9punkt - Die Debattenrundschau

Diejenigen, die am meisten bedroht sind

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.07.2022. Die Schweden werden Nato-Mitglieder. Gut so, meint der schwedische Schriftsteller Richard Swartz in der NZZ - damit hat die Heuchelei ein Ende. In einem sind sich Rechte und Linke einig: Frauen zählen nicht, schreibt die New York Times-Kolumnistin Pamela Paul, die nicht nur über das  Supreme-Court-Urteil zu Abtreibung entsetzt ist, sondern auch über die Reaktion vieler linker Organisationen. Für viele deutsche Journalisten sei es immer noch schwierig, über die Kontinuität reicher Familien seit der Nazi-Zeit zu schreiben, sagt der Historiker David de Jong im Tagesspiegel - zu einflussreich seien die Familien noch heute.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.07.2022 finden Sie hier

Europa

Der Krieg findet sich in deutschen Medien oft nicht mehr in der Aufmacherposition. Nur eine Meldung heute, aus dem Liveticker von Zeit online: "Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hat seine enge Verbundenheit mit Russland bekräftigt. Belarus sei so eng mit der Russischen Föderation verbunden, 'dass wir praktisch eine gemeinsame Armee haben. Aber das wussten Sie ja alles. Wir werden weiterhin mit dem brüderlichen Russland fest vereint sein', sagte Lukaschenko bei einer Feier zum Jahrestag der Befreiung von Minsk durch sowjetische Truppen im Zweiten Weltkrieg."

Aber auch Belarus wird durch den Krieg verändert, schreibt Pjotr Rudkowski bei dekoder.org: "Der Krieg in der Ukraine führt wahrscheinlich zu einem Bruch in der Identität der Belarussen. Zum ersten Mal haben wir es mit einem internationalen Konflikt zu tun, in dem nur eine Minderheit von Belarussen Russland unterstützt und die Zahl seiner Kritiker höher ist als die Zahl der Befürworter. Im Georgienkrieg oder bei der Annexion der Krim war die absolute Mehrheit der Belarussen auf der Seite Russlands."

Der Militärforscher Christian Mölling denkt in der Zeitschrift Internationale Politik darüber nach, wie deutsche Friedenspolitik nach der "Zeitenwende" aussehen sollte: "Mit der Zeitenwende erkennt die politische Führung Deutschlands an, dass sie mit ihrer Einschätzung der Welt fundamental falsch gelegen hat. Friedenspolitik kann dann in Zukunft nur erfolgreich sein, wenn sie vom Kopf auf die Füße gestellt wird. Die Bedingungen von Frieden und die Zustände von Unfrieden müssen anerkannt werden - nicht abstrakt, sondern für jeden einzelnen Konflikt. Wer den Frieden will, muss den Konflikt in- und auswendig kennen, nur dann kann Deutschland kompetent Frieden schaffen."

Die Schweden werden Natomitglieder. Gut so, meint der schwedische Schriftsteller Richard Swartz in der NZZ. Damit hat die Heuchelei ein Ende. "Wann begann die schwedische Neutralität von Heroismus Richtung Mythos umzuschlagen? War das mit den Enthüllungen zur sorgfältig geheim gehaltenen, engen Zusammenarbeit mit der Nato und vor allem mit den USA? Oder nach jahrelanger, ergebnisloser Jagd auf fremde U-Boote, seit ein sowjetisches im Jahr 1981 innerhalb eines schwedischen militärischen Sperrgebiets auf Grund lief? Oder nach Jahren drastisch gekürzter Mittel für die Landesverteidigung, die nach dem Fall des Kommunismus in Europa ihren Tiefpunkt erreichten? Oder als ein schwedischer Oberbefehlshaber, Sverker Göranson, vor zehn Jahren sagte, dass sich Schweden im Fall eines Angriffs höchstens eine Woche lang verteidigen könne?"
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Ideen

