9punkt - Die Debattenrundschau

Dieses Gefühl des Verrats

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.06.2022. In Lettland soll ein Denkmal für die "Befreier Sowjetlettlands und Rigas von den deutschen faschistischen Okkupanten" abgerissen werden, berichtet die FAZ, der Streit offenbart einen tiefen Riss im Land. Die "republikanische Front" ist zerbrochen, konstatiert Le Monde nach den Parlamentswahlen in Frankreich. Don't mention the Brexit: Dass der Brexit der britischen Wirtschaft schadet, wird in der Politik des Landes gern beschwiegen, so die Financial Times. Spiegel online und New Statesman fragen, warum Putin in Lateinamerika und Indien so beliebt ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.06.2022 finden Sie hier

Europa

In Lettland soll ein russisches Siegerdenkmal - ein achtzig Meter hoher, weithin sichtbarer Obelisk - für die "Befreier Sowjetlettlands und Rigas von den deutschen faschistischen Okkupanten" abgerissen werden. An diesem Denkmal gedenken allerdings Jahr für Jahr zum 9. Mai 20.000 russischsprachige Letten ihrer verstorbenen Angehörigen. 35 Prozent der Letten sind russischsprachig. Reinhard Veser bschreibt den Streit in der FAZ: "Die Wörter Sowjetlettland und Befreiung schließen einander aus der Sicht einer großen Mehrheit der Letten aus. Die Vertreibung der deutschen Besatzer durch die sowjetische Armee 1945 war für sie keine Befreiung, sondern der Beginn einer weiteren Okkupation mit Terror gegen die Zivilbevölkerung und der Deportation Zehntausender nach Sibirien."

Es gibt gar keine Wirtschaft in Russland, schreibt Wladimir Kaminer in der taz, deshalb kann man sie auch nicht durch Sanktionen zerstören: "Das Geld in die Staatskasse kommt nicht aus der Wirtschaft, sondern direkt aus der Erde durch Verkauf von fossilen Rohstoffen, die als Abfallprodukte aus toten Pflanzen und Tieren von allein entstehen. Das Geld kommt quasi für umsonst. Was der Staat damit macht, entscheidet allein der Präsident. Die Menschen sind auf sich selbst, auf ihre Gärten und kleine Jobs angewiesen, sie sind mit dem nackten Überleben beschäftigt. Das kennen sie von früher und sind daran gewöhnt."

Friedenskämpferinnen wie Alice Schwarzer, die glauben, dass es den Ukrainern schon besser gehen wird, wenn sie sich ergeben, empfiehlt Hubertus Knabe in seinem Blog das Buch "Heller Weg" des Journalisten Stanislav Aseyev, der seine Lagerhaft in Donezk nach der Besetzung von 2014 und unerträgliche Folterszenen schildert. Knabe dazu: "Die Vorstellung, dass bei einer militärischen Niederlage der Ukraine das Leiden der Bevölkerung ein Ende finden würde, zeugt von Unkenntnis über das russische Vorgehen. Wie die seit 2014 von Moskau kontrollierten 'Volksrepubliken' Donezk und Luhansk zeigen, folgt auf den Abzug des ukrainischen Militärs nämlich keineswegs eine Periode des Friedens. Hinter der kämpfenden Truppe halten dann vielmehr Einheiten der russischen Geheimpolizei Einzug, um die eroberten Gebiete dauerhaft zu unterwerfen."

Die große Überraschung der französischen Parlamentswahlen ist die große Zahl der Sitze für die Rechtsextremen: Mit 89 Abgeordneten zieht Marine Le Pen in die Assemblée nationale ein - auf nationaler Ebene scheuen der Franzosen noch davor zurück, Rechtsextremen in der Stichwahl die Mehrheit zu geben, aber in vielen Wahlkreisen offenbar nicht mehr. "Wie wird sich der massive Einzug des RN in die Nationalversammlung auswirken, fragt Natacha Devanda bei Charlie Hebdo: "Was werden diese neu gewählten Volksvertreter tun? Zweifellos das, was sie am besten können. Herumpöbeln und politische Themen setzen. Gestern in den Medien, morgen im Plenarsaal. Für Marine Le Pens verdammt schlecht geführte und völlig verschuldete Partei bedeutet das auch frischen Wind und einen massiven Geldregen in Form von staatlichen Subventionen. Und noch mehr Mitarbeiter, Büros und Versammlungsräume..."

