9punkt - Die Debattenrundschau

Die Regierung sitzt im Aufsichtsrat

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.06.2022. In der taz erkärt der belarussische Autor Alhierd Bacharevič, warum er die Regimes in seinem Land oder Russland faschistisch nennt. Angela Merkel will sich für ihre Russlandpoltik nicht entschuldigen, berichtet der Tagesspiegel. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck verweigert einigen deutschen Firmen, die gern in Xinjiang produzieren, Investitionsgarantien, berichtet die FAZ: Und nebenbei wird klar, dass VW nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern aus Opportunismus dort produziert, und mit Billigung der Politik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.06.2022 finden Sie hier

Europa

Durch den Ukraine-Krieg steht die deutsche Russlandpolitik seit fünfzig Jahren in einem recht peinlichen Licht. Aber die Politiker wollen sie lieber nicht in Frage stellen, auch Angela Merkel nicht, die sich gestern zu einem plauschigen Interview mit Alexander Osang im Berliner Ensemble traf. Georg Ismar berichtet im Tagesspiegel: "Das Minsker Abkommen sei sicher nie perfekt gewesen, aber es habe ein Stück Ruhe reingebracht. 'Und es hat der Ukraine Zeit gegeben, sieben Jahre, sich so zu entwickeln, wie sie heute ist.' Diplomatie sei ja nicht, wenn sie nicht gelingt, falsch. 'Deshalb werde ich mich nicht entschuldigen.'" Über Merkels Eintreten für Nord Stream 2 und ihre Politik der Abhängigkeit von russischem Gas wurde offenbar erst gar nicht geredet.
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Ideen

Jens Uthoff unterhält sich in der taz mit den belarussischen AutorInnen Alhierd Bacharevič und Julia Cimafiejeva, die auch vom Exil aus weiter über die Lage in ihrem Land schreiben. Bacharevič spricht über seinen Essay "Das letzte Wort der Kindheit - Faschismus als Erinnerung", der bei der Edition Fototapeta erschienen ist. "Es ist nicht die Art des Faschismus wie in Deutschland oder Italien im 20. Jahrhundert, es ist ein neuer Typus von Faschismus in einem relativ kleinen Land. Keiner erhörte unsere Warnungen. Im Westen hat man uns nicht ernst genommen, nach dem Motto: Das sind belarussische Schriftsteller, sie müssen ihre Regierung kritisieren, es ist ihre Aufgabe. Was die westlichen Intellektuellen nun aussprechen - dass Russland ein faschistischer Staat ist -, wurde in Belarus schon lange erkannt. Aber der Westen betrieb seine Russlandpolitik über unsere und über ukrainische Köpfe hinweg."

Der Politologe Gert Krell prüft in der FR verschiedene politologische Theorien an der Realität von Russlands Krieg gegen die Ukraine. Weder die gepolitischen Ästhetiken der Kälte à la Münkler, noch der institutionalistische Ansatz ("Wandel durch Handel") schneiden dabei gut ab. Zu letzterer Theorie, in der es sich die Sozialdemokratie und ganz Deutschland gemütlich machte, schreibt Krell: "Nach wie vor ist richtig, dass Handelsbeziehungen tendenziell die Wahrscheinlichkeit gewaltsamer Auseinandersetzungen reduzieren; aber sie sind keine Garantie für Demokratisierung (China und Russland wollen beide Handel, aber keinen Wandel), und sie können zu heiklen Abhängigkeiten führen. Jetzt gibt es eine neue Debatte über die Risiken von Interdependenz, denn in dem Wort steckt ja nicht nur das 'inter', sondern auch die 'Dependenz'."

Ulrike Guérot, lange Zeit eine überall gefeierte Politologin, die auf keinem Podium zu europäischen Fragen fehlen durfte, steht seit kurzem in der Kritik, auch wegen impfkritischer Äußerungen und Kommentaren zum Ukraine-Krieg. Der Politologe Markus Linden warf ihr in der FAZ jüngst Plagiate in ihrem Bestseller "Wer schweigt, stimmt zu" vor (unser Resümee). Nun untersucht er ihren Band "Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie" auf nicht gekennzeichnete Zitate: "Diese Großflächigkeit nähert sich dem Guttenberg-Standard."
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Gesellschaft

Die Homosexuellenbewegung entstand in Deutschland auch mit dem Fernsehfilm "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" von Rosa von Praunheim, den der WDR im Januar 1972 ausstrahlte. Hans Hütt erinnert sich in der SZ daran: "Ich hatte die Vorankündigung des Films im TV-Programm der Lokalzeitung wahrgenommen - und ging kurz vor elf Uhr abends in den Keller, wo das Fernsehgerät der Familie stand. Dort saß bereits mein Vater, womit ich nicht gerechnet hatte. Wortlos sahen Vater und Sohn den Film. Die Annahme ist nicht abwegig, dass die seelsorgerliche Berufserfahrung den Vater in die Lage versetzt hatte, seinen Sohn aufmerksamer zu beobachten, als der es für möglich gehalten hätte. Seine Anwesenheit war ein Gesprächsangebot, das der Sohn erst Jahre später angenommen hat."
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Stichwörter: Praunheim, Rosa von, WDR

