9punkt - Die Debattenrundschau

Es gibt keine Korrektive mehr

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.07.2022. Zwei Attacken: Der Historiker Ulrich Herbert kritisiert in der taz Timothy Snyder: Die Begriffe "Faschismus", "Völkermord", "Vernichtungskrieg", die Snyder verficht, träfen auf den Ukraine-Krieg nicht zu, so Herbert. Bei der Frage der Waffenlieferungen ist Herbert skeptisch. Attacke Nummer 2: die New York Times bringt einen höchst kritischen Bericht über die einflussreiche Kunstsammlerin Julia Stoschek und den "Nazi-Hintergrund" ihrer Familie. Außerdem: Debatten zu Selbstbestimmungsgesetz und zu Abtreibung in Amerika.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.07.2022 finden Sie hier

Europa

Mit "Faschismus" und "Hitler" hat das alles nichts zu tun, sagt der Historiker Ulrich Herbert im Gespräch mit Stefan Reinecke von der taz. Er lehnt auch die Begriffe "Völkermord" und "Vernichtungskrieg" in Bezug auf Putins Krieg ab. Das seien "Reizworte, um die Deutschen bei der Ehre oder der historischen Moral zu packen". Und er gibt Timothy Snyder, der diese historischen Parallelisierungen sehr wohl befürwortet, kräftig eins mit: "Dass Snyder nun auch den in Deutschland seit einiger Zeit frisch erwachten Antikolonialismus auf die Ukraine lenkt, um Unterstützung von den Deutschen zu bekommen, ist noch weniger überzeugend. Deutschland war nach 1941 kein Kolonialherr in der Ukraine, sondern eine brutale Besatzungsmacht für drei Jahre. Es gab auch keine spezifische NS-Unterdrückung in der Ukraine, die sich von der im Baltikum, in Weißrussland oder in Westrussland unterschieden hätte. Auch Snyders These, es sei 'Hitlers zentrales Kriegsziel' gewesen, die ukrainische Landwirtschaft zu kontrollieren, ist nicht haltbar. Das zentrale Kriegsziel der Nazis war die Vernichtung der 'jüdisch-bolschewistischen Sowjetunion'." Aus all dem folgt für Herbert Zurückhaltung in der Frage der Waffenlieferungen: "Wenn ich es recht verstehe, sind sich die Militärexperten in dieser Frage nicht einig und eher skeptisch, was den Kriegsausgang betrifft." Die Frage der Lieferungen hänge im wesentlichen davon ab, "wie man die militärischen Chancen und die politischen Risiken einschätzt".

Die Russlandexpertin Sabine Fischer fürchtet im Gespräch mit Lina Verschwele vom Spiegel, dass Putin für ein rationales Gespräch gar nicht mehr erreichbar ist: "Er hat sich in den letzten Jahren von den Realitäten dieser Welt vollständig isoliert. Die Coronapandemie hat diese Entwicklung noch einmal sehr beschleunigt. Er ist von wichtigen Informationen abgeschnitten, es gibt keine Korrektive mehr. Macrons Argument, man müsse eine für Putin gesichtswahrende Lösung finden, läuft ins Leere. Über den Punkt sind wir längst hinaus."

Putin kann es schönreden, wie er will, aber er erleidet mit dem Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands "die größte geopolitische Niederlage seiner Amtszeit", kommentiert  Michael Thumann bei Zeit online: "Die beiden Länder verdreifachen die Schlagkraft der Nato in Nordeuropa und verwandeln die Ostsee in ein Nato-Meer. Mit Schweden und Finnland treten der Nato zwei gut gerüstete und hochresiliente Staaten bei."

