9punkt - Die Debattenrundschau

Wer in Russland BMW fährt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.06.2022. Anfang April war es zunächst nur eine Meldung: Der Fotograf Maksim Levin sei in der Nähe von Kiew russischer Bombardierung zum Opfer gefallen. Nun stellt sich heraus, dass er exekutiert wurde - die "Reporter ohne Grenzen" bringen dazu ein Dossier. In Berlin soll ein "Dokumentationszentrum Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa" entstehen - die FAZ bescheibt das Konzept. Das Problem mit Israel ist konstitutiv für den postkolonialen Diskurs, konstatieren Tagesspiegel und FAZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.06.2022 finden Sie hier

Europa

Es war zunächst nur eine Meldung. Der Fotoreporter Maksim Levin sei bei einer Bombardierung durch die russische Armee nördlich von Kiew ums Leben gekommen (unser Resümee). Er war seit März vermisst, seine Leiche wurde Anfang April gefunden. Nun stellt sich heraus, dass Levin, ähnlich wie der Dokumentarfilmer Mantas Kvedaravičius (unser Resümee) von den Russen exekutiert wurde. Levin war zusammen mit dem Soldaten Oleksij Tschernyschow unterwegs, der ebenfalls umgebracht wurde. Die Organisation "Reporter ohne Grenzen" legt dazu ein umfassendes Dossier (hier als pdf-Dokument) vor und berichtet online. Der Tatort wird in dem Bericht so beschrieben: "Levins Auto war in Brand gesetzt worden. Es hatte Einschusslöcher. Nur die Beifahrertür war offen. Der Kofferraum des Wagens war geschlossen. Tschernyschows Leiche lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, in der Nähe der offenen Autotür. Ein Großteil der Leiche war verbrannt. Die Leiche von Maks Levin lag auf dem Rücken. Sie wies keine Brandspuren auf. Es waren drei Einschüsse zu sehen, einer in die Brust und zwei in den Kopf. Levins Mobiltelefon, Papiere, Schuhe und kugelsichere Weste wurden nicht gefunden und waren wahrscheinlich gestohlen worden."

Ruslan Grinberg, langjähriger Berater von Michail Gorbatschow und aktuell Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Wirtschaft der russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau, hat Russland verlassen. "Gorbatschows Vermächtnis ist an die Wand gefahren. Nach dem 24. Februar ist keine Annäherung mehr möglich", sagt er im Gespräch mit Lena Fiedler (Berliner Zeitung). Die Verantwortung für die Entwicklung Russlands tragen für ihn "diejenigen, die mehr oder weniger aktiv die Reformen unterstützt haben", meint er: "Durch die negativen Folgen der Reformen haben sich viele an den angeblichen Wohlstand in der UdSSR erinnert. Das war in der DDR ganz ähnlich. Wir Russen waren uns des morgigen Tages sicher. Aber der Tag hat uns nicht gefallen. (...)  Aber auch der Westen hat Fehler gemacht. Dieser oberlehrerhafte Ton zum Beispiel. Die Putinversteher wurden durch die Putinhasser verdrängt."

Die EU berät in diesen Tagen. Der Beitritt der Ukraine in die EU ist begrüßenswert, stellt die EU aber auch vor Probleme, schreibt der Politologe Michael W. Bauer in der Welt: "Polen und Ungarn zersetzen in einer unrühmlichen Partnerschaft die demokratischen Standards der EU. Weil Gegenmaßnahmen Einstimmigkeit erfordern, können die beiden sich gegenseitig vor (härteren) Konsequenzen schützen.Was also, wenn in einem Neumitglied Ukraine dereinst ähnliche illiberale Machtverschiebungen stattfinden? Zur Erinnerung: Wir sprechen von einem Land mit endemischer Korruption. Einem Land, dessen junge demokratischen Institutionen von Oligarchen bedroht, viele sagen gar beherrscht werden."