Auch FAZ-Korrespondentin Michaela Wiegel schreibt: "Das unter den Bedingungen des Mehrheitswahlrechts erzielte Ergebnis zeigt, wie tief die extreme Rechte in weiten Landesteilen verankert ist. Das ist erschreckend. In der Nationalversammlung bietet sich nun aber die Möglichkeit, die Argumente zu entlarven und Debatten zu führen, denen insbesondere die Präsidentenfraktion oft ausgewichen ist".

Der "Front républicain" ist zerbrochen, der darin bestand, sich auf jeden Fall darauf zu einigen, die Rechtsextremen nicht gewinnen zu lassen, schreibt Jérôme Fenoglio in Le Monde: "Die Präsidentenpartei hat ihr in der Zwischenrunde der Parlamentswahlen den Todesstoß versetzt, indem sie keine nationale Anweisung gab, die Kandidaten des RN zu schlagen, obwohl Emmanuel Macron seine Wiederwahl gegenüber Marine Le Pen zu einem guten Teil der Einhaltung dieser Disziplin zwischen den republikanischen Gruppierungen verdankt. Am Sonntag hat sich dieses Gefühl des Verrats in einem allgemeinen Zusammenbruch des republikanischen Reflexes niedergeschlagen: Umfragen zufolge haben sich die Wähler von Macrons Partei LRM ebenso wenig wie die Wähler von Mélenchons Bündnis Nupes auf den Weg gemacht, um einem RN-Konkurrenten den Weg zu versperren."

Der Brexit ist der Elefant im Raum der  britischen Politik, schreiben George Parker und Chris Giles  in einem viel beachteten Artikel in der Financial Times. Sechs Jahre nach dem Referendum stellt sich immer deutlicher heraus, dass er der britischen Wirtschaft deutlich geschadet hat - auch jenseits der Corona-Einflüsse: "Der erste und offensichtlichste wirtschaftliche Schlag durch den Brexit kam, als das Pfund Sterling nach dem Referendum im Juni 2016 gegenüber Währungen, aus denen das Vereinigten Königreich normalerweise importiert, um fast 10 Prozent fiel. Es erholte sich nicht mehr. Auf diese drastische Abwertung folgte kein Exportboom, obwohl Waren und Dienstleistungen aus dem Vereinigten Königreich auf den Weltmärkten billiger wurden, aber sie verteuerte die Importe und trieb die Inflation in die Höhe. Im Juni 2018 berechnete ein Team akademischer Ökonomen des Centre for Economic Policy Research, dass der Brexit einen Inflationseffekt hatte, der die Verbraucherpreise um 2,9 Prozent ansteigen ließ, ohne dass die Löhne entsprechend erhöht wurden."
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Politik

Mit Gustavo Petro ist in Kolumbien erstmals eine ehemaliger Guerillero zum Präsidenten gewählt worden, berichtet Katharina Wojczenko in der taz. Noch symbolhafter ist die Wahl Francia Márquez' als erster Afrokolumbianerin zur Vizepräsidentin. Rechts und links haben sich über Jahrzehnte erbittert bekämpft, Linke wurden in Gefängnisse gesteckt und ermordet, so Wojczenko: "Ihre ersten Worte widmete die künftige erste afrokolumbianische Vizepräsidentin Francia Márquez deshalb 'allen Kolumbianerïnnen, die ihr Leben für diesen Moment gaben'. Die Umweltschützerin, Anwältin und Aktivistin verkörpert für viele die Hoffnung auf Veränderung - speziell der Schwarzen und Indigenen. 'Nach 214 Jahren haben wir eine Regierung des Volkes bekommen. Eine Regierung der Menschen mit schwieligen Händen, der einfachen Leute, der Niemande und Niemandinnen. Brüder und Schwestern, wir werden diese Nation versöhnen, Frieden schaffen, ohne Angst, mit Liebe und Freude. Auf zu Würde und sozialer Gerechtigkeit!', rief Márquez." Bernd Pickert fragt in einem zweiten Artikel, ob nun ein neuer "progressiver Zyklus" in Lateinamerika ansteht.

