9punkt - Die Debattenrundschau

Ganz froh, dass es jetzt vorbei ist

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.06.2022. Das Desaster des Geschehenlassens: Angela Merkel machte es sich im Berliner Ensemble mit ihrer Rolle in der Geschichte recht gemütlich, findet die Politico-Journalistin Zoya Sheftalovich. Und der Interviewer mit ihr, so die taz. Man habe es ja aber auch nicht wissen können, beharrt Manuela Schwesig in der Zeit. Wenn Putin die Ukraine filetiert, wird Deutschland als mitverantwortlich angesehen werden, warnt Ralf Fücks in der Berliner Zeitung. In Berlin klärt eine Konferenz, wie die "Neue Rechte" den Holocaust instrumentalisiert. Die mitorganisierende Susan Neiman vom Einstein-Forum erklärt in der SZ, warum sie es in diesem Kontext so wichtig findet, dass Institutionen "weltoffen" für Israelkritik sind.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.06.2022 finden Sie hier

Europa

Das spitzeste Resümee des Angela-Merkel-Interviews im Berliner Ensemble kommt von Zoya Sheftalovich, Redakteurin bei politico.eu:
Sheftalovich kommentiert auch in einem längeren Thread Merkels Bemerkung, man hätte der Ukraine 2008 keinen Nato-Kandidatenstatus geben können, weil das einer Kriegserklärung an Putin gleichgekommen wäre. "Das ist, als würde man sagen: Ich werde dem Tyrannen nicht sagen, dass ich mich morgen für dich einsetzen werde, falls er dich heute verprügelt." Und sie erinnert daran wie die Ukraine schon zuvor im Stich gelassen worden war: Kiew erklärte sich 1991 bereit, seine Atomwaffen gegen Sicherheitsgarantien von Russland, den USA und Großbritannien abzugeben, "die sich alle verpflichteten, 'die Unabhängigkeit und Souveränität' der Ukraine zu respektieren und 'von der Androhung oder Anwendung von Gewalt" gegen die Ukraine Abstand zu nehmen'. Heute ist klar, dass die Entnuklearisierung ohne eiserne Sicherheitsgarantien in Form des Nato-Grundsatzes der gegenseitigen Verteidigung ein Fehler war und den Weg für eine Invasion ebnete. Aber damals handelte die Ukraine in gutem Glauben und dachte, andere würden das auch tun."

Merkel machte es sich bei der Konfrontation mit der Geschichte ziemlich gemütlich, findet auch Sabine am Orde in der taz, und der sie befragende Journalist Alexander Osang auch: "Eine Zäsur sei die Annexion der Krim 2014 gewesen, so die ehemalige Kanzlerin. Ihrer Meinung nach hätten die Sanktionen härter sein können. Dass die Bundesregierung danach trotzdem weiter an dem Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 festhielt, dazu sagt Merkel nichts - und dazu wird sie auch nicht kritisch befragt. Stattdessen kann sie ihren Ärger kundtun, dass die US-Regierung deutsche Unternehmen wegen des Pipelinebaus sanktioniert hätte."

Man habe es ja aber auch nicht wissen können, beharrt Manuela Schwesig im Zeit-Interview mit Stephan Lebert und Martin Machowecz: "Mit dem Wissen von heute war das Festhalten an Nord Stream 2 ein Fehler. Auch die Einrichtung der Stiftung, die den Fertigbau der Pipeline ermöglichen sollte. Mit dem Wissen von heute würde ich das nicht mehr so entscheiden. Das ist ganz klar."

"Merkel (…) verachtet Putin", zumindest das wird Peter Huth in der Welt nach dem Abend deutlich. Sie sei "in etwa so romantisch wie die schweren Waffen, die ihr Nachfolger nicht liefert", schreibt er. Aber sie steht zu dem, was sie tat: "Nein, die Ukraine 2014 sei nicht die Ukraine von 2022. Nein, die Andeutung einer Aufnahme des Landes in die Nato nach der Krim-Annexion hätte für das Land verheerende Folgen gehabt - und zwar zu einem Zeitpunkt, in dem es nicht so wehrbereit war wie heute. Nein, die Abschaffung der Wehrpflicht war richtig, weil die trotteligen (meine Worte) Wehrpflichtigen das Militär eher belasteten als unterstützten. Sie erklärt das, als ob sie mit Kindern spräche. Ein Scholzomat, nur aus Fleisch und Blut. Und als Frau."