Schwierig, ja tragisch gestalten sich für Nordmazedonien die Verhandlugnen zum EU-Beitritt. Erst verlangte Griechenland die Namensänderung, nun kommen demütigende Bedingungen aus Bulgarien. Der nordmazedonische Politiloge Zoran Nechev sagt im Gespräch mit Jana Lapper von der taz: "Offiziell unterstützen die Regierungen von Albanien, Nordmazedonien und Montenegro die EU-Bewerbung der Ukraine - genauso wie die Öffentlichkeit. Heimlich denken sich aber viele auf dem Westbalkan: Okay, ihr könnt den Status als Beitrittskandidat haben, aber schaut euch die Sackgasse an, in der wir uns seit Jahren befinden. Euch wird es nicht anders ergehen. Montenegro verhandelt schon seit zehn Jahren und hat noch nicht einmal die Hälfte geschafft. Wenn die EU glaubwürdig sein will, muss sie zuerst glaubwürdig gegenüber dem Balkan sein.

Es war ja bekannt, dass die deutsche Autoindustrie prächtig an russischen Verbrechern verdient, aber nicht unbedingt, was für Symbole sie schafft. Der belarussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch zeichnet in seinem Roman "Revolution" ein düsteres Bild des postsowjetischen Russland, und dazu gehören die deutschen Autos, wie er im Gespräch mit Peter Kümmel in der Zeit erläutert: "Wer in Russland BMW fährt, von dem kann man erwarten, dass er sich im Verkehr wie ein Arschloch benehmen wird, er wird etwa regelwidrig die Spuren wechseln, wie es ihm passt. Aber diese Automarke bedeutet auch, dass der Fahrer vermutlich ein gefährlicher Mensch, ein Gangster ist. Und so wird jedes deutsche Auto auf seine eigene Art gelesen. Der Mercedes-Mann verkörpert Macht und Druckausübung. Und der Zustand seines Autos ist ihm egal: Er holt sich sowieso jedes Jahr ein neues."
Archiv: Europa

Geschichte

In Berlin soll ein "Dokumentationszentrum Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa" entstehen, im Bundestag kommt das Projekt in diesen Tagen zur Sprache, berichtet Andreas Kilb in der FAZ. Konzipiert wird es von Raphael Gross, dem Direktor des Deutschen Historischen Museums: "Die ständige Ausstellung ist nicht nach Ländern und Regionen sortiert, sondern in neun Themenbereiche unterteilt, darunter 'Raub', 'Lager', 'Hunger' und 'Kulturzerstörung'. Auch der Schoa und dem Völkermord an den Roma sind eigene Sektionen gewidmet, das Thema Kollaboration erscheint unter 'Angebote und Zwang zur Zusammenarbeit'. Man kann diese Aufteilung als schubladenhaft kritisieren, aber sie entspricht der Logik des Projekts. Das eigentliche Gedenken kann nur dort stattfinden, wo die Untaten geschahen. In Berlin muss es darum gehen, die Besatzungsherrschaft nach der Art der verübten Verbrechen aufzuschlüsseln, wie bei den Anklagepunkten in einem Prozess."

Die Hetze gegen Walther Rathenau begann schon Monate vor dem Anschlag der rechtsextremen Terroristen aus besten Kreisen, erzählt die Rathenau-Biografin Shulamit Volkov in einem Porträt für die Zeit: "Antisemiten attackierten ihn als Juden, andere wollten in ihm unbedingt einen Kriegsprofiteur, einen skrupellosen Kapitalisten, einen Volksfeind sehen. Seit 1920 folgte eine Todesdrohung der anderen. Doch Rathenau ignorierte sie alle. Verflogen waren jetzt seine depressiven Anfälle, seine Zwiespältigkeit und sein Zögern, der nagende Selbstzweifel. Rathenau war ruhig und entschlossen und konzentrierte sich geradezu stoisch auf seine Arbeit: die Zerrissenheit Deutschlands zu kitten und das Land zu stabilisieren."
Archiv: Geschichte

