9punkt - Die Debattenrundschau

Die seltsamen Forderungen des Westens

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.06.2022. "Putin kann sich darauf verlassen, dass Energie für europäische Wohnungen immer wichtiger sein wird als die Freiheit der Ukrainer und Russen", fürchtet der belarussische Schriftsteller Sasha Filipenko in der NZZ. Der Guardian bringt ein Dossier über russische Kriegsverbrechen. Großen Widerspruch lösen Äußerungen des Scholz-Beraters Jens Plötner aus, der findet, jetzt sei genug über Waffenlieferungen an die Ukraine geredet worden. In der SZ schreibt Michael Brenner über den Mord an Walther Rathenau vor hundert Jahren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.06.2022 finden Sie hier

Europa

Gewalt gegen Zivilisten ist "seit den ersten Tagen des Krieges "ein fester Bestandteil der russischen Kriegsführung", schreibt ein Reporterteam des Guardian, das Recherchen der Zeitung zu russischen Kriegsverbrechen präsentiert. Da ist etwa die Zeugenaussage des Oleh Bondarenko, eines von nur drei Überlebenden eines Folterlagers Motyzhyn, unweit Kiews, das in den ersten Tagen des Krieges etabliert worden war. "Bondarenko sagt, er sei von russischen Soldaten geschlagen und zum Sterben zurückgelassen worden. Er hat durch die russischen Angriffe mehrere Zähne verloren, sein Oberkörper ist von Narben übersät, und seine Wirbelsäule könnte dauerhaft geschädigt sein. In einem Interview Ende April erzählte er, wie der russische Zug ihn mit verbundenen Augen zu einem Lager führte, wo die Soldaten eine grausame Routine für ihre Gefangenen eingeführt hatten. Jeden Tag wurden Zivilisten schwer geschlagen, ihre Arme verdreht und gebrochen; dann, wenn der Zeitpunkt der Ermordung näher rückte, wurde ihnen in die Hände oder Knie geschossen, um maximale Schmerzen zu verursachen, dann wurde ihnen erneut in den Bauch geschossen, bevor sie schließlich durch einen Schuss in den Hinterkopf getötet wurden."

Ziemlich ausführlich setzt sich die Osteuropahistorikerin Franziska Davies in einem Twitter-Thread mit dem Politologen Johannes Varwick auseinander, der in den Talkshows zu den Fürsprechern einer "kaltherzigen" deutschen Interessenspolitik angesichts des Ukrainekriegs geworden ist: "Man kann der Ansicht sein, dass es 'für uns' das Beste wäre, wenn die Ukraine ihre Existenz opfert, um uns die Angst vor einer atomaren Eskalation zu nehmen. Dann soll man das aber sagen und nicht allen Ernstes für sich beanspruchen, mit der Ukraine solidarisch zu sein."

Ähnliches sagt Serhij Leschtschenko, Berater im Stab Selenskis, im Gespräch mit Cathrin Kahlweit von der SZ: "Putin hat kein finales Ziel, der Krieg ist für ihn eine Art Flucht. Und wie sollte ein Exit-Plan für die Ukraine aussehen? Die seltsamen Forderungen des Westens, dass wir große Kompromisse machen müssen, sollten an Moskau gerichtet werden, nicht an uns. Wir sind bekanntlich bereit, einen Status quo ante zu akzeptieren, wenn sich die Russen aus den Gebieten zurückziehen, die sie im Krieg besetzt haben."

Großen Widersrpuch lösten auf Twitter ein paar Äußerungen des Kanzlerberaters Jens Plötner aus. Er machte bei einer Intervention in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sozusagen diskursiv den für die SPD so charakterisitischen Sprung über die Ukraine hinweg, direkt zu Russland. Wörtlich sagte er, laut Christine Dankbar in der Berliner Zeitung: "Mit zwanzig Mardern kann man viele Zeitungsseiten füllen, aber größere Artikel darüber, wie in Zukunft unser Verhältnis zu Russland sein wird, gibt es weniger." Das aber sei eine "mindestens genauso spannende und relevante Frage", über die man diskutieren solle. Seine Intervention kann man in voller Pracht auf Youtube nachvollziehen.

In der Ampelkoalition herrscht keine einhellige Begeisterung über diese Äußerungen:

Der belarussische Schriftsteller Sasha Filipenko arbeitete mehrere Jahre für den unabhängigen russischen TV-Sender Doschd. "Putin kann sich darauf verlassen, dass Energie für europäische Wohnungen immer wichtiger sein wird als die Freiheit der Ukrainer und Russen", sagt er im NZZ-Interview mit Roman Bucheli: "Ich glaube, Putin wird einfach schauen, wie weit Europa bereit ist, seinerseits den Einsatz zu erhöhen, und er wird darum so lange wie möglich tun, was er gerade will. Im Endeffekt besteht sein Ziel darin, wieder eine Art Sowjetunion zu etablieren, mit der Ukraine, mit Weißrussland, Kasachstan, vielleicht irgendwann auch mit dem Baltikum. Er wird so weit gehen, wie ihm Europa zu gehen erlaubt. Und mein Eindruck ist jetzt nicht, dass Europa ein wahnsinniges Problem damit hätte, wenn sich Putin die Länder holt, die zuvor zur Sowjetunion gehört haben."

