9punkt - Die Debattenrundschau

Unter Umgehung des Grundwehrdienstes

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.06.2022. Wird Wladimir Putin Belarus noch stärker in den Krieg hineinziehen, fragt die taz. Amnesty International weist nach, dass die Beschießung des Theaters von Mariupol ein russisches Kriegsverbrechen war. Bei commonsense.news erzählt Avi Zinger, der israelische Lizenznehmer von Ben &  Jerry's, was für absurde Auswirkungen der Israelboykott hat. Ein schwarzer Markt wird entstehen, Rechtsunsicherheit und Kriminalisierung werden zunehmen, prognostiziert die in den USA lehrende Philosophin Christine Lotz in der FR nach der Abtreibungsentscheidung des Supreme Court.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.06.2022 finden Sie hier

Europa

Barbara Oertel vermutet im Leitartikel der taz, dass Wladimir Putin künftig Belarus stärker als Basis für seine Kriegsoperationen nutzen will. Zugleich konstatiert sie, dass Putin das Kanonenfutter ausgeht: "Ein Indiz dafür ist eine Änderung des Wehrdienstgesetzes, das der Duma in dieser Woche zur zweiten Lesung vorliegt. Danach könnten junge Männer gleich nach Erreichen der Volljährigkeit oder des Schulabschlusses, das heißt unter Umgehung des Grundwehrdienstes, für die Armee rekrutiert und in den Krieg geschickt werden. Wie viele dabei auf der Strecke bleiben werden, tut nichts zur Sache, denn ein einzelnes Leben zählt in Russland nichts. Genau deshalb spricht einiges dafür, dass sich die Ukraine schon bald mit einer zweiten Front im Norden konfrontiert sehen könnte."

Amnesty International stellt einen Bericht vor, der die Bombardierung des Theaters von Mariupol als russisches Kriegsverbrechen ausweist. Die Organisation verlinkt und präsentiert den Bericht hier: "Das Crisis Response team von Amnesty International befragte zahlreiche Überlebende und sammelte umfangreiches digitales Beweismaterial. Es kam zu dem Schluss, dass der Angriff mit ziemlicher Sicherheit von russischen Kampfflugzeugen durchgeführt wurde, die zwei 500 Kilogramm schwere Bomben abwarfen, die nahe beieinander einschlugen und gleichzeitig detonierten." Auch der Guardian überprüft und widerlegt nach BBC und Bellingcat (unser Resümee) in einem Dossier russische Lügen zum Beschuss des Einkaufszentrums von Krementschuk.

In der Zeit diskutieren Angela Merkels langjähriger Chefberater Christoph Heusgen, der einstige Moskau-Botschafter Rüdiger von Fritsch, die Grüne Marieluise Beck und der Publizist Thomas Kleine-Brockhoff über die jahrzehntelange softe Außenpolitik Merkels gegenüber Russland. Heusgen findet, dass alles zum besten steht. Kleine-Brockhoff hat Zweifel: "Wir erzählen uns die Geschichte der Bundesrepublik gern als außenpolitischen Triumphzug: Westintegration, Ostpolitik, Wiedervereinigung, Globalisierung. Jetzt erleben wir den ersten Großcrash deutscher Außenpolitik. Unsere schönen Annahmen über Wandel durch Annäherung, wechselseitige Abhängigkeit, regelbasiertes Miteinander sind kaputt. Trotzdem wollen wir nichts falsch gemacht haben?"

Die Türkei hat ihren Widerstand gegen den Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens aufgegeben. Dafür verpflichten sich beide Staaten, gegen das einzutreten, was die Türkei als Terrorismus bekämpft, vor allem die PKK - islamistischer Terrorismus macht Erdogan weit weniger Sorgen. Lisa Schneider kommentiert in der taz: "Schweden und Finnland scheinen zumindest theoretisch bereit zu sein, sich den Forderungen zu beugen: Die beiden Länder werden 'alle erforderlichen Schritte unternehmen, um die innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu diesem Zweck weiter zu verschärfen'. Gestalten Stockholm und Helsinki künftig Anti-Terror-Gesetze, könnte Ankara mit am legislativen Tisch sitzen." Schon will die Türkei, dass 33 PKK- und Gülen-Anhänger ausgeliefert werden.

