9punkt - Die Debattenrundschau

Zeichen von hoher Symbolkraft

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.06.2022. Ist die der Ukraine versprochene EU-Perspektive die richtige Entscheidung? Es gibt skeptische und befürwortende Kommentare. Die ukrainische Rechtsanwältin Kateryna Busol berichtet in der taz über drastischste Verbrechen sexualisierter Gewalt an der ukrainischen Bevölkerung. Das Team von Nawalny zeigt in einem neuen Video die Datscha von Alexej Miller - das ist der Mann, der uns das Gas abstellt. Außerdem: Ärger um eine Veranstaltung des Goethe-Instituts in Hamburg, das einen Sprecher auslud.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.06.2022 finden Sie hier

Europa

Recht skeptisch kommentiert Eric Bonse in der taz die EU-Perspektive der Ukraine, während Olaf Scholz bei seinem Kiew-Besuch in der Waffenfrage mal wieder vage blieb. "Wird die Ukraine das neue Zypern, mit verlorenen Gebieten und Grenzzäunen? Holt sich die EU einen unlösbaren Konflikt ins Haus, noch dazu mit dem atomwaffenstarrenden Angstgegner Russland? Und sind die Länder des Westbalkans die Dummen, finden sie erst Gehör, wenn es wieder knallt? Das sind die Fragen, die die Staats- und Regierungschefs beantworten müssen, wenn sie am kommenden Donnerstag und Freitag in Brüssel zum Gipfel zusammenkommen. Dann steht die Erweiterungspolitik ganz oben auf der Tagesordnung." Barbara Oertel schreibt dagegen ebenfalls in der taz: "Schließlich geht es für die Ukraine um die existenzielle Frage: Sein oder Nichtsein. Und um ein Zeichen von hoher Symbolkraft, das gerade in Kriegszeiten nicht zu unterschätzen ist."

Auch Welt-Autor Thomas Schmid warnt vor der EU-Perspektive. Auch in der EU gebe es ein Beistandsversprechen: "Wäre die Ukraine heute Mitglied der EU, wäre diese vertraglich verpflichtet, einen Krieg gegen Russland zu führen - ohne dass die Ukraine Mitglied des Verteidigungsbündnisses Nato wäre. Wer den schnellen EU-Beitritt der Ukraine will, sollte sich über diese Konsequenz im Klaren sein. Es gibt gute Gründe für die Reihenfolge Nato-Beitritt und erst dann EU-Mitgliedschaft."

Schmids Artikel ist mit einer seltsamen Karte illustriert:

Bildunterschrift bei welt.de: "8.000 Kilometer - die Europastraße E40 von Calais bis in die Ukraine." Wer die Karte benutzt, ist am Ende aber aus Versehen bis nach Kasachstan gefahren.


Stefan Kornelius findet in der SZ, dass die EU hier eine richtige Wette eingeht. "Die Botschaft des Kandidatenstatus lautet: Diese EU traut sich zu, dass ihr Demokratisierungs-, Wohlstands- und Beistandsversprechen für wirklich alle Staaten Europas funktioniert, also selbst für ein Land, das momentan im schlimmsten europäischen Krieg seit 1945 steht und das gravierende innenpolitische Verwerfungen und Dysfunktionalitäten aufweist."

Die ukrainische Rechtsanwältin Kateryna Busol berichtet im Gespräch mit Patricia Hecht von der taz über drastischste Verbrechen sexualisierter Gewalt, die Kindern, Soldaten und Soldatinnen von russischen Tätern angetan wurden. Die Täter werden wohl meist damit durchkommen, denn schon in der Normalität sind solche Verbrechen besonders schwer juristisch dingfest zu machen: "Strafverfolger:innen sind daran gewöhnt, mit bestimmten Beweisen zu arbeiten - im Fall von sexualisierter Gewalt zum Beispiel mit medizinischen, die aber innerhalb von 72 Stunden erbracht sein müssen. Wie soll das gehen, wenn eine Person in besetzten Gebieten lebt oder ein halbes Jahr lang festgehalten wird? Danach braucht sie noch mal ein halbes Jahr, um sich so weit zu stabilisieren, dass sie über die Geschehnisse sprechen kann. Es braucht also eine Veränderung im Vorgehen von Akteur:innen und Ermittler:innen: Sie müssen sich stärker auf Betroffene, Zeug:innen und Open-Source-Material verlassen."

