9punkt - Die Debattenrundschau

Ungeheure Explosionen aus Fehldeutungen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.06.2022. Der Krieg gegen die Ukraine ist noch längst nicht zu Ende, aber die New York Times beschäftigt sich in einem beeindruckenden Dossier schon mit der Frage, wie seiner gedacht werden wird. Unternehmerfamilien wie die Quandts, die den Grundstein für ihr Vermögen in der Nazizeit legten, sollen für Transparenz sorgen, sagt der niederländische Autor David de Jong in der NZZ. Clemens Setz staunt bei Twitter über die Verwandlung von Text in Bild mittels KI. taz und Libération berichten über die islamistischen Morde in Burkina Faso. Und der Missbrauch in der Katholischen Kirche ist wieder Thema.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.06.2022 finden Sie hier

Europa

Der Krieg gegen die Ukraine ist noch längst nicht zu Ende, aber Linda Kinstler beschäftigt sich in einem beeindruckenden New-York-Times-Dossier schon mit der Frage, wie seiner gedacht werden wird. Anlass sind auch die Bomben, die fast das Holocaust-Mahnmal Babyn Jar trafen, jenes Massengrab, in dem die Nazis hunderttausend Holocaust-Opfer verscharrten und das von Stalin einst planiert worden war, um die Spuren des Holocaust zu tilgen. Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart vermischen sich in diesem Krieg, schreibt Kinstler und exemplifiziert das am ukrainischen Neologismus "Raschisten", mit dem die Angreifer bezeichnet werden: "Der Begriff unterstreicht, dass die russischen Truppen genau jene Verbrechen begehen, für deren Beendigung in vielen Fällen ihre Großeltern gekämpft haben. Ihre Befehlshaber behaupten, einen Völkermord zu verhindern, während ihre Soldaten einen solchen begehen; sie zerstören dieselben Städte, die ihre Vorgänger befreit haben. Und, wie ukrainische Beamte sagten, tun sie ihr Bestes, um die Beweise zu vertuschen, die auf diesem Weg entstehen." Die Frage, ob die jetzigen Verbrechen der Russen als "genozidal" bezeichnet werden müssen, wird die Forscher noch lange beschäftigen, so Kinstler: Genozid sei von vornherein ein Verbrechen der Leugnung.


Juri Larin besucht für die taz, zusammen mit einem Trupp von Helfern, das Wohnhaus von Sergej in Charkiw. einen typischen Plattenbau, zerschossen, aber noch aufrecht: "Von oben sieht das Haus wie eine Mini-Kopie des zerstörten vierten Reaktors des ukrainischen Atomkraftwerkes Tschernobyl aus. 'In dieses Gebäude sind alle möglichen Geschosse eingeschlagen. Diese Häuser wurden mit Mehrfachraketensystemen unter Beschuss genommen, hier wurde alles der Reihe nach weggeräumt', sagt Wasilenko. Angaben des ukrainischen Katastrophenschutzes zufolge sind in Charkiw bis zum 7. Juni in insgesamt 17 Wohnhäusern und Verwaltungsgebäuden die Trümmer beseitigt worden. Vor den Helfern liegt aber noch viel Arbeit, insbesondere in den Charkiwer Stadtteilen Sewernaja Saltowka, Pjatichatki sowie den Siedlungen Schukow und Horizont. Die genaue Anzahl beschädigter Wohngebäude ist bisher nicht bekannt. Charkiw wird weiterhin täglich von Raketen und Artillerie angegriffen."

In den Neuen Ländern sind die Sympathien für Russland doch immer noch recht groß, konstatiert Stefan Locke in der FAZ: "So kommt es, dass in Umfragen eine Mehrheit von fast zwei Dritteln der Ostdeutschen der Meinung ist, Deutschland solle sich aus diesem Krieg heraushalten. Eine Minderheit im Osten dagegen ist wie eine Mehrheit im Westen der Auffassung, Deutschland müsse die Ukraine jetzt maximal unterstützen. Hier zeigt sich wie schon früher ein Generationenunterschied. Fürs Heraushalten sind vor allem Menschen, die Krieg entweder noch selbst erlebt haben oder in der traumatisierten Gesellschaft der Nachkriegszeit aufwuchsen." Ebenfalls in der FAZ beichtet Johannes Leithäuser von selbstkritischen Äußerungen Sigmar Gabriels: "Jahrzehnte des Erfolges haben viele von uns arrogant werden lassen."