Lehnte Polen 2015 die Aufnahme syrischer Flüchtlinge 2015 noch mit aller Macht ab, ist die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung gegenüber ukrainischen Flüchtlingen seit Beginn des Krieges ungebrochen, notiert Thomas Schmid in der Welt - trotz des historisch belasteten Verhältnisses zwischen Polen und Ukrainern: "Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs begann in Ostgalizien, besonders in Lemberg, ein polnisch-ukrainischer Bürgerkrieg zwischen der jungen Polnischen Republik und der soeben gegründeten Westukrainischen Volksrepublik. Die dort lebenden ethnischen Polen wollten den Anschluss an Polen, die Ukrainer in ihrer Mehrheit eine polenfreie Ukraine. Der Bürgerkrieg wurde blutig ausgetragen. Und es kam dabei auch zu Massakern an der jüdischen Bevölkerung, die meist versuchte, in diesem ihr fremden Konflikt neutral zu bleiben. Während sich viele galizische Polen den Anschluss an Polen wünschten, sahen viele Ukrainer in den Polen Fremdlinge. Und später wurden viele Polen wiederum Opfer des jungen ukrainischen Nationalismus. Etwa während der Zeit der Besetzung der Ukraine durch die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg."
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Geschichte

Die SZ bringt eine Seite zum hundertsten Jahrestag der Ermordung Walther Rathenaus. Jüdische Politiker sind stets von Antisemitismus umstellt, schreibt Michael Brenner, Professor für jüdische Geschichte und Kultur in München und Washington, Rathenau nützte es nicht, dass er bis zur Selbstverleugnung assimiliert war. Drei prominente jüdische Politiker wurden in der Weimarer Zeit umgebracht: Rosa Luxemburg, Kurt Eisner und Rathenau. "In gewissem Sinn waren die Attentäter langfristig durchaus erfolgreich. Eisner sollte mit Ausnahme seines Zeitgenossen Paul Hirsch in Preußen der einzige Jude bleiben, der den Titel eines Ministerpräsidenten eines deutschen Flächenstaates trug - und zwar bis heute (lediglich Hamburg hatte als Bundesland mit Herbert Weichmann in den Sechzigerjahren einen jüdischen Bürgermeister). Und nach der Ermordung Rathenaus gab es auch nie wieder einen jüdischen Politiker von Rathenaus Rang aufs Reichsebene." Und Brenner bennent einen erstaunlichen Umstand in der deutschen Gegenwart: "In den deutschen Bundesregierungen gab es bis heute keinen einzigen jüdischer Minister, und im Bundestag saßen in mehr als sieben Jahrzehnten mit Peter Blachstein, Jakob Altmaier und Jeanette Wolff nur drei sich zum Judentum bekennende Abgeordnete."

Thomas Hüetlin, Autor eines Buchs über den Mord an Rathenau, versucht eine Linie zu ziehen zwischen diesem Mord, der von Erwin Kern geplant wurde, und dem heutigen Putinismus. "Nicht umsonst fordert Björn Höcke ein sofortiges Ende der Sanktionen gegen Russland. Kern und seine Verschwörer waren eine Art Avantgarde des Faschismus, der Deutschland später in den Abgrund stürzen sollte, Putin ist der späte Nachfahre solchen Denkens."
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Gesellschaft

In Kroatien dürfen Abtreibungen nach der zehnten Woche vorgenommen werden, wenn eine Störung der Gesundheit des Kindes oder der Mutter vorliegen, dennoch weigern sich Kliniken, schreibt der in Montenegro geborene Schriftsteller Ilija Đurović in der Berliner Zeitung. In Montenegro wiederum wird vor "selektiver Abtreibung" gewarnt, da vermehrt weibliche Föten abgetrieben werden: "In den patriarchalischen Teilen der montenegrinischen Gesellschaft wird das männliche Kind immer noch als wertvoller angesehen als das weibliche. Ein männliches Kind ist eines, das als Erbe den Familiennamen weiterführen, das Haus bewachen und das Land in einem etwaigen Krieg verteidigen wird. Für ein weibliches Kind hingegen gibt es in den traditionellen Gemeinschaften den Begriff 'das Abendessen von jemand anderem'. (...) Aus diesem Grund ist die illegale Abtreibung weiblicher Kinder in Montenegro schon seit Langem ein Thema. Das Netzwerk dafür ist gut ausgebaut. Auch in Montenegro gilt eigentlich das Gesetz, dass die Abtreibung eines gesunden Fötus nach der 10. Woche verboten ist. Da das Geschlecht bis dahin nicht bestimmt werden kann, verweisen manche Gynäkologen ihre Patientinnen an bestimmte Kliniken in Serbien, die bereit sind, einen invasiven Test durchzuführen, um das Geschlecht des Kindes vor der 10. Woche herauszufinden."
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Stichwörter: Abtreibung, Serbien, Kroatien

Ideen

In den postkolonialistischen Debatten der letzten Jahre war zwar immer der Westen an allem Schuld, aber nun zeigt sich, das auch Russland ein kolonisierendes Imperium war, dem Aleida Assmann in Zeit online eine entsprechende Wende verordnet: "In Putins Welt fand der lange Prozess der Dekolonisierung, der das 20. Jahrhundert begleitete, nicht statt. Für ihn hat der Begriff des Imperiums nichts von seiner Strahlkraft verloren. Diese entspringt einer politischen Nostalgie, mit der er die Verlusterfahrung von Macht kompensiert. Die Anerkennung von Gewalt und Repression, die inzwischen weithin im Bewusstsein der ehemaligen Kolonialstaaten angekommen ist, ist beim russischen Präsidenten ausgeblieben. Hier zeigt sich eine eklatante geschichtspolitische Schieflage, die in den Kalten Krieg zurückgeführt und ihn in einen heißen Krieg verwandelt hat."
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