Warum findet Russland für seinen Krieg gegen die Ukraine so viel Unterstützung im Nahen Osten, Lateinamerika und Afrika? Neben der Sympathie von Autokraten für einen anderen Autokraten gilt eben auch: In vielen Teilen der Welt ist Putin ein Symbol des Antiamerikanismus, und der steht immer noch über allem, meint Mikhail Zygar in seiner Spon-Kolumne. "Eine unter lateinamerikanischen Politologen weit verbreitete Theorie besagt, dass sich die linken Parteien des Kontinents weigern zu glauben, dass die Berliner Mauer gefallen ist und der Kampf zwischen den beiden Lagern der Vergangenheit angehört. Sie haben Putin alle möglichen Insignien als Anführer des antiamerikanischen Lagers gegeben - Putin selbst hat in den letzten Jahren bereitwillig so getan, als sei er das Symbol der antiamerikanischen Welt schlechthin. Nach dem Tod von Fidel Castro und Hugo Chávez bleibt er das einzige noch lebende Symbol des Antiamerikanismus."

Ähnlich sieht das Bruno Maçães, ehemaliger portugiesischer EU-Minister, im New Statesman. Aber er hebt noch einen anderen Punkt hervor: In Indien zum Beispiel hat man durchaus Sympathien für einen Kolonialkrieg, wenn man der Kolonisierer ist. "Wenn Putin von der Ukraine als Eroberungsobjekt spricht, ist es offensichtlich, dass es sich um einen Krieg zwischen kolonialen und antikolonialen Kräften handelt. Der Kreml ist weniger daran interessiert, die westliche Ordnung zu stürzen, als sie in eine Zeit zurückzuversetzen, in der die Großmächte in der Lage waren, entsprechend ihrem Machtwillen zu expandieren - was der verstorbene russische Denker Lew Gumilew, ein Günstling Putins, 'Leidenschaftlichkeit' nannte. ... China und Indien haben das Gefühl, dass ihre Stärke wächst. Ihr eigener Expansionswille - ihre 'Leidenschaftlichkeit' - ist zurück. Nach der Überwindung jahrhundertelanger nationaler Erniedrigung gehört ihnen die Zukunft. VS Naipaul nannte Indien eine verwundete Zivilisation, aber die verwundete Zivilisation ist dabei, sich wieder zu behaupten. Für diese Giganten ist eine neue Ära des Kolonialismus nicht zu befürchten und könnte sogar, zumindest für einige in Delhi und Peking, willkommen sein."
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Medien

Die EU-Kommission gibt Nachrichtenagenturen im Rahmen einer neuartigen Kooperation Fördergelder und schöne Büros in Brüssel, berichtet Alexander Fanta bei Netzpolitik. Das Projekt ist heikel: "Das Geld stammt aus dem Budget der EU-Kommission für Öffentlichkeitsarbeit, aus dem auch der Sender Euronews Mittel erhält. Als Gegenleistung für die Finanzspritze sollen die Korrespondent:innen der Agenturen zweimal wöchentlich einen Nachrichtenüberblick produzieren, der eine 'paneuropäische Perspektive auf die EU-Politik' bietet. (...) Doch die Vermischung von Auftragsarbeit und redaktioneller Tätigkeit sorgt für Irritation. Denn das EU-Geld soll die Arbeit der Journalist:innen finanzieren, ist jedoch an konkrete Leistungen für die Kommission geknüpft. Wie sichern die Agenturen ihre Unabhängigkeit von der EU-Kommission, wenn diese sie für Nachrichten bezahlt?"
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