Medien

Jochen Bittner widmet in der Zeit der Woke-Werdung Mathias Döpfners, die zur Kündigung der Bild-Redakteurin Judith Sevinc Basad führte, eine ganze Seite. Wirtschaftliche Gründe könnten eine Rolle spielen, denn Springer ist in Amerika stark engagiert, hat amerikanische Investoren und folgt deren puritanischen Compliance-Regeln: "Döpfner hat gerade erst den US-Medienrummel um den - inzwischen gegangenen - Bild-Chef Julian Reichelt überstanden, dem vorgeworfen worden war, seine Macht gegenüber untergebenen Frauen missbraucht zu haben. Erst als patriarchal, dann auch noch als transphob zu gelten, das wäre für Investoren dann vielleicht doch ein Gift zu viel." Wenn Döpfner auch noch Waffen am Arbeitsplatz zulässt, wissen wir, dass die These stimmt.
Archiv: Medien

Ideen

Im Documenta-GAU (mehr in Efeu) kulminieren Debatten, die in Deutschland seit Jahren geführt werden und die von den großen Zeitungen zunächst nur zögerlich wahrgenommen wurden, etwa die Debatte um Achille Mbembe und um den Postkolonialismus: "So schnell wird der Postkolonialismus den Juden die Singularität des Holocausts nicht verzeihen", schreibt Claudius Seidl heute in der FAZ, und "dass zum postkolonialen Denken auch ein problematisches Verhältnis zum Holocaust, zu den Juden im Allgemeinen und zum Staat Israel gehört, ist allerdings eine seiner Grundlagen." Beleg dafür sind für Seidl Autoren wie Frantz Fanon oder W.E.B Dubois, der schrieb, "dass es keine Nazi-Gräuel gebe, die die Europäer nicht seit langem den Menschen anderer Hautfarbe angetan hätten. Und in den Schriften unseres Zeitgenossen, des Kameruners Achille Mbembe, liest es sich noch immer so, als ob mit dem Holocaust der Kolonialismus nur endlich auch über die Kolonialisten gekommen sei".

In den geisteswissenschaftlichen Instituten ist die postkoloniale Position allerdings Mainstream, schreibt auch Caroline Fetscher im Tagesspiegel: "Mit dem Verweis auf Israel 'als letzte Kolonialmacht' und die Palästinenser als die letzten Kolonisierten dieser Erde sind realitätsverzerrende Diskurse an Universitäten und in der Kunstszene inzwischen gang und gäbe. Protagonisten sind akademische Berühmtheiten wie Gayatri Chakravorty Spivak, Achille Mbembe, Jasbir Puar oder Judith Butler."

Außerdem: Die deutsche progressive linke Kulturelite, die sich zunächst auf der Tagung "Hijacking Memory" im Berliner Haus der Kulturen der Welt traf (Unsere Resümees), in der darüber diskutiert wurde, weshalb radikale Israelkritiker wie der BDS in Deutschland oft als antisemitisch angesehen werden, und die im Vorfeld für die Documenta fifteen einstand, gibt sich weltoffen und universalistisch, schreibt der israelische Soziologe Natan Sznaider in der Zeit.  Aber: "Es wird leicht übersehen, dass der Wunsch nach Emanzipation und Universalismus auf eine postkolonialistische Kritik trifft, die selbst universalistischen Werten des Westens ablehnend gegenübersteht".

Autokratien haben sich modernisiert und den Mechanismen der digitalen Offentlichkeit angepasst, schreibt der bekannte Politologe Jan-Werner Müller in der Zeit: "Im 20. Jahrhundert war Emigration aus den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang bekanntlich streng verboten (und endete oft tödlich). Heute können unzufriedene Ungarn sich schnell einen Job anderswo in der EU suchen; eine unbeabsichtigte Folge der Freizügigkeit des Binnenmarktes ist, dass politischer Druck auf Autokraten sinkt. Auch Putin wird sich wohl freuen, dass in diesem Frühjahr schon fast vier Millionen Bürger das Weite gesucht haben - für Russland eine Katastrophe, für den Kreml-Herrscher weniger potenzielle Opposition."
Archiv: Ideen