssen, wenn nicht gleichzeitig berücksichtigt wird, dass die Erinnerungsgeschichte an die großen Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts in Osteuropa und insbesondere in der Ukraine komplizierter ist als die deutsche oder die westeuropäische. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der tatsächlichen Verbrechensgeschichte der OUN ist in der Ukraine lange durch die sowjetische und später russische Instrumentalisierung blockiert worden." In der FR fordert auch Harry Nutt, ukrainische Geschichte nachzuholen, am besten mit Büchern von Karl Schlögel und Timothy Snyder.
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Gesellschaft

Entsetzt kommt Sandra Danicke (FR) aus der Ausstellung "Three Doors" im Frankfurter Kunstverein, in der das Recherchekollektiv Forensic Architecture seine Untersuchungsergebnisse zum Terroranschlag von Hanau im Februar 2020 (Unsere Resümees) präsentiert. Von Ermittlungsfehlern, Vertuschung und dem unwürdigen behördlichen Umgang mit Hinterbliebenen erfährt sie hier: "Dass auch im Umgang mit den Opferfamilien kaum etwas richtig lief, erzählt bei der Pressekonferenz stellvertretend Niculescu Paun, der Vater von Vili-Viorel Paun, der bei dem Anschlag in seinem Auto erschossen wurde, weil er den Täter verfolgt hatte. Und - das ist besonders tragisch - weil seine telefonischen Notrufe mehrmals ins Leere liefen. Den Eltern des mutigen jungen Mannes wurde tagelang der Verbleib des Sohnes verschwiegen. Was genau geschehen ist, wie ihr Sohn zu Tode kam, fanden sie nur durch eigene Recherchen heraus. Besonders fassungslos macht ein Detail. Nachdem man Vili obduziert hatte, stellte man die Todesurkunde auf den Namen und mit dem Geburtsdatum des Vaters aus. Dass der Tote - der übrigens seine Papiere bei sich trug - nicht Mitte vierzig, sondern Anfang zwanzig war, hatte man bei der Autopsie offenbar nicht bemerkt." In der Berliner Zeitung schreibt Antonia Groß zu den Ermittlungsergebnissen.

Die Schießerei an der Grundschule in Texas vom 24. Mai ist die 212. Massenschießerei in diesem Jahr und die 27. Schießerei an einer Schule, schreibt Bari Weiss in der Welt. Verantwortlich sei dafür aber nicht allein die Waffensucht, sondern die Abstumpfung der Amerikaner, meint sie: "Die soziale Fäulnis, die Amerika ergriffen hat, der Nihilismus und der Hass gegeneinander, ist ein Teil der Ursache dafür. Die Auflösung unserer sozialen Bindungen - inklusive der Rechenschaftspflicht und der Verantwortung, die eine echte Gemeinschaft erfordert - hat es dem Wahnsinn ermöglicht, unbemerkt zu gären. Lockdowns haben die Isolation, die Ziellosigkeit, die Sinnlosigkeit, die uns ohnehin schon überkam, noch beschleunigt. Wenn wir diese Schießerei weiterhin als Teil eines isolierten Problems oder einer bestimmten Art von Gewalt betrachten, dann verfehlen wir den Punkt."
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