9punkt - Die Debattenrundschau

Bald platzender Metallfrosch

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.06.2022. Angesichts kursierender Gerüchte, bringt die BBC einen Faktenscheck zum neuesten russischen Kriegsverbrechen in Krementschuk und entkräftet die Verlautbarungen der Putin-Sprecher. Mit einem Einfrieren des Konflikts bekäme Putin nur Zeit, die Ukraine weiter zu zerstören, schreibt Reinhard Veser in der FAZ. Der Philosoph Grigori Judin verteidigt in der NZZ die russischen Bürger gegen westliche Überheblichkeit: Die Zivilgesellschaft ist auch deshalb entkräftet, weil der Westen Putin jahrzehntelang nicht nur gewähren ließ, sondern belohnte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.06.2022 finden Sie hier

Europa

Krementschuk wird als Name des jüngsten russischen Kriegsverbrechens in Erinnerung bleiben. Während die "Tagesschau" noch meldet, dass "Russland den direkten Angriff bestreitet", hat die BBC recherchiert und bringt einen Faktenscheck zu verschiedenen zirkulierenden Gerüchten: "Das russische Verteidigungsministerium erklärte, Munition sei bei einem Angriff auf ein Waffenlager detoniert und habe das Einkaufszentrum in Brand gesetzt. Die in dem Lagerhaus gelagerten Waffen und Munition aus westlicher Produktion, die an eine ukrainische Militärgruppierung im Donbass geliefert werden sollten, wurden mit einem Präzisionsschlag getroffen', so das Ministerium... Die vom russischen Verteidigungsministerium erwähnte Fabrik befindet sich etwa 300 Meter nördlich des Einkaufszentrums. Die Gebäude sind durch eine Mauer, Vegetation und Bahngleise voneinander getrennt, so dass die Behauptung, 'sekundäre Explosionen' hätten einen Großbrand mit zahlreichen Opfern im Einkaufszentrum verursacht, unwahrscheinlich ist." Auch Bellingcat bringt eine Recherche zu Krementschuk.

Ein Einfrieren des russischen Kriegs gegen die Ukraine wäre kein Frieden, schreibt Reinhard Veser in der FAZ: "Wurde in den acht Jahren seit dem Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine an einer etwa 400 Kilometer langen Kontaktlinie im Donbass so gut wie jeden Tag geschossen, wäre das nun auf einer Länge von gut 2.500 Kilometern der Fall. Auch auf diesem Weg käme Putin mit der Zeit an sein Ziel, die Ukraine zu zerstören. Ihr freier Teil hätte unter diesen Bedingungen keine Chance auf Wiederaufbau und wirtschaftliche Entwicklung."

Der Philosoph Grigori Judin ist in Moskau geblieben, obwohl er sich gegen den Krieg ausgesprochen hat. Er scheint ein bekanntes Gesicht zu sein. In der NZZ erzählt er, wie Menschen in der U-Bahn auf ihn zutreten und ihm das Wort "Danke" zuflüstern. "Das Ganze fühlt sich seltsam an: als wäre man Mitglied eines unsichtbaren Ordens, einer riesigen, lautlosen Widerstandsbewegung, die auf ihren Moment wartet." Westlichen Freunden, die über die russische Zustimmung zum Krieg empört sind, rät er, zunächst mal auf die eigene Gesellschaft zu blicken: "Um zu verstehen, wie die Russen ticken, muss man sich nur anschauen, wie ein Gerhard Schröder, ein François Fillon oder eine Karin Kneissl ticken... Putin ist nicht plötzlich aus den sibirischen Wäldern aufgetaucht - er hat jahrelang die globalen Finanz- und Polit-Eliten korrumpiert. Seine Oligarchen haben so lange auf der ganzen Welt zügellosen Luxus und Schmeicheleien genossen, bis sie allen Grund hatten, sich als die Herren dieser Welt zu fühlen."