(Via Spiegel) Das ist die Datscha des Mannes, der uns gerade das Gas abstellt. Das Team von Alexej Nawalny erzählt in einem neuen neunzigminütigen Video auf Youtube die Geschichte Alexej Millers, eines engen Kumpels von Wladimir Putin, den dieser 2000 zum Gazprom-Chef machte - Miller hält damit sozusagen Putins größte Kriegskasse, korrumpierte damit die Schröders und co. und bedient mit den Gazprom-Milliarden viele andere Oligarchen und natürlich seine Familie:

Das Haus wurde in einem westlichen Vorort von Moskau gebaut. Foto: miller.navalny.com 





Die französische Russland-Expertin Françoise Thom fasst bei Desk-russie.eu das den Westen korrumpierende Putinsche Geschäftsmodell zusammen: "Kontrollwahn bestimmte die wichtigste wirtschaftliche Entscheidung von Präsident Putin: Er setzte alles auf den Verkauf von Öl und Gas sowie anderer Rohstoffe, die ebenfalls unter der Kontrolle der herrschenden Gruppe standen. Die Exporte werden so getätigt, dass eine doppelte Abhängigkeit entsteht: die Abhängigkeit der russischen und ausländischen Oligarchenelite, die an diesem lukrativen Geschäft teilhaben darf, wenn sie sich dem Kreml unterwirft, und die Abhängigkeit der Abnehmerländer, in denen sich eine hoch bezahlte pro-russische Lobby an die Spitze des Staates katapultiert und in die Lage versetzt wird, alle von Moskau als unerwünscht erachteten Entscheidungen zu blockieren und die als wünschenswert erachteten durchzusetzen."

Der Politologe Johannes Varwick beklagt in der FAZ in der Debatte um den Ukraine-Krieg einen "Verlust an Grautönen": Wer sich nicht augenblicklich dem Mainstream anschließe, der gelte in diesem Lande inzwischen als "fringe". "Wenn etwa jenen, die sich erlauben zu fragen, ob Waffenlieferungen an die Ukraine nicht eher Konfliktbeschleuniger sind, unterstellt wird, sie folgten damit dem russischen Narrativ, und wenn sie gar als 'Putinfreunde' diffamiert werden, dann wird eine rationale strategische Diskussion verunmöglicht. Denn natürlich kann es auch sein, dass mit Waffenlieferungen ein womöglich aussichtsloser Kampf der Ukraine nur verlängert oder blutiger wird."

Varwicks Intervention bei Maischberger war in den sozialen  Medien recht umstritten:

Morgen ist die zweite Runde der Parlamentswahlen in Frankreich. Das Linksbündnis Nupes unter Jean-Luc Mélenchon wird aufgrund des Mehrheitswahlrechts weit mehr Sitze bekommen als die konkurrierende Rechtspopulistin Marine Le Pen, die dennoch stärker abschneiden wird als zuvor. Mélenchon hofft, für Macron als Premierminister unumgänglich zu sein, berichtet Michael Wiegel in der FAZ: "Besonders mit Blick auf die grüne Wählerschaft möchte Mélenchon frühere Äußerungen zu Putin und Russland gern vergessen wissen. Den russischen Militäreinsatz in Syrien hatte er damals gelobt. 'Sie werden das Problem regeln und die Terrororganisation Islamischer Staat eliminieren', sagte er. Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung von Aleppo nannte er 'nordamerikanische Propaganda'."

