9punkt - Die Debattenrundschau

Licht aus gnostischen Hinterwelten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.07.2022. Gewalt ist in der russischen Gesellschaft tief verankert und fängt schon bei der Kindererziehung an, schreibt Inna Hartwich in der taz. Georg Witte in der FAZ und Franziska Davies bei den Salonkolumnisten fragen, was in Deutschland mit der Debatte über den Krieg schiefläuft. Für Micha Brumlik in der Berliner Zeitung ist Andrij Melnyk "Holocaustleugner und damit auch Antisemit". Viel diskutiert wird auch über die Biologin Marie-Luise Vollbrecht, die an der Humboldt-Uni fast behauptet hätte, es gebe zwei Geschlechter.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.07.2022 finden Sie hier

Europa

Gewalt ist in der russischen Gesellschaft tief verankert und fängt schon bei der Kindererziehung und in der Familie an, schreibt Inna Hartwich in der taz: "Häusliche Gewalt gilt in Russland als Bagatelle und wird mit einem Bußgeld von umgerechnet 50 Euro geahndet. Als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Russland vor einigen Jahren dazu aufforderte, Frauen besser vor häuslicher Gewalt zu schützen, bezeichnete das russische Justizministerium 'das Problem' als 'deutlich übertrieben' und sah die Forderung der Straßburger Richter als 'Diskriminierung von Männern' an. Diese Aussagen zeigen die grundlegende Haltung des russischen Staates zur Gewalt in Familien. Weil die Gesetzeslage so unklar ist, wissen selbst Polizist*innen oft nicht, wie sie sich verhalten sollen."

Am liebsten würde Putin seine aktuellen Geländegewinne durch einen Waffenstillstand absichern, bevor die Ukrainer im Herbst, wenn sie genügend Waffen haben, zurückschlagen können. Und es finden sich natürlich, besonders in Deutschland, Intellektuelle, die Putins Position durch immer neue Friedensappelle stützen wollen. Erst jüngst äußerten sich die Unterzeichner des Emma-Briefs wieder in der Zeit (unser Resümee). Der Slawist Georg Witte nimmt ihre Position in der FAZ auseinander. Putin brauche diskursive Flankierung in Europa: "Die ideologischen Ränder, AfD, die Linke - kein Problem. Das Problem ist die linksliberale und aufgeklärte rechte Mitte. Hier muss angesetzt werden, hier muss öffentlicher Druck erzeugt werden. Und siehe da: Es finden sich deutsche Schriftstellerinnen, Philosophinnen, Politik- und Rechtswissenschaftler, Soziologen, Publizisten, die genau dieses Narrativ bedienen: Waffenstillstand 'jetzt'! Auf das 'jetzt' kommt es an: Bevor es zu spät ist, bevor der Aggressor seine Position der Stärke verliert."

Witte empört vor allem, dass die Emma-Brief-Schreiber eine Symmetrie der Kriegsparteien konstruieren, um ihre Rhetorik des Ausgleichs applizieren zu können. Für die Osteuropahistorikerin Franziska Davies, die bei den Salonkolumnisten schreibt, läuft in Deutschland die ganze Debatte schief: Jeder Hinweis auf die Asymmetrie zwischen Angreifen und Opfern reiße Deutschland aus seiner gasbeheizten Gemütlichkeit und führe zu Unbehagen und "zu einer geradezu fieberhaften Suche nach 'Fehlern' bei der Ukraine und Entschuldigungen für das Agieren Russlands. Jede Person, die in den letzten Jahren Veranstaltungen zur Ukraine oder Russland organisiert oder daran teilgenommen hat, wird bestätigen können, dass die Fragen aus dem Zuschauerraum oft irritierend waren."