Niklas Bender porträtiert in der FAZ den Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon, der mit seinem Bündnis "Nupes", in dem ein Großteil der ehemaligen französischen Linken aufgegangen ist, ein gutes Ergebnis bei den Parlamentswahlen erzielt hat. Er zeichnet sich nicht nur durch eine tiefe Bewunderung für Autokraten wie Putin oder Chavez aus, sondern auch durch einen Deutschlandhass, der hierzulande bisher wenig wahrgenommen wurde: "Seine Ablehnung sitzt so tief, dass es sich in Beschimpfungen Bahn gebrochen hat ('Maul zu, Frau Merkel!'), oder darin, dass Mélenchons Partei (La France insoumise) bei der Fußballweltmeisterschaft 2018 das deutsche Ausscheiden gefeiert hat. Die politische Ecke, in der diese trübe Quelle sprudelt, ist die des chauvinistischen Ressentiments." Bender vermutet, dass Mélenchon seinen Lauf in der zweiten Runde der Wahlen am Sonntag nicht wird fortsetzen können.
Archiv: Europa

Geschichte

Wenn deutsche Firmen die Geschichte ihrer Nazivergangenheit aufarbeiten lassen, hoffen sie meist, dass sich die Sache damit erledigt hat. Der niederländische Autor David de Jong, dessen Buch "Braunes Erbe. Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien" letzten Monat erschienen ist, findet das im Interview mit der NZZ etwas zu einfach, wie er am Beispiel der Quandts erklärt: Sie hatten "fast 60.000 Zwangs- und Sklavenarbeiter beschäftigt und enorm von Enteignungen profitiert, sowohl was jüdische Betriebe in Deutschland betraf als auch solche in den besetzten Gebieten." Unternehmerfamilien wie die Quandts "sollten vor allem Transparenz herstellen", so Jong, "und etwa auf den Websites der Firmen, Medienpreise, Stiftungen oder Lehrstühle, die den Namen Quandt oder Porsche tragen, kommunizieren, was in den Studien über Unternehmer wie Günther und Herbert Quandt oder Ferry Porsche steht. Meinetwegen sollen sie deren Erfolge feiern, aber sie müssten auch die dunklen Seiten zeigen. Stattdessen legen die Erben einen erstaunlichen Mangel an Reflexion an den Tag: In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat Stefan Quandt vor Jahren einmal über den Schutz des Privateigentums geschrieben und vor Enteignungen und staatlichen Interventionen in der Wirtschaft gewarnt. Er hat wohl vergessen, dass sein Vater und sein Großvater von Enteignungen profitiert haben."
Archiv: Geschichte

Religion

In Münster stellten der Historiker Thomas Großbölting und Mitarbeiter eine neue Studie zu sexuellem Missbrauch im Bistum Münster vor (mehr hier), die Jan Feddersen in der taz bahnbrechend nennt, weil sie den Kontext zwischen Taten und Diskursen aufdeckt: "Die Historiker*innen weiten den Blick über die üblichen Schlagworte hinaus. Sie zeigen, wie intensiv der katholische Klerus gerade in der Nach-Nazizeit Angst vor Sexualität in die Seelsorge einbaute - und die Furcht vor sexuellem 'Schmutz' dazu nutzte, Missbrauch unsagbar zu machen."


"Die Zahlen sind erschütternd", schreiben Linda Gerner und Tanja Tricarico, die die Studie in der taz genauer vorstellen: "196 beschuldigte Kleriker, 610 Betroffene, mindestens 5.700 Einzeltaten sexuellen Missbrauchs. Und das sind nur die Daten einer sogenannten Hellfeldstudie. Das Dunkelfeld schätzt die Gruppe auf bis zu zehnmal größer. Betroffen von sexualisierter Gewalt im Bistum könnten also im Zeitraum von rund 75 Jahren 5.000 bis 6.000 Mädchen und Jungen sein."
Archiv: Religion

