9punkt - Die Debattenrundschau

Moskaus künstliche Vorwände

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.06.2022. Putin hat schon gewonnen, wenn er die Ukraine dauerhaft in die Handlungsunfähigkeit zwingt, dazu muss er Kiew gar nicht erobern, schreibt die Politologin Tatiana Stanovaya in Spiegel online. Daniel Cohn-Bendit verabschiedet in der NZZ den deutschen Pazifismus. Die SZ beobachtet Björn Höcke auf Höhenflug in Thüringen. Im Observer blickt Nick Cohen mit Grausen auf den kommenden König Charles III. Die taz versucht sich nach einem blutigen Attentat auf einen Pfingstgottesdienst ein Bild von der Lage in Nigeria zu machen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.06.2022 finden Sie hier

Europa

Der Krieg gegen die Ukraine könnte "einer von Putins endlosen Kriegen werden, die in Vergessenheit geraten", schreibt der russische Journalist Mikhail Zygar, einst Chefredakteur des unabhängigen TV-Senders Doschd, in Spiegel online. Alle gewöhnen sich an den Krieg. Für die Russen sind die Sanktionen gar nicht so schlimm, und viele im Westen hoffen, dass die Ukraine bald höflich genug ist zu verlieren. Nur für die Ukrainer, "ist der Krieg nicht zu Ende, wenn er in Russland oder in Europa in Vergessenheit gerät. Sie haben eine ganz andere Auffassung von logischen Überlegungen wie 'wir müssen Putin das Gesicht wahren lassen'. Sie glauben, dass Putin nicht aufhören wird, dass er sich nicht mit der Besetzung der bereits eroberten Gebiete zufriedengeben wird, und dass er der Ukraine nicht erlauben wird, aufzuatmen und mit dem Wiederaufbau zu beginnen. Dass er ihr einen Schlag nach dem anderen versetzen wird."

Putin hat schon gewonnern, wenn er die Ukraine dauerhaft in die Handlungsunfähigkeit zwingt, dazu muss er Kiew gar nicht erobern, schreibt die Politologin Tatiana Stanovaya in einem Artikel für Foreign Affairs, den Spiegel online übersetzt hat. Politiker des Westens müssen sich auf Putins Sichtweise einlassen um zu verstehen, was er will. Bisher verstehe der Westen ihn nämlich falsch: "In seinem Bemühen, Russlands Krieg zu stoppen, konzentriert er sich auf Moskaus künstliche Vorwände für seinen Einmarsch in die Ukraine. Er übersieht Putins Besessenheit mit der sogenannten westlichen Bedrohung - sowie seine Bereitschaft, den Westen durch weitere Eskalation zu einem Dialog unter russischen Bedingungen zu zwingen. Die Ukraine ist nur eine Geisel." Für Stanovaya gibt es nur zwei mögliche Ausgänge des Krieges: Entweder der Westen unterwirft sich Putins Vorstellungen, oder Putins Regime bricht zusammen.

Das polnische Magazin Wprost schildert die europäische Gesprächssituation so:


Daniel Cohn-Bendit wird in dieser Woche auch in Berlin auf der Konferenz "Hijacking Memory - Der Holocaust und die Neue Rechte" des Hauses der Kulturen der Welt sprechen und seinen Film "Wir sind alle deutsche Juden" vorstellen. In der NZZ spricht er mit Andreas Scheiner über Pazifismus: "Heute höre ich wieder diese Debatten in Deutschland, die Gruppe um Alice Schwarzer. Oder Habermas. Ich habe den Eindruck: Die wünschen sich insgeheim, dass Selenski so wird wie Pétain. Ein Land wird geteilt, man unterwirft sich. Nein, es gibt Momente, in denen Krieg einfach notwendig ist. Meine Eltern haben mich gezeugt nach der Landung der Alliierten in der Normandie, ich bin 1945 geboren. Wenn die Pazifisten sagen, Krieg bringe nichts Gutes, sage ich: 'Einspruch, Euer Ehren. Ohne die Alliierten - und sie kamen nicht etwa mit der Fliegenklatsche - wäre ich nicht geboren.'"

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Auch dank seiner lautstarken Bekenntnisse zu Putin feiern Björn Höcke und seine sonst eher kriselnde AfD in den Neuen Ländern weiterhin Erfolge, berichten Markus Balser und Ronen Steinke auf Seite 3 der SZ. Die Tatsache, dass die AfD jetzt vom Verfassungsschutz überwacht kümmert ihre Wähler dabei nicht im geringsten: "Höckes Landesverband war bei drei Umfragen seit Jahresbeginn mit deutlich mehr als 20 Prozent stärkste oder zweitstärkste Kraft in Thüringen. Die AfD lag dort deutlich vor Union, SPD, Grünen und FDP. In einer Umfrage lag sie sogar vor der sonst führenden Linken. So stark steht Höcke derzeit da, dass er jüngst Beifallsstürme auslöste, als er auf einem Landesparteitag andeutete, bald 'die Parteiführung auf Bundesebene auch mitzuprägen'."