Micha Brumlik haut in der Berliner Zeitung nach den Äußerungen Andrij Melnyks über Stepan Bandera noch mal ganz hart auf die Pauke: "Mit seinem Beharren darauf, dass Bandera mit dem Holocaust nichts zu tun gehabt habe, erweist sich Melnyk somit als ein - wenn man so will: ukrainebezogener - Holocaustleugner und damit auch als Antisemit." Die Berliner Zeitung fragt heute auch: "EU-Milliarden für die Ukraine - und was, wenn Oligarchen sie einfach klauen?"
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Medien

Das philippinische Nachrichtenmagazin The Rappler hat unter Chefredakteurin Maria Ressa viele Verbrechen des Duterte-Regimes aufgeklärt, Ressa bekam dafür den Friedensnobelpreis. Nun schließt Rodrigo Duterte das Magazin. Michael Lenz schildert es in der taz als ein Geschenk an Ferdinand Marcos Jr., einen Abkömmling des einstigen Diktators, der die Macht von Duterte übernimmt: "Marcos habe schon im Wahlkampf nur mit Medien gesprochen, die ihm freundlich gesinnt waren. Auf der ersten Pressekonferenz nach seiner Wahl im Mai habe er Fragen einer Rappler-Reporterin einfach ignoriert. Bei einer späteren Pressekonferenz sollen erst gar keine Fragen zugelassen gewesen sein. Rappler hat gegen die Anordnung der Finanzaufsicht, dichtmachen zu müssen, Berufung eingelegt und will zum laufenden Verfahren keine Stellungnahme abgeben."

In der Berliner Zeitung berichtet Joseph Croitoru, dass die palästinensische Journalistin Schireen Abu Akleh nach Untersuchungen der Gewehrkugel durch amerikanische Stellen wohl von israelischen Soldaten erschossen wurde. Croitoru berichtet auch unter Bezug auf das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte, dass Israel seit 2000 auch weitere palästinensische Journalisten erschossen habe.
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Stichwörter: Ressa, Maria, Philippinen

Ideen

Stephan Wackwitz war auf einem Veteranentreffen des MSB Spartakus, also einer Formation der moskautreuen DKP, einer besonders unsympathischen politischen Gruppierung der frühen Siebziger (wenn man von rechtsextremen absieht), in die es ihn als Student ausgerechnet verschlagen hatte. Über den Krieg gegen die Ukraine wurde auch diskutiert, berichtet er in der taz : "Eine Genossin versuchte, Empirie zur Geltung zubringen. Die Dinge lägen doch denkbar einfach: Die Russen hätten angegriffen und müssten vertrieben werden. Doch das auf der Hand Liegende erbleichte im Licht aus gnostischen Hinterwelten. Die hier jetzt wieder vorherrschenden Sprachen tauchten die Welt in fahles Gespensterlicht. Es war die Stunde der Abstraktion, der alt gewordenen Chefideologen, der langen, gewundenen Referate über aggressiv-provokatorische Planungen 'des Westens', der dann immer öfter 'US-Imperialismus' hieß. Gegen diese lang bewährte Hauptfeinddarstellung hatte der Hinweis auf die imperialen Ansprüche der russischen Gegenseite - die doch oft und offen genug geäußert worden sind und werden - keine diskursive Überlebenschance."
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Kulturpolitik

Katarzyna Wielga-Skolimowska wird neue Chefin der Kulturstiftung des Bundes. Die polnische Kulturmanagerin löst Hortensia Völckers ab, die in den Ruhestand geht, berichtet unter anderem Jörg Häntzschel in der SZ. Eine der Fragen wird sein, ob Wielga-Skolimowska mehr Zugriff auf die Documenta bekommt, vermutet Häntzschel: Obwohl der Beitrag der Bundesstiftung "im Vergleich zu denen von Land Hessen und Stadt Kassel gering ist, forderten in den vergangenen Wochen viele, der Bund müsse seine Beteiligung ausweiten und Mitgesellschafter werden, während andere das als unzulässig zurückwiesen, Kultur ist schließlich Ländersache."