Auf Seite 3 der SZ resümieren Nico Fried und Boris Herrmann den Abend. In der Berliner Zeitung spricht Alexander Osang über seine Eindrücke während des Gesprächs: "Ich bin, ehrlich gesagt, ganz froh, dass es jetzt vorbei ist." Holger Friedrich zieht indes vor,  seinen Text über den Merkel-Auftritt lieber bei Cicero als im eigenen Blatt zu lancieren.

Ralf Fücks skizziert im Intervew mit Christine Dankbar von der Berliner Zeitung (nachgedruckt bei libmod.de) die beiden möglichen Kriegsausgänge: Entweder die Ukraine schafft es, auch mit deutscher Hilfe, Russland zurückzudrängen, oder Putin teilt die Ukraine: "Dann wäre die Ukraine gezwungen, einem Waffenstillstand zuzustimmen, der de facto die neue Grenze bildet, wie schon 2014/2015. Das wäre Minsk III. Das ist mein Albtraum-Szenario. Es würde zu schweren politischen Verwerfungen in der Ukraine führen, weil sie so viel geopfert haben für diesen Krieg. Ich glaube nicht, dass Selenski das politisch überstehen könnte. Es wäre aber auch für uns eine gefährliche Entwicklung. Nicht nur, weil Russlands Aggressionspolitik ermutigt würde, sondern weil in Europa viele Deutschland mitverantwortlich machen würden, dass es so gekommen ist."

Angesichts von Mord, Vergewaltigung, Folter, Zerstörung von Kindergärten, Krankenhäusern und Kirchen und Vernichtung von Ortschaften kann der Historiker und Brigadegeneral a. D. Klaus Wittmann in der Welt Rufe nach Waffenstillstand oder Neutralität der Ukraine nicht verstehen: "Hören wir doch auf, der Ukraine Ratschläge zu geben - das heißt, sie weiterhin als 'Objekt' zwischen Ost und West zu betrachten oder sie sogar, wie seit jeher, vorwiegend mit russischen Augen zu sehen! Halten diejenigen, die implizit ihre Kapitulation fordern, sich nicht vor Augen, was Putins Ziele 'Entnazifizierung', 'Entukrainisierung' und Entmilitarisierung wirklich bedeuten - und wie weitgehend über die Ukraine hinaus die Forderungen sind, die er Mitte Dezember an die Nato und die US-Regierung gerichtet hat? (….) Bei einem 'Friedensschluss' unter 'Abtretung' von Krim und Donbass würde der russische Despot, der noch jeden Vertrag gebrochen und ausländische Staatsmänner reihenweise belogen hat, bald in der Ukraine erneut gewaltsam seine umfänglicheren Ziele verfolgen."

Reinhard Veser versucht für die FAZ herauszufinden, was mit den ukrainischen Kriegsgefangenen aus dem Asowstahlwerk in Mariupol geschieht. Auf einen Gefangenenaustausch scheint es nicht hinauszulaufen: "Die staatliche russische Nachrichtenagentur TASS meldete am Mittwoch, was in den Tagen zuvor schon als Gerücht in sozialen Medien kursierte: Etwa tausend der ukrainischen Soldaten, die sich Mitte Mai in Mariupol in russische Gefangenschaft begeben haben, seien zu Ermittlungszwecken nach Russland gebracht worden. 'Die Sicherheitsorgane arbeiten kräftig mit ihnen', sagte laut der Agentur eine nicht namentlich genannte Quelle. Weitere Gefangene sollten nach Russland gebracht werden." Außerdem zitiert Veser Berichtet, dass der Anschluss der eroberten Städte an Russland vorbereitet werde.