Die Türkei und Schweden und Finnland haben sich geeinigt. Ein Nato-Beitritt der beiden Länder wird möglich, mehr etwa im Guardian. Bülent Mumay hat seine FAZ-Kolumne zum Thema noch vorher geschrieben und beleuchtet das türkische Verhältnis zum Terrorismus: "Das Beklatschen islamistischen Terrors toleriert die türkische Justiz, geht es aber um Kurden, wird sie zum Falken. Beinahe täglich finden Operationen gegen die HDP, die Partei der Kurden, statt, um sie daran zu hindern, bei den Wahlen im kommenden Jahr den oppositionellen Block zu unterstützen."

In Paris geht der Mammutprozess zu den Attentaten im November 2015 zu Ende. Selim Nassib resümiert ihn für die taz: "Unter den jungen Adepten des französischen und belgischen Dschihadismus hat man viele Deklassierte gefunden, viele sozial Benachteiligte, kleine Dealer und Taschendiebe, die sich der Illusion hingaben, dass der 'Islam die Lösung' sei, weil ihnen das irgendein naher Verwandter erzählt hatte. Der Islamismus diente hier als ein vermeintlicher Restart in eine Art moralische Jungfräulichkeit. Indem sich diese Jugendlichen mit ihm vollkommen identifizierten und ihr früheres Leben fortan total ablehnten, gaukelten sie sich eine unsinnige und fatale Macht über 'Ungläubige' vor. Sie glaubten, grausam über Leben und Tod derer verfügen zu können, denen sie früher so unbedingt ähneln wollten."

Gerade erste juckte die Nachricht, dass an der Grenze zur spanischen Esklave Melilla Dutzende ums Leben gekommen seien (unser Resümee), die Öffentlichkeit. Parallel dazu hat ein Rechercheverbund herausgefunden, dass Griechenland Flüchtlinge einsetzt, um andere Flüchtlinge in sogenannten "Pushbacks" gewaltsam zurückzudrängen. "Es wäre in erster Linie an der EU-Kommission, gegen diese Rechtsverstöße vorzugehen", schreibt Christian Jakob in der taz: "Doch die hat viel geredet, aber praktisch nichts getan, um Länder wie Griechenland, Kroatien oder Polen an den massenhaften Pushbacks zu hindern. Die Kommission scheute den Konflikt - und versicherte stattdessen auch jenen Staaten ihre Unterstützung, die offen das europäische Flüchtlingsrecht mit Füßen treten." Jakob kann nur konstatieren: "Die Geschwindigkeit des moralischen Verfalls Europas ist atemberaubend. Immer mehr Kraft wird es kosten, diesen aufzuhalten. Kaum jemand scheint die Kraft dafür aufbringen zu wollen."
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Politik

Friederike Böge berichtet in der FAZ über die Tristesse der Stadt Hongkong, die durch die Corona-Isolierung noch verstärkt wurde. Am Freitag kommt Xi Jingping in die ehemalige britische Kolonie, um sie symbolisch in Besitz zu nehmen: "Die lokale Polizei wird vor dem Staatschef erstmals im Stechschritt aufmarschieren. Die Paradeschritte sind eigentlich ein Markenzeichen des chinesischen Militärs. Mit ihren hochfliegenden Beinen sollen die Polizisten demonstrieren, dass in Hongkong eine neue Zeit begonnen hat und dass sie die letzten Reste ihrer britischen Sozialisation abgeschüttelt haben." Die Hongkonger flüchten sich unterdessen in einen massiven und fast religiösen Kult um den Popsänger Keung To und seine Boyband Mirror.

Ein Video:



Ebenfalls in der FAZ fragt Mark Siemons: "Wer löst das Taiwan-Paradox?"