Rainer Hank, Wirtschaftsredakteur der FAS fühlt sich durch den Documenta-Gau überraschenderweise an die Finanzkrise von 2008 erinnert. In beiden Fällen hätte das Prinzip Abschieben von Verantwortung gesiegt. In der Finanzkrise hätten Banken die Kreditrisiken für Eigenheime durch gebündelte Papiere kollektiviert. Und so führte auch die Kollektivierung des kuratorischen Risikos bei der Documenta in die Katastrophe: "(Linker) Antisemitismus und (linker) Antikapitalismus sind seit dem 19. Jahrhundert Geschwister. Verbinden sie sich mit dem Kollektivismus, dann kann am Ende niemand für den Schaden der Volks- und Kapitalistenverhetzung zur Verantwortung gezogen werden. Die Künstler geben sich arglos ('wir meinen es nur gut'), die Generaldirektorin der Documenta gibt sich machtlos, die zuständige hessische Ministerin nennt sich unzuständig, und die Kulturstaatsministerin nennt sich vertrauensselig. Der deutsche Steuerzahler erfährt am Ende, dass er, ohne gefragt worden zu sein, 42 Millionen Euro zahlen muss für eine Kampagne zur Abschaffung des Kapitalismus."
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Gesellschaft

In einem sind sich Rechte und Linke einig: Frauen zählen nicht, schreibt die New York Times-Kolumnistin Pamela Paul, die nicht nur über das  Supreme-Court-Urteil zu Abtreibung entsetzt ist, sondern auch über die Reaktion vieler linker Organisationen: "Sogar das Wort 'Frauen' ist heute verboten. Früher galt es  als eine allgemein verständliche Bezeichnung für die Hälfte der Weltbevölkerung und hatte eine spezifische Bedeutung, die mit Genetik, Biologie, Geschichte, Politik und Kultur verknüpft war. Vorbei. An seine Stelle sind sperrige Begriffe wie 'schwangere Menschen', 'Menstruierende' und 'Körper mit Vagina' getreten. Planned Parenthood, einst ein unerschütterlicher Verfechter der Frauenrechte, lässt das Wort 'Frauen' auf seiner Homepage weg. NARAL Pro-Choice America verwendet 'Gebärende' anstelle von 'Frauen'. Die American Civil Liberties Union, eine langjährige Verfechterin von Frauenrechten, twitterte letzten Monat ihre Empörung über die mögliche Aufhebung von Roe v. Wade als Bedrohung für mehrere Gruppen: 'Schwarze, indigene und andere Farbige, die LGBTQ-Community, Einwanderer, junge Menschen. Diejenigen, die am meisten bedroht sind, wurden ausgelassen: Frauen."

Die Rechtslage in Sachen Abtreibung ist unterdessen in vielen amerikanischen Bundesstaaten komplett unklar, berichtet Sofia Dreibach in der FAZ: "Rechtlich ist es so, dass in einigen Bundesstaaten sogenannte Trigger Laws - Gesetze, die schon in der Schublade lagen, um Abtreibungen nach dem Ende von Roe v. Wade zu verbieten oder einzuschränken - zum Einsatz kommen, in anderen wiederum die Abtreibungsgesetze aus der Zeit von vor 1973. Eine dritte Gruppe von Bundesstaaten hat wiederum Gesetze erlassen, die Abtreibungen ausdrücklich schützen."

Selbst in der SZ erhebt sich jetzt eine Stimme gegen Ferda Ataman, die zur Antidiskriminierungsbeauftragte der Bundesregierung gekürt werden soll. Peter Fahrenholz wirft ihr vor, etwa mit ihrem "Kartoffel"-Medienpreis so etwas wie umgekehrte Diskriminierung zu betreiben. Ataman sei für den Posten viel zu polarisierend: "Ihre Berufung war mehr oder minder ein Alleingang der neuen Grünen-Familienministerin Lisa Paus. Offenbar ging es von Anfang an gar nicht darum, die am besten geeignete Person zu finden. Sondern darum, dem linken Flügel der Grünen ein wenig Entschädigung dafür zu verschaffen, bei der Verteilung der Regierungsposten zu kurz gekommen zu sein."

Es gibt im übrigen beim Beauftragtenwesen eine Inflation, schreibt Fahrenholz in einem zweiten Artikel: 41 Beauftragte der Bundesregierung. Und "insgesamt gibt es acht Beauftragte der Bundesregierung, in deren Aufgabengebiet auch der Kampf gegen Diskriminierung und Stigmatisierung eine Rolle spielt. Was durchaus die Frage aufwirft, ob noch eine zusätzliche Antidiskriminierungsbeauftragte notwendig ist. Die Gefahr, dass es statt eines mehrstimmigen Miteinanders ein rivalisierendes Durcheinander gibt, liegt jedenfalls auf der Hand."