Kulturpolitik

Bundeskulturministerin Claudia Roth war auf Stippvisite in der belagerten Stadt Odessa, die wegen der Hafenblockade im Moment kaum funktionieren kann. Thomas Avenarius hat sie für die SZ begleitet: "Roth sichert .. auch in ganz grundsätzlichen Fragen Beistand und Hilfe zu. Die Bundesregierung werde Odessa bei der seit 2009 vorliegenden Bewerbung um einen Unesco-Welterbestatus helfen. 'Deutschland unterstützt diese Bewerbung', versichert die Kulturstaatsministerin. Wenn eine Stadt zum Weltkulturerbe gezählt werde, dann heiße das eben auch, dass 'die Welt Verantwortung für diese Stadt übernimmt'."

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Stichwörter: Odessa, Roth, Claudia

Politik

Manchmal lohnt sich doch ein Blick in die Wirtschaftsseiten der FAZ. Erstmals gewährt das Bundeswirtschaftsministerium unter Robert Habeck einigen deutschen Firmen keine Investitionsgarantien mehr, wenn sie in Xinjiang produzieren, berichtet Christian Geinitz. Konkret betroffen davon ist offenbar Volkswagen. Nebenbei stellt sich heraus, dass VW nicht aus wirtschaftlichen Gründen in Xinjiang produzierte. Die chinesische Regierung siedelte bewusst dort Firmen an, damit sie ihre Politik der Gleichschaltung mittrugen - VW agierte bewusst: "Es war .. immer klar, dass die Investition politisch motiviert war, dass sich die Wolfsburger vor den Karren spannen ließen, um ihre übrigen Interessen im wichtigsten Automarkt nicht zu gefährden - und dass die Bundes- und Landespolitik diesen Weg mittrug. Niedersachsen ist an VW beteiligt, die Regierung sitzt im Aufsichtsrat." Kein Land profitiert mehr von deutschen Garantien als China, erfährt man nebenbei. Und der Rückzug aus Xinjiang dürfte für viele deutsche Firmen schwierig werden, denn die Region ist auch wirtschaftlich wichtig: "Etwa die Hälfte des in der ganzen Welt produzierten Polysiliciums kommt von dort. Dieses braucht man für Halbleiter oder Solarpanels."

Die Journalistin und Aktivistin Marlene Förster, die sich im Irak für Jesiden einsetzt, wurde von irakischen Behörden entführt, kam aber glücklicher Weise wieder frei. Im interview mit Lisa Schneider von der taz erzählt sie von der Lage der Jesiden, die nach wie vor verfolgt werden: "Die JesidInnen und ihre Gebiete werden permanent angegriffen, immer wieder auch von der Türkei mit Drohnenattacken. Sie sind weiterhin Opfer von Repressionen, vom irakischen Staat, von der kurdischen Autonomieregierung. Und immer wieder werden wichtige Persönlichkeiten aus der jesidischen Community gezielt ermordet - zuletzt im Dezember der Co-Vorsitzende der jesidischen Selbstverwaltung Merwan Bedel... Und über all das soll möglichst wenig bekannt werden."
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Religion

Der letzte Katholikentag in Stuttgart vor ein paar Tagen war ein totaler Flop, schreiben Hannah Wettig und Walter Otte bei hpd.de: "Zogen frühere Katholikentage noch fast 100.000 Menschen an, machten sich in diesem Jahr nur rund 25.000 Menschen auf den Weg." Für diese schüttere Menge wurden 1.500 Foren organisiert. Aus Eigenmitteln zahlte die Kirche nur einen Teil der Kosten der Veranstaltung. Vier Millionen der zehn Millionen Euro Gesamtkosten wurden von staatlichen Stellen beigetragen. "Gerade die beiden großen christlichen Kirchen werden mit zahllosen direkten und indirekten Zuwendungen staatlicher Stellen bedacht. Das reicht vom Einzug der Kirchensteuer (12 Milliarden Euro pro Jahr) über die historischen Staatsleistungen (600 Millionen Euro pro Jahr) bis zur Steuerfreiheit und vielen weiteren Vergünstigungen, die weit über die Hilfe für andere gesellschaftliche Vereinigungen hinausgehen. Insofern sollen die Kirchen ihre Mitgliederveranstaltungen selbst bezahlen."
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