Medien

"Boris Johnsons Innenministerin hat das Leben von Assange in der Hand", schreibt Constanze Kurz in Netzpolitik: "Im April 2022 hatte nach zwölf Jahren Hickhack und nach mehreren juristischen Verfahren zuletzt ein britisches Gericht entschieden, dass der WikiLeaks-Gründer ausgeliefert werden könne. Nach diesem Urteil liegt die Entscheidung seither bei der Regierung von Boris Johnson, namentlich bei der britischen Innenministerin Priti Patel. Patel gilt als Hardlinerin, daher wird erwartet, dass sie zu Ungunsten von Assange entscheidet. Spätestens am 17. Juni soll sich die Ministerin entschließen."
Archiv: Medien

Politik

In Seytenga, Burkina Faso, hat die schlimmste islamistische Attacke seit einigen Jahren stattgefunden, mit bis zu 200 Toten. Seytenga ist eine Stadt an der Grenze zu Niger. In Libération berichtet Agnès Faivre: "Am Samstag ist in Seytenga Markttag. Der Andrang ist geringer als sonst, aber die Kleinstadt bleibt belebt, als Dutzende bewaffneter Männer in das Zentrum der Stadt eindringen. 'Sie begannen in der belebtesten Straße, wo sich die Geschäfte und die Grins (kleine Lokale, wo sich Jugendliche zum Tee versammeln) konzentrieren. Sie schossen auf alle, außer auf die Frauen. Wenn sie ein Geschäft oder eine Werkstatt betraten, fragten sie 'Wo sind die Männer?'. Wenn nicht, sagten sie nichts. Es war ein sinnloses Töten. Diese methodischen Hinrichtungen dauerten bis zum Morgengrauen an."

"Auffällig ist, dass sich islamistische Angriffe in Goldbergbaugebieten häufen", schreibt Dominic Johnson in der taz zu dem Massaker. Es gibt unzählige informelle Goldminen im Land. "Aber auch die größte industrielle Goldmine von Burkina Faso, Taparko, wurde am 9. April aus Sicherheitsgründen geschlossen. Sie gehört mehrheitlich der russischen Firma Nordgold des sanktionierten Tui-Großaktionärs Alexei Mordaschow. Noch hat Burkina Fasos Militärregierung, anders als die in Mali, keine russischen Söldner ins Land geholt, um wichtige Orte zu 'schützen'. Das könnte sich bei einer weiteren Gewalteskalation ändern. Dann wird sich die Frage stellen, wem die neue Terrorwelle nützt."
Archiv: Politik

Ideen


Der Schriftsteller Clemens J. Setz ist völlig hingerissen von dem Bildprogramm Dall-E, eine KI, die jede beliebige Texteingabe in ein Bild verwandeln kann. Zum Beispiel das "A Bao A Qu" aus Jorge Luis Borges' "Libro de los seres imaginarios", "das auf der Treppe des 'Siegesturms' wohnt und nur dann lebendig wird, wenn ein Besucher die Treppe hochsteigt", so Setz, der es auf Twitter bei dem Kognitionsforscher Joscha Bach gefunden hat. Und dann ist das Programm noch in seiner ganz unschuldigen, spielerischen Phase. Sex ist ihm unbekannt, was zum Entzücken von Setz zu "ungeheuren Explosionen aus Fehldeutungen und gedanklichen Sackgassen" führt. "Wie ein kleines Kind noch vor der Aufklärung weiß es nicht, was das putzige Wort 'fucking' bezeichnen soll, stellt sich unter 'Blowjob' logischerweise etwas mit gepusteter Luft vor und liefert, wenn man etwas connaisseurhaftere Ideen wie 'a man enjoying cock and ball torture' eingibt, das Bild eines Mannes mit Krawatte, vor dem ein Fußball und ein Hahn in der Luft schweben, deren Zudringlichkeit er würdevoll erträgt. Und das Wort 'assfuck' liefert - man staunt - lauter Wesen aus derselben herrlichen Fabeltiertruhe wie aus dem 'Buch der imaginären Wesen' von Borges! Sie sind so schön, so mysteriös, man möchte ihnen sofort Namen geben!" (Für Dall-E muss man sich anmelden, Dall-E mini kann man dagegen sofort benutzen)
Archiv: Ideen