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Medien

Die britische Innenministerin Priti Patel  hat für eine Auslieferung Julian Assanges an die USA optiert, eine Entscheidung, gegen die immer noch Rechtsmittel möglich sind. Patel hätte auch im Sinne der Pressefreiheit entscheiden können, sagt der Guardian in seinem Editorial: "Ihre Vorgängerin Theresa May hat das Auslieferungsverfahren von Gary McKinnon, der das US-Verteidigungsministerium gehackt hat, eingestellt. Das Vereinigte Königreich hätte entscheiden können, dass Assange ein unannehmbar hohes Risiko einer langen Einzelhaft in einem US-Hochsicherheitsgefängnis droht. Stattdessen hat Frau Patel der Pressefreiheit und der Öffentlichkeit, die ein Recht darauf hat, zu erfahren, was ihre Regierungen in ihrem Namen tun, einen Schlag versetzt."
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Ideen

Gerade hatte das vom Auswärtigen Amt mitgetragene Haus der Kulturen eine Konferenz zu der Frage veranstaltet, wie die Rechte den Holocaust instrumentalisiert ("Hijacking Memory", unsere Resümees), da kommt schon die nächste Konferenz des Goethe-Instituts, "Beyond the Lone Offender - Dynamiken der globalen Rechten" im Hamburger Kulturzentrum Kampnagel. Die Veranstaltung beschäftigt sich mit dem dreißigsten Jahrestag der Pogrome von Rostock-Lichtenhagen, hier die Website. Schon vor der Veranstaltung kommt es zu einem kleinen Eclat, weil das Goethe-Institut den palästinensischen Dichter Mohammed El-Kurd ausgeladen hat. Das Institut begründet die Ausladung in einem Twitter-Thread: "Nach reiflicher Überlegung hat das Goethe-Institut entschieden, dass Mohammed El-Kurd als Redner für dieses Forum nicht geeignet ist: In früheren Beiträgen in den sozialen Medien hatte er sich mehrfach in einer Weise über Israel geäußert, die das Goethe-Institut nicht akzeptabel findet."

Der Moderator Senthuran Varatharajah, der das Podium mit El-Kurd leiten sollte, sagte daraufhin ebenfalls in einem langen Twitter-Thread seine Teilnahme ab, und die postkoloniale Twitter-Blase befindet sich in heller Aufregung. Varatharajah veröffentlicht auch den Brief, den er an das Goethe-Institut geschrieben hat und in dem eine Argumentationsfigur vorkommt, die neulich auch von Claudia Roth benutzt wurde (unser Resümee): Wahrheit gilt regional, was in Deutschland antisemitisch ist, ist anderswo völlig legitim. Varatharajah schreibt: "Menschen wie El-Kurd wird abverlangt zu sprechen wie Deutsche, die einen Genozid in der jüngeren Geschichte zu verantworten hatten. Ihm wird nicht zugestanden wie jemand zu sprechen, der aufgrund seiner Identität strukturell und militärisch marginalisiert wird in seinem Herkunftsland." Die Diskussionen um El-Kurd sind schon älter, wie ein Thread der Twitter-Userin Ahsera M. zeigt.
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Gesellschaft

Nächste Woche wird der Bundestag wohl Paragraf 219a abschaffen, der es ÄrztInnen verbot, über Schwangerschaftsabbruch zu informieren. Aber Paragraf 218, der Abtreibung nach wie als Straftat behandelt, bleibt bestehen. Zwar ist Abtreibung heute nicht mehr so tabuumstellt wie in der Weimarer zeit, schreiben Patricia Hecht und Dinah Riese in der taz, aber "dass Abbrüche eine 'Straftat gegen das Leben' sind, geregelt im Strafgesetzbuch gleich hinter Mord und Totschlag, ist keineswegs nur symbolisch, sondern hat konkrete Folgen. Abbrüche finden in der Grauzone statt, haben etwas Schmuddeliges an sich, und etwas Bedrohliches. Sie kommen in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung kaum vor. Jahrzehntelang gab es keine medizinische Leitlinie für einen der häufigsten Eingriffe in der Gynäkologie, was sich erst jetzt ändern soll. Zudem müssen diejengen, die Abbrüche vornehmen, mit Belästigung durch sogenannte LebensschützerInnen rechnen."

Währenddessen: Rollback in den USA, über den Sofia Dreibach in der FAZ berichtet: "In Texas muss eine Frau, die vergewaltigt wurde und schwanger ist, das Kind dann austragen. So will es das Gesetz, das dreißig Tage nach einem möglichen Ende von Roe v. Wade gültig wird."
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