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Francesca Polistina berichtet für die taz aus Verona, wo demnächst Kommunalwahlen stattfinden. Die extreme Rechte ist hier besonders stark, auch aus historischen Gründen: "Laut der aus Verona stammenden Journalistin Giulia Siviero besteht die Besonderheit der Stadt in dem Draht, der rechte Gruppierungen und einen sehr konservativen Katholizismus verbindet. Vor einigen Jahrzehnten war diese Beziehung noch offensichtlicher, aber immer noch werden von einem Teil der Katholiken der Stadt antifeministische und homophobe Positionen vorangetrieben. Der für Siviero 'eklatanteste Fall' der letzten Jahre sei zweifellos der 'World Congress of Families', der 2019 zum ersten Mal in Italien stattfand - ausgerechnet in Verona, mit Unterstützung des damaligen Lega-Familienministers und gebürtigen Veronesers Lorenzo Fontana."

Nochmal Rechtsextremismus. Kevin Hanschke erzählt in der FAZ von der schwierigen und tapferen Aufarbeitung des NSU-Kontextes in Jena. Unter anderem ist ein NSU-Dokumentationszentrum geplant: "Es wird seit mehreren Jahren von unterschiedlichen Initiativen forciert, ist im letzten sächsischen Koalitionsvertrag und im neuen Koalitionsvertrag der Bundesregierung vereinbart worden. Cem Özdemir hat sich als Schirmherr zur Verfügung gestellt."
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Medien

In deutschen Medien wurden die jüngsten Äußerungen Dmitri Medwedjews kaum wahrgenommen. Er hatte gepostet: "Ich werde oft gefragt, warum meine Telegram-Posts so hart sind. Die Antwort ist: Weil ich sie hasse. Sie sind Bastarde und Abschaum. Sie wollen unseren Tod, den Tod Russlands. Und solange ich lebe, werde ich alles tun, um sie verschwinden zu lassen." In Italien, so Matthias Rüb in der FAZ wurde diese Äußerung viel kommentiert, allerdings auch vor dem Hintergrund, dass es in Italien fast noch mehr russophile Influencer und Prominente gibt als hierzulande: "Anfang dieser Woche veröffentlichte die konservativ-liberale Tageszeitung Corriere della Sera eine Liste von einem knappen Dutzend pro-russischer Journalisten, Ökonomen, Politologen und Historikern, die sich bei der Verteidigung der russischen Position besonders hervortun. Und die vor allem den parteilosen Ministerpräsidenten Mario Draghi immer wieder ins Visier ihrer Kritik nehmen."
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Stichwörter: Draghi, Mario, Influencer

Ideen

Besudelte Aufklärung. Das Voltaire-Denkmal nach dem Farbanschlag. Foto. Thierry Chervel
Das Pariser Voltaire-Denkmal stand bisher an unauffälliger, aber öffentlicher Stelle in der der Nähe der Académie française. Dann verübten Antirassisten einen Farbanschlag auf das Monument. Seitdem befindet es sich in der Werkstatt zur Restauration, berichtet Jürg Altwegg in der FAZ: "Längst ist der Zwangsaufenthalt im Depot zum Symbol der geistigen Kapitulation Frankreichs vor dem Islamismus geworden. Jetzt wird das postume Schicksal des Satirikers auch zur zeitgenössischen Realsatire: Die Statue wird demnächst im Innenhof der medizinischen Fakultät aufgestellt. Er kann durch ein Eisentor verschlossen werden."


Unter dem Titel "Hijacking Memory - Der Holocaust und die Neue Rechte" hat die Philosophin und Direktorin des Potsdamer Einstein Forums Susan Neiman eine Tagung zum Thema Antisemitismus in Deutschland organisiert. Seit der BDS-Resolution werde der Vorwurf des Antisemitismus in Deutschland instrumentalisiert, sagt sie im SZ-Gespräch mit Sonja Zekri und erzählt, weshalb sie die "Initiative GG 5.3 Weltoffenheit" (Unsere Resümees) unterstützt, in der die Chefs der wichtigsten deutschen Kulturinstitutionen eine Öffnung für BDS-Positionen fordern: "Im vergangenen Jahr gehörte ich einem Gremium an, das einen Preis vergeben sollte. Wir hatten uns auf einen Kandidaten geeinigt, aber drei Tage später hat eine Mitarbeiterin einen Blogeintrag gefunden, der den Kandidaten als Antisemiten verschrie. Anstatt zu recherchieren, wer der Blogger ist und wer ihn unterstützt, hieß es sofort: Um Gottes Willen, wir dürfen diesen Menschen nicht auszeichnen. Ich bin umgehend aus der Jury ausgetreten, denn das war der blanke McCarthyismus. Weil ich aber zur Verschwiegenheit verpflichtet bin, gehe ich damit nicht an die Öffentlichkeit. Ähnliche Geschichten höre ich auch von anderen - aus Gremien, von Jobsuchen oder Projektanträgen. Der Mangel an Mut in einem Land, in dem immer zur Zivilcourage aufgerufen wird, überrascht mich jedes Mal aufs Neue."