Für das Klima ist die Reduktion der russischen Gaslieferungen nicht gut. Denn die Russen fackeln Gas, das nicht geliefert wird, einfach ab, erläutert Inna Hartwich  in der taz. So leicht finden sie übrigens keinen Ersatz für europäische Abnehmer: "Die Gaspipeline 'Sila Sibiri' nach China ist zwar lediglich zu 15 Prozent befüllt und das könnte aufgestockt werden. Über diese Röhre wird aber bereits seit zehn Jahren verhandelt, Peking ist kein leichter Partner. Moskau schaut sich natürlich auch auf weiteren Märkten um und hat Gespräche über eine Pipeline nach Indien wieder aufgenommen. Seit den Sowjetzeiten gibt es die Idee, Indien über Zentralasien und Afghanistan mit Gas zu versorgen. Dies sind aber aufwendige und langwierige Pläne."
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Politik

Die Gleichschaltung Hongkongs, die Xi Jinping heute feiern will, und das traurige Bild der Stadt im Vergleich zur früheren Blüte sind Symptome, dass Xis Projekt, Nationalismus, Diktatur und wirtschaftliche Stärke zu verbinden, scheitern könnte, schreibt Friederike Böge in der FAZ: "Die Jugendarbeitslosigkeit ist auf Rekordniveau gewachsen, seit China von einem Corona-Lockdown in den nächsten taumelt und seit Xi Jinping der Privatwirtschaft immer neue Fesseln anlegt. Die zwei Monate lange Abriegelung von Schanghai, der modernsten Metropole des Landes, hat in Teilen der Mittel- und Oberschicht Zweifel am Kurs der Parteiführung gesät."

Das Land Rheinland-Pfalz und seine Ministerpräsidentin Malu Dreyer, SPD, umwerben mit intensiver Beziehungspflege und häufigen Besuchen den ruandischen Staatspräsidenten Paul Kagame als einen Staatsführer, der den Völkermord in seinem Land beendete. Das tat er auch, allerdings mit einer Rebellenarmee, die ebenfalls nicht aus Waisenknaben rekrutiert war, schreibt der Völkerrechtler Gerd Hankel in der FAZ, und heute gilt Kagame als ein Diktator. Kagames bis heute bestehender Ruf "war vorteilhaft für das neue ruandische Regime, jedoch nachteilig für große Gruppen der Bevölkerung, die, obwohl nicht am Völkermord beteiligt, keine Möglichkeit hatten, das ihnen widerfahrene Leid zur Sprache zu bringen. Bis heute ist es ein absolutes Tabu, dessen Wahrung der Staat brutal mit Angriffen auf Menschen- und Freiheitsrechte durchsetzen will."
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Gesellschaft

Shoko Bethke begrüßt in der taz das neue Selbstbestimmungsgesetz, dessen Entwurf gestern von den zuständigen Ministerien vorgestellt wurde: "Die Zahl der Menschen, die ihren Geschlechtseintrag ändern lassen, nimmt jährlich zu. Das hat nichts damit zu tun, dass es auf einmal lukrativ oder 'in' geworden ist, trans zu sein - im Gegenteil. Betroffene sind nach wie vor vielen Diskriminierungen und Gefahren ausgesetzt. Viele berichten von Herabwürdigung ihrer Körpersprache oder Stimme bis hin zu Ausgrenzung und Hasskriminalität. Dabei hat es trans Menschen und jene, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen, schon immer gegeben. Mit zunehmender gesellschaftlicher Akzeptanz trauen sie sich jetzt bloß, sich zu outen."

"Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet jetzt der heteropatriarchale Besitzanspruch auf den weiblichen Körper, die Reproduktion, 'das Kind' und 'das Leben' schlechthin reinstalliert wird, jetzt, wo Kernelemente männlicher Selbstverständlichkeiten auf der Kippe stehen, wie das Ein-Ernährer-Modell", meint die Soziologin Franziska Schutzbach in der SZ: "Der vom Supreme Court ermöglichte Zwang, dass Menschen Schwangerschaften gegen ihren Willen austragen, muss vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund auch als reaktionärer Versuch gesehen werden, Frauen auf ihren Plätzen als Reproduktionsarbeiterinnen festzunageln - und sie als Konkurrentinnen am Arbeitsmarkt auszuschalten. Letztlich reaktiviert die Lebensschutz-Ideologie einen staatlichen, religiös aufgeladenen heteropatriarchalen Besitzanspruch gegenüber Frauen, und gegenüber Kindern. Das (ungeborene) Kind galt seit der Antike als Eigentum des Vaters, auch heute sind solche Ideen verbreitet, wenn etwa Männerrechtler Abtreibung als 'Eigentumsbeschädigung' bezeichnen."

