9punkt - Die Debattenrundschau

Ein solches amphibisches Leben

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.06.2022. Am Tag 113 des Krieges war Olaf Scholz nun in Kiew - und das war ein historischer Tag, finden die Zeitungen. Putin zerstört mit seinem Krieg auch alles, was von russischer und "postsowjetischer" Softpower geblieben ist, schreibt Ivan Krastev in der Financial Times. Der Krieg darf nicht anfangen, uns zu langweilen, warnt Nick Cohen im Jewish Chronicle. Ebenfalls im Jewish Chornicle: Empörung über Amnesty International, deren Vorsitzende jede Kritik an ihrem Apartheids-Vorwurf gegen Israel als Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs zurückweist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.06.2022 finden Sie hier

Europa

Am Tag 113 des Krieges sind Olaf Scholz, Mario Draghi, Emmanuel Macron und Klaus Iohannis nun nach Kiew gereist, so oder so ein historischer Tag. Die versprochene Aufnahme der Ukraine in die EU wird alles andere als einfach, besonders auch für die EU selbst, fürchtet Anna Lehmann in der taz: "Das Votum des EU-Quartetts für den Beitritt der Ukraine zeigt aber nun, dass man willens ist, nach gemeinsamen Wegen zu suchen. Daran können die Ukrainer:innen Deutschland und die EU in den nächsten Monaten messen - erst recht, wenn der Krieg sich hinzieht und es vor allem um weitere militärische und humanitäre Unterstützung geht." Berthold Kohler kommentiert in der FAZ: "Die Ernennung zum Kandidaten wird die Kampfmoral der Ukrainer stärken. Mehr als den üblichen Beitrittsprozess kann die EU aber nicht anbieten. Auch für dieses geschundene Land sollte es keine Absenkung der Bedingungen geben, die jeder Kandidat zu erfüllen hat."

Der Krieg gegen die Ukraine war populär, solange die Medien eine David-gegen-Goliath-Geschichte erzählen konnten, aber nun ermüdet das Publikums angesichts einer Pattsituation, die den Angegriffenen ungeheure Opfer kostet. Aber sich jetzt vom Krieg abzuwenden, wäre fatal, schreibt Nick Cohen im Jewish Chronicle, denn "sollte Moskau gewinnen, werden wir in ständiger Angst vor einem Krieg und all den finanziellen und psychologischen Kosten leben, die mit der unvermeidlichen Wiederaufrüstung einhergehen würden. Anstatt darüber zu debattieren, was zu tun ist, wenn Putin eine Atomwaffe gegen ein ukrainisches Ziel einsetzt, werden wir uns fragen, was zu tun ist, wenn er ein Nato-Land angreift und die Tür zum Dritten Weltkrieg öffnet."

Putin zerstört mit seinem Krieg auch alles, was von russischer und "postsowjetischer" Softpower geblieben ist, schreibt Ivan Krastev in der Financial Times. Das gilt in erster Linie natürlich für die Ukraine selbst: "Vor der Annexion der Krim durch Russland lebten viele russischsprachige Menschen in der Ukraine ihr Leben, ohne sich fragen zu müssen, ob sie Russen oder Ukrainer sind. Ihre Pässe legten ihre Identität nicht fest." Und es gilt sogar für Russland selbst: "Vor dem Krieg dachten und handelten die Moskauer Mittelschicht und Putins Oligarchen so, als gehörten sie sowohl zur russischen als auch zur westlichen Welt. Ein solches 'amphibisches' Leben ist nicht mehr möglich. Verbarrikadierte Identitäten treten an die Stelle vielfältiger Zugehörigkeiten. In Russland definiert sich das "Russisch-Sein" jetzt durch echte oder vorgetäuschte öffentliche Unterstützung für Putins Krieg gegen den Westen. Im Westen wird Russischsein zunehmend damit gleichgesetzt, nicht zum Westen zu gehören. Viele Russen, die außerhalb Russlands leben, fühlen sich heute wie Exilanten."