Deutsche Mentalität ist es, weiterzuwursteln mit russischem Gas und sich dabei als Friedensmacht zu begreifen. Die Aufmerksamkeit für den Krieg lässt dabei nach, bemerkt Welt-Autor Thomas Schmid: "Je länger der Krieg andauert, desto mehr könnte er im öffentlichen Bewusstsein an Bedeutung verlieren. Ein Indikator dafür sind heute schon die öffentlich-rechtlichen Nachrichtensender, die - vermutlich mit Absicht - den Ukraine-Krieg und die neue westliche Bündnisarchitektur inzwischen meist hinter die Innenpolitik (Energiepreise, Inflation, Covid) platzieren. Und ihn damit in seiner Aktualität und Bedeutung herunterstufen."

Außerdem: In der Zeit fordert die Friedenstruppe des Emma-Briefs (allerdings diesmal ohne Alice Schwarzer als Unterzeichnerin) Verhandlungen jetzt, auch wenn man beteuert, die bedauernswerte Ukraine nicht verloren geben zu wollen.
Archiv: Europa

Politik

Samiha Shafy unterhält sich in der Zeit mit der Aktivistin Erika Bachiochi, die sich als Feministin betrachtet und dennoch findet, dass die Abtreibungsentscheidung des Supreme Court in die richtige Richtung weise. Sie begründet das mit sozialen Argumenten: "In einem libertären System, in dem Abtreibung bis zum jetzigen Urteil des Supreme Court umfassender erlaubt war als in jedem anderen Land der Welt, drängen einen die wirtschaftlichen Gegebenheiten in Richtung Abtreibung. Arbeitsplätze, die nicht familienfreundlich sind, Gesundheitssysteme, die arme Menschen nicht unterstützen, die Vorstellung, dass die Gesellschaft nicht dafür zuständig ist, Familien zu helfen, und dann auch noch diese sehr liberale Abtreibungspolitik - all das führt Frauen in Richtung Schwangerschaftsabbruch."

Die amerikanische Verfassung steckt in der Krise, konstatiert die an der Michigan State University lehrende Philosophin Christine Lotz in einem langen Essay in der FR: "Man kann davon ausgehen, dass das Verfassungsgericht sich irgendwann wieder mit dem Problem beschäftigen wird müssen, weil zu erwarten ist, dass eines der höchsten Rechtsgüter, nämlich die Rechtssicherheit selbst, in Gefahr gerät: Während es in einigen Staaten sehr restriktive Gesetze geben wird, die teilweise sogar noch aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg stammen, wird es in anderen Staaten liberaler zugehen, was dann zur Folge hat, dass viele Frauen der ersteren in den letzteren Staaten um Hilfe bitten werden. Staaten müssen dann gegeneinander Gesetze und Verordnungen erlassen. ... Rechtsunsicherheit und die Kriminalisierung werden zunehmen. Ausgrenzung ist die Folge."

Die kolumbianische Wahrheitskommission unter Padre Francisco de Roux hat ihren Abschlussbericht vorgestellt, berichtet Katharina Wojczenko in der taz. Nach Anhörung von 30.000 Zeugen wird Bilanz gezogen: "Würden alle Opfer eine Gedenkminute bekommen, müsste 17 Jahre Stille herrschen. 80 Prozent der Opfer waren Zivilistïnnen. 450.600 Menschen sind mindestens ermordet worden." Wie der Gewaltzusammenhang zwischen Staat und Guerilla genau funktionierte, macht Wojczenko nicht klar. Hauptschuldig scheint der Staat zu sein. Der Bericht fordert aber auch "eine radikale Änderung der Drogenpolitik, vom Verbot zur einer 'verantwortungsvollen rechtlichen Regulierung', um den Drogenhandel einzudämmen, der den Konflikt befeuert hat. Kolumbien solle sich dafür auch international einsetzen. Den 'War on Drugs' erklärt die Kommission für gescheitert." Der Bericht wird auf einer eigens geschaffenen Online-Plattform präsentiert und weiter vertieft.

