9punkt - Die Debattenrundschau

Angesichts gravierender Krisen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.06.2022. Die Ukraine hat EU-Kandidatenstatus, eine historische Entscheidung, freut sich der Guardian. Heute soll der Paragraf 219a fallen: Die Ärztin Kristina Hänel erinnert in einer Presseerklärung, daran, wie er die Debatte über Abtreibung in Deutschland verzerrte. Der SZ erklärt der Historiker Volker Weiß, wie Antirassismus und Antisemitismus zusammenhängen können. In der FR erzählt Arno Widmann, wie Walther Rathenau Lenin inspirierte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.06.2022 finden Sie hier

Europa

Während deutsche Medien eher klein und fast etwas mäkelig über die EU-Entscheidung für einen Kandidatenstatus der Ukraine berichten ("wirklich versprochen hat ihnen die EU nichts", heißt es bei Spiegel online), ist die Meldung beim Guardian Aufmacher: "Dies ist eine historische Entscheidung, die dem vom Krieg zerrissenen Land die Tür zur EU-Mitgliedschaft öffnet und Wladimir Putin einen Schlag versetzt." Jennifer Renkin erläutert: "Als Selenski die Bewerbung der Ukraine um die EU-Mitgliedschaft ankündigte, waren viele Länder in Westeuropa skeptisch. Hochrangige Beamte zählten zehn Mitgliedstaaten, die sich gegen den Kandidatenstatus für die Ukraine aussprachen, aber die Stimmung hat sich geändert, da die Staats- und Regierungschefs befürchten, auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen... Bei seiner Ankunft auf dem Gipfel sagte der niederländische Premierminister Mark Rutte, er sei 'ein wenig besorgt' gewesen, dass die Kommission den Kandidatenstatus für die Ukraine überstürzen würde, gab aber zu, dass er sich geirrt habe. Die Kommission habe eine 'harte Einschätzung, brutal ehrlich mit der Ukraine' darüber erstellt, was noch getan werden müsse, um die Beitrittsgespräche zu beginnen.'"

Putin hat neulich gesagt, ein EU-Kandidatenstatus der Ukraine würde ihn nicht weiter kratzen. So hat er nicht immer geredet, erinnert sich FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt: "Als sich 2013 ein Abschluss abzeichnete, änderte sich der Ton. Mit Druck, Drohungen und einem Milliardenkredit brachte er den damaligen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch davon ab, das fertig ausgehandelte Abkommen zu unterschreiben. Die Folge waren die "Euromaidan"-Proteste und Janukowitschs Sturz im Februar 2014. Als Moskaus 'rote Linie' erschien damals nicht die Nato-Mitgliedschaft, sondern eine Annäherung der Ukraine an die EU."


Wenn Wirtschaftsminister Habeck jetzt einen einen "Notfallplan Gas" ausruft, ist das nicht nur für die Quittung für die Abhängigkeit von Putin, in die sich Deutschland begeben hat, sondern auch für eine jahrzehntelange Fehlentwicklung, schreibt Bernhard Pötter in der taz: "Öl, Gas und Kohle waren immer billig und wurden gemessen an der Kaufkraft immer billiger. Es gab keinen Druck zur Sparsamkeit. Im Gegenteil: Produkte wurden kurzlebiger und energiefressender, Transportwege länger, Autos immer dicker, Wohnungen immer größer. Mehr Effizienz wurde vom Mehrverbrauch aufgefressen: Je sparsamer die Motoren, desto größer die Autos und desto weiter die Fahrten."

Nicht alle Ukrainer im Osten verurteilen Russland, aber die meisten sprechen nicht offen darüber, weiß Sonja Zekri, die für die SZ unter anderem mit Natalja Subar vom Maidan Monitoring Information Center, einer internationalen NGO, die die Zerstörung der sozialen Infrastruktur dokumentiert, gesprochen hat:  Ihre Beobachtung: "'Wenn wir mit 150 Leuten vor den Trümmern ihrer Häuser sprechen, sind 120 von ihnen rasend vor Wut auf die Russen, 20 völlig desorientiert, und zehn ergreifen die Partei Russlands.' Sie, Subar, sehe jedenfalls wenig von der so glühend beschworenen neuen Einigkeit der Ukrainer, die nach den Worten von Politikern und auch vieler Ukrainer immerhin ein Gutes sei, das dieser Krieg gebracht habe: 'Bullshit. Die einzelnen Gruppen der Gesellschaft leben immer noch in völlig unterschiedlichen Welten. Nur wollen die patriotischen Aktivisten in der Ukraine das nicht wahrhaben.'"

Und noch was: Vor sechs Jahren wählten die Briten eine leuchtende Zukunft:

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Ideen

"Der deutsche Kulturbetrieb bietet in letzter Zeit immer mehr Foren für Antisemitismus, auch wenn er diesen in seiner neuesten Verkleidung hofiert - nämlich der Dämonisierung Israels unter postkolonialen Vorzeichen", konstatiert Jan Alexander Casper in der Welt, der die Tagung Hijacking Memory im Berliner Haus der Kulturen der Welt noch einmal resümiert. Dort hatte der palästinensische Aktivist Tareq Baconi die Holocaust-Debatte als "jüdisches Psychodrama" bezeichnet. (Unser Resümee) Die Kritik an dem Vortrag durch den Historiker Jan Grabowski hatte HKW-Intendant Bernd Scherer gegenüber Welt von sich gewiesen. "Scherers Amtszeit ist bald vorbei. Läuft alles, wie geplant, so übergibt er das schon unter seiner Ägide auf einen BDS-nahen Kurs eingeschwenkte Haus dann im Januar einem offen antiisraelischen Intendanten, Bonaventure Ndikung. Wäre das eine gute Entwicklung? Darf sich das Haus der Kulturen der Welt, mitten in der deutschen Hauptstadt, zum öffentlich bezahlten Thinktank für eine neue Form des Antisemitismus entwickeln? Und müsste die Kulturstaatsministerin und HKW-Aufsichtsratsvorsitzende Claudia Roth nicht einschreiten, wenn unter ihrer Aufsicht Räume für Judenhass entstehen?"