Die amerikanische Antiabtreibungsbewegung ist im Kern vor allem ein Projekt der "White Supremacy", meint Annika Brockschmidt, Autorin des Buchs "Amerikas Gotteskrieger", in der taz, ungeachtet der Tatsache, dass einer der schärfsten konservativen Richter am Supreme Court, Clarence Thomas, schwarz ist: "Auf Dauer würde man keine numerischen Mehrheiten im Land mehr gewinnen können. Daher entschied man sich, statt die eigenen Positionen zu moderieren und mehr Wähler zu überzeugen, für den antidemokratischen Weg: die Festigung der Herrschaft einer Minderheit durch die Ausspielung oder Manipulation des amerikanischen politischen Systems. Es ist kein Zufall, dass die religiöse Rechte sich so um sinkende (weiße) Geburtenraten sorgt."

Zu welchen Absurditäten die Abtreibungsdiskussion in den USA führt, zeigt ein Artikel bei axios.com: Sophia Cai und Shawna Chen berichten hier, das Native Americans sich gegen die Idee wehren, Abtreibungskliniken auf ihrem Land zu errichten. Ihr Land scheint formell dem Bund zu unterstehen. Einige ehemalige "Reservate" befinden sich auch in Bundesstaaten, die Abtreibung jetzt verbieten wollen. Die Idee war von den linken Politikerinnen Alexandra Ocasio Cortez und Elizabeth Warren aufgebracht worden.

Außerdem: Ebenfalls in der taz  erzählt Sandro Gvindadze über das Problem der Schwulenfeindlichkeit in Georgien, die von Extremisten auch eingesetzt wird, um gegen einen EU-Beitritt des Landes zu opponieren.
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Kulturpolitik

Die Diskussion um die Sammlerin Julia Stoschek hat es nun in die New York Times gebracht, und dürfte das Leben der einst so umworbenen Sammlerin, die auch in amerikanischen Museen in vielen Gremien sitzt, nicht angenehmer machen. Die Diskussion um Stoschek entbrannte in Deutschland unter anderem, weil sie von zwei Aktivisten in einem Instagram-Video als "Mensch mit 'Nazihintergrund'" angegriffen wurde (unser Resümee). In der Times schreibt jetzt der in Berlin lebende Journalist Thomas Rogers und spürt den Selbstrechtfertigungen Stoscheks nach, die als Sammlerin von Medienkunst großen Einfluss in der Kunstszene genießt. Da nützt es ihr auch nichts, dass sie in der aktuellen "Worldbuilding"-Ausstellung in Düsseldorf "fast zur Hälfte Werke von Frauen oder nicht-binären Menschen" zeigt. Rogers überprüft eine Biografie Max Broses, des Großvaters von Stoschek, die die Familie in Auftrag gegeben hatte, um den Nazi-Vorwurf aufzuarbeiten. Brose hatte als Lieferant der Wehrmacht Millionen gescheffelt und dafür natürlich auch Zwangsarbeiter eingesetzt. Die bei Gregor Schöllgen in Auftrag gegebene Biografie erweist sich bei näherem Hinsehen als recht mild, so Rogers: "Abschnitte, in denen die großzügige Behandlung von Zwangsarbeitern durch das Unternehmen beschrieben wird, gehen auf Aussagen von Brose selbst zurück. Das Buch erwähnt kaum ein Dutzend Zeugenaussagen von Brose-Arbeitern, die in anderen Prozessdokumenten enthalten sind, die die Times in den bayerischen Staatsarchiven einsehen konnte. In diesen Berichten wird die Misshandlung von Zwangsarbeitern beschrieben, darunter in einigen Fällen tägliche Schläge und chronische Unterernährung." Brose hatte seine Biografie vor einigen Jahren in der SZ gerechtfertigt.

Außerdem: Benno Stieber berichtet in der taz über die Restitution von Benin-Bronzen durch das  Stuttgarter Linden-Museum.
Archiv: Kulturpolitik