Beängstigende Zahlen nennt mal wieder Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne aus der Türkei: "Bei Ihnen wurde Treibstoff binnen eines Jahres um rund 30 Prozent teurer, bei uns um 300 Prozent. Bei Ihnen hat die jährliche Inflationsrate 8 Prozent erreicht. Bei uns selbst laut der vom Palast manipulierten Zahlen 73,5 Prozent. Wobei unabhängige Wissenschaftler sie auf 160 Prozent beziffern. 85 Prozent der Bürger klagen, sie kämen nicht mehr über die Runden. Die Zahl jener, die angeben, ihr Einkommen decke ihre Ausgaben, ist auf 15 Prozent gesunken."
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Medien

Das ist Stoff für deutsche Twitter-Blasen! Die Journalistin Judith Sevinç Basad, nicht gerade beliebt bei linken Twitterern, erklärt in einem offenen Brief, warum sie bei der Bild-Zeitung kündigt - wegen einer direkte Attacke des Springer-Chefs Mathias Döpfner, der sich neulich von einem die Trans-Bewegung kritisierenden Text in der Welt distanziert hatte (unser Resümee): "Der Grund für meine Kündigung ist am Ende der Umgang von Axel Springer, also auch Ihr Umgang, mit der woken Bewegung. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht mehr über die Gefahren berichten kann, die von dieser gesellschaftlichen Bewegung ausgehen. Und ich habe das Gefühl, das der gesamte Verlag in dieser Sache nicht mehr hinter mir steht."
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Kulturpolitik

Das Humboldt-Forum soll ja ein Haus der Weltkulturen seien. Dummerweise befindet es sich in einer Stadtschlossattrappe, deren kreuzbekrönte Kuppel die Aufforderung ziert, dass "in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden." Davon soll sich eine Tafel auf dem begehbaren Dach distanzieren. Andreas Kilb schlägt in der FAZ aber stattdessen eine Triggerwarnung vor dem Haupteingang des Forums vor: "Liebe Besucher, das Gebäude, vor dem Sie stehen, ist kein Schloss, aber auch nichts anderes. Die deutsche Kulturpolitik hat es errichten lassen, ohne genau zu wissen, was sie damit anfangen will. Auch wir wissen es nicht, aber wir haben die Aufgabe, es zu bespielen."
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Stichwörter: Humboldt Forum

Religion

Heike Schmoll schildert in der FAZ das komplexe Institutionengefüge um das Abraham-Geiger-Kolleg, an dem massive Vorwürfe wegen sexueller Belästigung durch den Ehemann des Leiters, Walter Homolka, laut wurden (unsere Resümees). Das Geiger-Kolleg galt zumindest außerhalb jüdischer Kreise als der Stolz des liberalen Judentums in Deutschland. Nun gibt es eine Kaskade der Weiterungen und Untersuchungen: "Weil in Potsdam bei der Rabbinerausbildung alles mit allem zusammenhängt, hat der Zentralrat der Juden angekündigt, dass die Gutachter auch in der Leo Baeck Stiftung, dem Zacharias Frankel Kolleg, dem Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk, der Union progressiver Juden und der Allgemeinen Rabbinerkonferenz tätig werden, also in allen Institutionen, in denen Homolka eine führende Rolle spielte."
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Gesellschaft

Amnesty International hat in seiner Kampagne gegen den "Apartheidstaat" Israel nachgelegt, berichten Felix Pope und David Rose im Jewish Chronicle. Zu diesem Vorwurf hatte die einst renommierte Menschenrechtsorganisation vor einigen Monaten einen Bericht vorgelegt (unser Resümee). Nun hat Agnès Callamard, die Generalsekretärin von Amnesty International gesagt, dass all jene, die den Bericht 'Apartheid Israel' kritisieren, 'den Antisemitismus-Vorwurf als Waffe einsetzen'. Agnès Callamard gebrauchte diese polarisierende Formulierung am Dienstag bei einem Treffen in London unter dem Motto 'Israels Apartheid gegen Palästinenser -  Wie man diese Ungerechtigkeit beseitigen kann'."

Der ehemalige Grünen-Politiker Volker Beck ist neuer Präsident der deutsch-israelischen Gesellschaft. Im Gespräch mit Ayala Goldmann von der Jüdischen Allgemeinen spricht er auch über das Thema BDS: "Für mich gilt: Boykottiert die Boykotteure! Wer sich am Boykott Israels beteiligt, muss damit rechnen, dass er es mit uns zu tun bekommt. Wir müssen aber auch nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, das einer BDS-nahen Veranstaltung in München städtische Räume zugesprochen hat, eine neue rechtspolitische Strategie entwickeln, wie wir BDS ein Schnippchen schlagen können."
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