Berichterstattung über die britische köngliche Familie kommt selten über die übliche Verzückung und Faszination über die inszenierte Märchenwelt hinaus, auch nicht beim jetzt absolvierten siebzigsten Kronjubiläum der Queen. Der Observer-Kolumnist Nick Cohen betrachtet allerdings schon mal mit Grausen die politischen Anwandlungen des künftigen King Charles III., die von der dezidierten Fadheit der Queen unangenehm abstechen werden. "Grüne Leser, die glauben, dass Interventionen eines ökologischen King Charles willkommen wären, sollten sich ansehen, woher sein Umweltbewusstsein kommt und wohin es führt. Charles' weitgehend ungelesenes Buch 'Harmony - A New Way of Looking at the World' ist ein weiteres Buch, das es wert ist, dass man sich zwingt, es durchzuarbeiten. Es legt eine obskurantistische Vision dar, die so reaktionär ist, dass sie sich gegen alle Aspekte der Moderne seit der wissenschaftlichen Revolution richtet. Daher auch seine Vorliebe für die diktatorischen Petro-Monarchien am Golf. Sie mögen verheerende Umweltschäden verursachen, aber zumindest sind sie frei von den demokratischen Zwängen, die die Aufklärung den europäischen Königen auferlegt hat." Für die FAZ fasst Gina Thomas die Feierlichkeiten zum Kronjubiläum zusammen.
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Ideen

Wie einfach der "Historikerstreit 2.0" sich aus der Ferne darstellt, kann man in einem Text Enzo Traversos, immerhin eines renommierten Historikers, für das betonlinke amerikanische Magazin The Jacobin nachlesen. A. Dirk Moses ist in dieser Version natürlich der Held. Für Traverso gestaltet sich die Debattenlage so: "Die Zeit der Schuld ist vorüber. Trauer wurde durch die obsessive Jagd nach antisemitischen Verschwörungen ersetzt. Die Fatwas dieses neuen deutschen Konformismus haben eine lange Liste von Persönlichkeiten getroffen, von Philosophen wie Judith Butler und Achille Mbembe (ein in Südafrika lebender Wissenschaftler, der es gewagt hat, Gaza und das palästinensische Westjordanland mit der Apartheid zu vergleichen) bis hin zu Historikern wie Michael Rothberg und Jürgen Zimmerer."
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Kulturpolitik

Der Frankfurter OB Peter Feldmann hat sich zwar in mehreren Belangen unmöglich gemacht, regiert aber so unverdrossen wie sonst nur Boris Johnson weiter. Auch seine kulturpolitische Bilanz ist desaströs, schreibt Christian Thomas in der FR: "Einer Premiumkultur, zuständig dafür, dass Oper, Museen und Schauspiel in Frankfurt mindestens auf Euro-League-Niveau spielen, gilt Feldmanns Desinteresse. Allerdings achtet er auf Etikette bei viertklassigen Veranstaltungen, solchen auf Oberliganiveau, um im vollen Ornat zu erscheinen, mit Amtskette. Ein OB ohne Stilgefühl, aber, wie auch Koalitionspartner monieren, mit Sonnenköniggehabe."
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Stichwörter: Frankfurt, Johnson, Boris

Medien

Lucien Scherrer porträtiert für die NZZ  die Journalistin Ekaterina Glikman, die von der Schweiz aus für die Nowaja Gaseta Europa schreibt - längst kann die berühmte Zeitung nur mehr online erscheinen. Für sie ist die Monumentalisierung der stalinistischen Vergangenheit einer der Hauptgründe für die Möglichkeit dieses Krieges: "Wie verlogen der Umgang mit dem Erbe des Landes ist, wird ihr erstmals in der Schule bewusst, und das nicht nur, weil die meisten Schulbücher noch aus der Sowjetunion stammen. Mit 15 wird sie von ihren Lehrern aufgefordert, an einem nationalen Schreibwettbewerb teilzunehmen, zum 50. Jahrestag des sowjetischen Sieges über Nazideutschland. Glikman schildert das Schicksal ihres Großvaters, der drei Jahre in einem deutschen Kriegsgefangenenlager vegetierte. Bei der Befreiung wog er noch 38 Kilogramm - glücklich, dass man ihn nicht gleich zurück in die Sowjetunion schickte, wo Stalin ehemalige Gefangene gleich nochmals einsperren und hungern ließ, wegen 'Verrat am Vaterland'. Der Text wird nicht angenommen: zu wenig heroisch, zu wenig Pathos, zu wenig militaristisch.
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Stichwörter: Nowaja Gaseta

Politik

Bei einem Attentat auf einen Pfingstgottesdienst in der Stadt Owo im südwestnigerianischen Bundesstaat Ondo starben fünfzig Menschen oder mehr. Dominic Johnson schildert in der taz das komplizierte Geflecht ethnischer und religiöser Identitäten in der Region: "Die Menschenrechtsorganisation MURIC (Muslim Rights Concern) warnte, der Angriff zeige, dass die islamistische Terrorgruppe Boko Haram sich in den Südwesten Nigerias ausgebreitet habe, und rief Buhari dazu auf, auch in diesem Landesteil die Armee einzusetzen. 'Erfahrungsgemäß werden Moscheen und weitere Kirchen die nächsten Ziele sein, denn so hat es im Norden angefangen', warnte die Gruppe. 'Wir bitten um Schutz für alle Kirchen und Moscheen.' Traditionelle Vertreter des Yoruba-Volkes hingegen werteten den Angriff als Zeichen dafür, dass es jetzt an der Zeit sei, die Eigenständigkeit des Yoruba-Landes voranzutreiben."
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Stichwörter: Nigeria, Boko Haram