Avi Zinger war der Lizenznehmer von Ben & Jerry's, einer von Unilever betriebenen Speiseeis-Marke, in Israel. Er lieferte und fertigte auch in den besetzten Gebieten, mit vielen palästinensischen Arbeitnehmern. Dann beugten sich die Ben & Jerry-Gründer und der Weltkonzern dem Druck von BDS.  Bei commonsense.news erzählt Zinger seine Geschichte: "Wie können sich Unilever und Ben & Jerry's noch im Spiegel betrachten? Sie sprechen von sozialer Gerechtigkeit, werfen aber Hunderte von Mitarbeitern, die dem Unternehmen seit vielen Jahren die Treue gehalten haben, vor die Tür. Ich weigere mich, mein Volk auf diese Weise im Stich zu lassen. Und es sind die Palästinenser, die am meisten darunter zu leiden haben werden."
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Gesellschaft

Statistisch betrachtet gibt es vergleichsweise wenig islamistisch motivierte Anschläge gegen Homosexuelle in Europa, aber "laut einer Studie des Meinungsforschungsinstituts IFOP von 2019 betrachten 63 Prozent der französischen Muslime Homosexualität als eine 'Krankheit' oder 'sexuelle Perversion', bei praktizierenden Katholiken sind es 20 Prozent, bei Konfessionslosen zehn Prozent", schreibt Rainer Haubrich in der Welt. Und auch in manchen Vierteln deutscher Großstädte bewegen sich Homosexuelle nicht mehr so unbeschwert wie früher: "Es bleibt völlig unverständlich, dass die mit allen Wassern der freiheitlichen Demokratie gewaschenen Aktivisten, die inzwischen selbst mikroskopisch kleine Diskriminierungen von Minderheiten hierzulande beklagen, nicht entschiedener über die Diskriminierung von Frauen, von Juden und von queeren Menschen durch traditionalistische migrantische Milieus sprechen. Und es ist fatal, wenn diese Aktivisten die Kritik an solchen Missständen im Namen des 'Antirassismus' zurückweisen und als 'islamophob' bezeichnen."

Das kommende "Selbstbestimmungsgesetz" ist heute in der taz (hier) und der FAZ Thema. Ab 14 Jahren sollen Kinder selbst entscheiden und gegebenenfalls Pubertätsblocker nehmen dürfen. FAZ-Autor Thomas Thiel stellt fest, dass das Bundesfamilienministerium in dieser Thematik schon lange Partei ist: "Seit der Gründung der interministeriellen Arbeitsgruppe Inter- und Transsexualität im Jahr 2015 wirkt es gezielt darauf hin, die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Auffassung zu schaffen, Geschlecht sei allein das, was man sich wünsche und fühle. Auf dem Regenbogenportal des Ministeriums wird auch heute noch ohne jegliche Risikoeinschätzung zum Einsatz von Pubertätsblockern geraten."
Archiv: Gesellschaft

Kulturpolitik

Dies ist eine Woche der Restitution. Die fünf deutschen Museen mit den größten Benin-Sammlungen  wollen das Eigentumsrecht an ihren sämtlichen Benin-Bronzen an Nigeria übertragen, meldet Jörg Häntzschel in der SZ: "Nach der Vereinbarung werden nigerianische Museumsleute in Zukunft entscheiden können, welche Bronzen aus Deutschland für Ausstellungen verliehen werden und wie diese präsentiert werden." Unter anderem die Stiftung Preußischer Kulturbesitz will die Stars ihrer ethnologischen Sammlung im Humboldt-Forum, die Benin-Bronzen nun zurückgeben, es ist offiziell, berichtet Susanne Memarnia in der taz: "Am Freitag sollen nun Claudia Roth und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) mit ihren nigerianischen Amtskollegen eine Absichtserklärung unterzeichnen, die den Weg für die Eigentumsübertragungen freimacht. Für die nigerianische Seite sollen Kulturminister Lai Mohammed und der Staatsminister für Auswärtige Angelegenheiten, Zubairo Dada, dabei sein. Dabei sollen nach dpa-Information symbolisch zwei Bronzen aus der Berliner Sammlung übergeben werden." Für das Humboldt-Forum ist die Rückgabe eine Chance, kommentiert Andreas Kilb in der FAZ, da die Skulpturen nun, wenn auch als Leihgabe, mit historisch-politischem Hintergrund gezeigt werden könnten.

Ebenfalls in der FAZ berichtet der ukrainische Kunsthistoriker Konstantin Akinscha über russische Museumsraube in der Ukraine, an denen ukrainische Behörden, die nicht rechtzeitig für Sicherung der Sammlungen sorgten, mitschuldig seien.
Archiv: Kulturpolitik