Indonesien
hat selbst eine Menge historischer Traumata, darunter die extrem brutale Kommunistenverfolgung in den sechziger Jahren, bei der - auch mit Unterstützung westlicher Geheimdienste - hunderttausende Menschen ermordet wurden. "In diesem Klima versuchen Kunstschaffende eine Sprache zu finden, um soziale Probleme darzustellen", schreibt der Südostasienkundler Timo Duile in der SZ. "Dass sie dabei mitunter leider zu antisemitischen Symboliken greifen, ist ein ernsthaftes Problem - aber nicht zwangsläufig bewusster Hass gegen Jüdinnen und Juden, der einen Vernichtungswillen offenbart oder Gleichgültigkeit gegen jüdisches Leid impliziert." Dass es allerdings Antisemitismus in Indonesien gibt, bestreitet Duile nicht, er komme zum einen aus dem islamistischen Kontext, zum anderen aus der Linken, die immer wieder antisemitische Karikaturen produzierten.
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Stichwörter: Hongkong, Taiwan, Indonesien, Corona

Medien

Während der philippinische Präsident Rodrigo Duterte abtritt, erlässt seine Regierung ein Dekret, dass  Nobelpreisträgerin Maria Ressa ihr Magazin The Rappler schließen soll, meldet axios.com: "Ressa, die sowohl philippinische als auch amerikanische Bürgerin ist, sagte in einer Grundsatzrede auf der Internationalen Medienkonferenz des East-West Centers in Honolulu, dass die philippinische Börsenaufsichtsbehörde das Dekret am Dienstag erlassen habe. Rappler werde gegen die Verfügung vorgehen."
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Stichwörter: Ressa, Maria, Philippinen

Kulturpolitik

Kunstschätze wurden an Namibia zurückgegeben, die Leitung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz reiste eigens an. In Afrika etabliert sich eine blühende Museumsszene, berichtet Werner Bloch für die FAZ aus Windhoek. Und die dortigen Museumsleute dächten nicht so fundamentalistisch wie Bénédicte Savoy: "Savoys Mantra 'Alles in europäischen Museen ist Raubkunst, gebt alles zurück nach Afrika!' wird auf dem Kontinent mit Befremden aufgenommen. Man sieht darin Auswüchse eines moralisch verbrämten Eurozentrismus und eines als unangenehm empfundenen Paternalismus. 'Frau Savoy scheint besser zu wissen, was für Afrika gut ist, als die Afrikaner selbst.' Eine Kritik, die unter Afrikas Museumsleuten immer wieder zu hören ist."
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Gesellschaft

Eines der Symptome der Klimakatastophe scheint zu sein, dass Autos immer größer werden, konstatiert Niklas Maak mit Verwunderung in der Leitglosse des FAZ-Feuilletons. Mercedes schafft zum Beispiel all seine kleineren Autoreihen ab, um sich nur auf Oligarchenprotz zu konzentrieren: "Die A-Klasse und die B-Klasse sollen wegfallen, heißt es; man mache mit ihnen nicht genug Gewinn und wolle nur noch größere, renditeträchtigere Fahrzeuge auf den Markt bringen. Für Amerika sei die A-Klasse zu klein und zu europäisch, dort mag man lieber SUVs wie den Mercedes GLE, der über 2,3 Tonnen wiegt und aussieht wie ein verärgerter, wegen Überdruck bald platzender Metallfrosch."

Frauen Abtreibungen zu verweigern, hält sie in Abhängigkeit und Armut, schreibt Susan Vahabzadeh in der SZ. Auch in Deutschland sei die Situation keineswegs ideal - und das nicht nur im Blick auf den Paragrafen 218 und den gerade gestrichenen Paragrafen 219a: "Die Realität ist in vielen Gegenden Deutschlands, dass sich Frauen im Zweifel schwertun, eine Klinik zu finden, die ihnen rasch hilft - und darauf kommt es oft an. Viele suchen Hilfe in den Niederlanden. In Deutschland kann man ja auch schlecht einen Zugang zu einem Recht fordern, das gar keines ist."
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