Für die SZ hat Nils Minkmar "After the Fall", das neue Buch von Ben Rhodes, einst Obamas Redenschreiber gelesen. Rhodes gibt darin dem Westen die Mitschuld am "illiberalem Kapitalismus und seinem Repressionsapparat", schließlich auch am Krieg: "Das Streben nach Wachstum, nach Geld hat im Westen alle anderen Ideale überlagert und auch jene politischen Kräfte, die die Flamme der Freiheit und der Menschenrechte schützen müssten, haben diesen Teil ihrer Mission vergessen. Ein Kennzeichen westlicher Werte ist uralt, schon der französische Philosoph Michel de Montaigne beschrieb es in seinen Essais: die Ablehnung der Folter. Westliche Demokratien foltern keine Gefangenen und betreiben auch keine Geschäfte mit Ländern, die das tun. Es ist eine alte und simple Regel, aber in diesem Jahrhundert wurde sie verraten. Und mehr noch: Nie wird jemand zur Verantwortung gezogen. Du kannst die Weltwirtschaft crashen, Kriege vom Zaun brechen, durch den Verkauf von Lügen und Ressentiments reich werden und als Hobby das Klima mit privaten Weltraumflügen belasten - das hat alles keine Folgen, denn vor dem Gesetz sind eben nicht mehr alle gleich."
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Gesellschaft

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Internet

Künstliche Intelligenz ist "fürs Diskriminieren designt" worden, sagt die Wissenschaftlerin Kate Crawford im Zeit-Online-Gespräch mit Meike Laaff. Sie fordert stärkere Regulierung und die Begrenzung auf ausgewählte Anwendungsgebiete: "Es gibt soziale Institutionen, in denen die Anwendung von Machine-Learning-Systemen eine hochriskante Praxis ist - in der Strafjustiz etwa, in der Bildung, in sozialen Systemen, die sehr komplex sind. Wir müssen diesen sehr schwachen Muskel trainieren, den wir in den vergangenen 20 Jahren nicht wirklich genutzt haben - und das ist die Politik der Ablehnung. Die Fähigkeit, Nein zu sagen: Nur weil dieses System im Klassenzimmer meines Kindes Emotionen erkennen und seine Noten vorhersagen könnte, heißt das nicht, dass das auch gemacht werden sollte."
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Geschichte

Angesichts der Plünderung der ukrainischen Getreidelager durch die russische Armee fühlt sich der Schriftsteller Juri Andruchowitsch in der NZZ an den Holodomor erinnert. Es drohe eine Katastrophe, warnt er. Der Versuch Russlands, Kontrolle über die "Kornkammer Europas" zu bekommen, hat System, fährt er fort: "Wenn ich heute Fotos sehe, auf denen ukrainische Dörfler mit ihren Traktoren erbeutete russische Panzer abschleppen oder, nur mit Äxten und Mistgabeln bewaffnet, russische Soldaten gefangen nehmen, dann beschleicht mich eine Vermutung: Es handle sich in Wirklichkeit um postmoderne Repliken jenes scheinbar vom russischen Zarismus und später auch Bolschewismus vernichteten kulturellen Paradigmas, in dem Pflügen, Säen und Kämpfen gleichwertige Aufgaben waren. Der Kampftraktor des ukrainischen Bauern erscheint als maximal ausgeprägte Verkörperung seiner ererbten aufständischen und Partisanen-Mentalität."
Archiv: Geschichte