Twitter-Thema Nummer 1: Die Biologin Marie-Luise Vollbrecht sollte an der Hmuboldt-Uni im Rahmen der "Langen Nacht der Wissenschaften" einen Vortrag halten, in dem sie behaupten wollte, es gebe zwei Geschlechter - und ist von der Uni nach Protesten wegen "Sicherheitsbedenken" gecancelt worden. Vollbrecht wird vorgeworfen, einen umstrittenen Aufruf gegen die Berichterstatttung der öffentlich-rechtlichen Sender zum Thema in der Welt unterzeichnet zu haben (unser Resümee). "Für Vollbrecht sind die Anfeindungen keine Bagatelle", schreibt Thomas Thiel in der FAZ. "Der Vorwurf der Trans- und Menschenfeindlichkeit schadet ihrer Reputation und gefährdet ihre Laufbahn. Für die Wissenschaft ist es eine gefährliche Tendenz, wenn ganze Disziplinen unter Verdacht gestellt werden." Den Vortrag Vollbrechts kann man sich hier als Video ansehen.
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Geschichte

Irgendwie gibt es gerade bei den ganz reichen Familien eine Vergangenheit, die immer noch nicht vergehen will, wie auch der New-York-Times-Artikel über die Kunstsammlerin Julia Stoschek neulich zeigte (unser Resümee). Für die ganz reichen Familien gab es keine Stunde null, vermutet der Historiker David de Jong, Autor des Buchs "Braunes Erbe", im Gespräch mit Daniel Erk im Tagesspiegel, denn die Flicks, Fincks und Quandts haben bis heute großen Einfluss. Darum sei es auch für viele deutsche Journalisten schwierig, über das Thema zu schreiben. Da ist etwa der Herbert-Quandt-Medienpreis, benannt nach einem Mann, der "selbst ein KZ-Außenlager hat bauen" lassen: "Seit 2016 betreibt BMW weltweit Philanthropie im Namen von Herbert Quandt. Die BMW-Erben Susanne Klatten und Stefan Quandt haben 2016 diese Stiftung im Namen ihres Vaters mitgegründet. In der Jury des Herbert-Quandt Medienpreises sitzen einige prominente Journalisten, gemeinsam mit Stefan Quandt: Tanit Koch, die ehemalige Chefredakteurin der Bild-Zeitung, Jan-Eric Peters, der Geschäftsführer der NZZ Deutschland, Michaela Kolster, die Programmleiterin von ZDF Phoenix, und Horst von Buttlar, der Teil der Stern-Chefredaktion ist."
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Kulturpolitik

Harry Nutt kommentiert in der Berliner Zeitung die jüngsten Vereinbarungen zur Rückgabe von Benin-Bronzen (unser Resümee): "Inzwischen ist überdeutlich zum Vorschein gekommen, dass in der Mitte Berlins nicht nur ein Ausstellungstanker für die Präsentation außereuropäischer Kunst entstanden ist. Vielmehr vollzieht sich hier eine Neupositionierung Deutschlands im Verhältnis zu einer postkolonialen Konstellation."
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Stichwörter: Benin, Benin-Bronzen

Medien

Von der Kommunikationspsychologie der Ukrainer können wir einiges lernen, meint - auch mit Blick auf Leugner von Corona oder des Klimawandels - der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in einem Essay für die NZZ. Oder von den Finnen: "Medienbildung muss die Demokratie schützen, ohne die Ideale von Aufklärung und Mündigkeit zu verletzen. Finnland liefert dazu ein gutes Beispiel. Dort hat man schon vor dem Schock der Krim-Annexion 2014 und als Reaktion auf russische Desinformationskampagnen eine Medienbildung aufgebaut, die in Europa ihresgleichen sucht. Unter anderem gibt es ein 'critical thinking curriculum', das darauf zielt, quer durch alle Fächer Quellenanalyse und Fact-Checking einzuüben, Manipulationstechniken zu analysieren und zu entlarven. Medienbildung wird als gesellschaftliche Aufgabe begriffen, die im Idealfall im Kindergarten beginnt. Ziel ist es, die eigene Urteilskraft zu stärken."
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