Es ist "keine Überraschung, dass sich Antisemitismus seit einiger Zeit vermehrt in politischen Kreisen artikuliert, die glauben, sich der Gerechtigkeit verschrieben zu haben", schreibt der Historiker Volker Weiß in der SZ: "Blickt der Rassismus gewöhnlich nach 'unten', so fürchtet der Antisemitismus im Juden eine bedrohliche Überlegenheit und wähnt sich selbst in der Position des Underdogs. Gerade dieses Merkmal öffnet das Feld für Themen, in denen es um Schwächere geht. Hinzu kommt, dass die Rassentheorie derzeit zumindest offiziell einen schweren Stand hat, während Fragen von Religion und Gerechtigkeit gerade angesichts gravierender Krisen das moralische Recht auf ihrer Seite reklamieren."

"Einige Vertreter postkolonialer Ansätze halten Antisemitismus für kein wesentliches Problem, er sei ein Kampf unter Weißen", sagt Meron Mendel im Tagesspiegel-Gespräch (hinter Paywall): "Sie tendieren zur eindimensionalen Betrachtung Israels als kolonialem Projekt. Das ist eine offene Flanke. Aber das diskreditiert nicht alle Verdienste postkolonialer Theorie. (…) Es wäre schon der Anfang, wenn man deutlicher zwischen Juden und Israelis unterscheidet. Dann musste man immer wieder überprüfen, ob in der Kritik an Israel auch auf judenfeindliche Narrative zurückgegriffen wird: beispielsweise, wenn Israelis als Blutsauger, Kindermörder oder als Strippenzieher dargestellt werden, die die Welt kontrollieren. Antisemitismus kann man als pathische Projektion definieren, als irrationales Denkschema. Wenn andererseits jedoch ein Palästinenser, der unter der Besatzung leidet, Israel kritisiert oder sogar hasst, ist das überhaupt nicht irrational. Wenn sich die Kritik nicht gegen Juden richtet, weil sie Juden sind, sondern gegen die Besatzer - die, wenn man so will, auch Juden sind."

Mehr zur Thematik im Documenta-Kontext natürlich in efeu.
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Gesellschaft

Heute soll im Bundestag der Paragraf 219a des Strafgesetzbuchs fallen. Die Ärztin Kristina Hänel hatte die Debatte um diesen Paragrafen angestoßen. In einer Presseerklärung, die bei hpd.de veröffentlicht ist, schreibt sie: "Unter dem unzutreffenden Stichwort 'Werbung' wurden sachliche und seriöse Informationen von Fachleuten, nämlich Ärztinnen und Ärzten, die Abbrüche durchführen, verboten. Jegliche unqualifizierte und irreführende Äußerung von Nicht-Fachleuten hingegen war immer erlaubt. Diese Tatsache wird von der Anti-Choice Bewegung ausgiebig ausgenutzt. Das führte jahrelang dazu, dass Betroffene zusätzlich zur persönlichen Belastung durch die ungewollte Schwangerschaft auch noch mühsam nach echten Informationen und weiterführenden Adressen suchen mussten."

Die Aktivistin Ferda Ataman von den "Neuen Deutschen Medienmachern" soll neue "Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung" werden. Diese Personalie hat viele Debatten ausgelöst. In einem offenen Brief, der unter anderem von Necla Kelek und Seyran Ates unterzeichnet ist, sprechen sich  "Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung" gegen eine Ernennung Atamans aus: "Bei der Leitung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes sollte es in erster Linie nicht um Politkrawall gehen, sondern um den Schutz der Betroffenen und die Aufklärung der Gesellschaft. Als MigrantInnen und von verschiedenen Diskriminierungsformen Betroffene fühlen wir uns von Frau Ataman nicht vertreten. Ganz im Gegenteil. Dabei gibt es zahlreiche aufgeklärte, differenzierte und unbelastete KandidatInnen, die dieses Amt übernehmen können."
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Geschichte

Arno Widmann porträtiert für die FR Walther Rathenau, dessen Ermordung vor hundert Jahren in der heutigen historischen Situation eine Menge Assoziationen auslöst. Widmann schildert Rathenau unter anderem als einen Protagonisten der deutschen Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg, was ihn wiederum an Habeck erinnert. Dann wird einem schwindlig vor lauter sich in den Schwanz beißender Katzen: "Die Pointe der Geschichte lieferte Russland. Die Revolutionäre dort hatten genau beobachtet, was in Deutschland geschah. Lenin betrachtete die von Rathenau auf die Beine gestellte Kriegswirtschaft des deutschen Reiches als eine 'Maschinerie', mit der der Kapitalismus dem Sozialismus den Weg bereitet hatte. Das Reich hatte vorgeführt, dass eine nationale Volkswirtschaft sich zentral leiten ließ, dass sie dadurch nicht geschwächt, sondern dass ihre Kräfte potenziert wurden."
Archiv: Geschichte
Stichwörter: Rathenau, Walther