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Großteil der Benin-Bronzen durch den nigerianischen Staat der entmachteten Königsfamilie als ursprüngliche Besitzer übergeben wird, meint Matthias Busse in der Welt, aber: "Wird so das stets erneuerte Ziel erreicht, den Nigerianern und speziell der Edo-Bevölkerung ihre Geschichte anhand der historischen Objekte näherzubringen? So einfach wie es aus dem Mund der Politiker klingt, ist die Sache nicht. Denn nicht nur der deutsche Kolonialismus fordert eine kritische Aufarbeitung, auch die Zeit der Oba war kriegerisch. Sie unterwarfen ihre Nachbargesellschaft, beuteten sie aus, versklavten die Menschen und opferten Gefangene in blutigen Ritualen. Darüber schweigen die Offiziellen in Nigeria - und auch die aus der Oba-Familie stammende Kuratorin der aktuellen Benin-Ausstellung in Köln." Ebenfalls in der Welt porträtiert Thomas Schmid den Arzt und Anthropologen Felix von Luschan, der Hunderte Benin-Bronzen für Deutschland erwarb.

"Von seiner Verantwortung für die große ökonomische Kluft zwischen den europäischen und den afrikanischen Ländern will Europa nach wie vor nichts wissen", sagt der Soziologe Olaf Bernau, der mit "Brennpunkt Afrika" gerade ein Buch über Kolonialismus und Fluchtursachen veröffentlicht hat, im Standard-Interview mit Ruth Renée Reif: "Diese Kluft hat auch mit schlechter Regierungsführung im zeitgenössischen Afrika zu tun, doch ihr eigentlicher Ursprung liegt im 17. Jahrhundert. Damals traten die Entwicklungspfade auseinander, und dieser Prozess hat sich durch Sklaverei und Kolonialismus immer weiter zugespitzt. Das grundlegende Muster lautet, dass afrikanische Länder primär Rohstoffe exportieren und verarbeitete Produkte importieren. Im Zuge der Verschuldungspolitik der 1980er- und 1990er-Jahre wurde es einmal mehr zementiert. Nähme Europa seine Verantwortung wahr, müsste es etwas von dem verbrecherisch zusammengeraubten Reichtum zurückgeben."
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Gesellschaft

Die Absage des Vortrags von Marie-Luise Vollbrecht durch die Leitung der Humboldt-Universität (unser Resümee) sei "erbärmlich feige und die Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit inakzeptabel", kommentiert Deniz Yücel in der Welt: Dabei sollte man die Aktivist:innen keineswegs für links, progressiv oder dissident halten, mahnt er. Längst führten Weltkonzerne vor, "wie kompatibel 'woke' Ideologie und der Kapitalismus der Gegenwart sind. (...) An diesem Befund ändert auch das Gerede vom 'Klassismus', der letzte Schrei im woken Milieu, nichts: Dem 'Klassismus' geht es nicht um Macht und Ausbeutung, sondern um Sprache und Diskriminierung: Was der Prolet verdient und wie er dafür schuftet, spielt allenfalls eine untergeordnete Rolle, solange ihn keiner abschätzig Prolet nennt und darüber die Nase rümpft, dass er dieses oder jenes Fremdwort nicht versteht. Womöglich rührt die aggressive Unerbittlichkeit der Transgender-Aktivist*innen daher: weil man sich gerne weiterhin für links und cool und marginal halten will, aber bloß die radikale Avantgarde des Establishments bildet, und die linke Ausprägung einer globalen antiliberalen Identitätspolitik."

Hilmar Klute hat sich Vollbrechts Vortrag, der im Netz steht, für die SZ angeschaut: "Die Biologin scheint frei von Reflexen gegen Genderaktivisten zu sein, sie zollt deren Ansichten sogar Respekt, besteht aber auf der biologischen Festsetzung, dass es zwei Geschlechter gibt, deren jeweilige Unterscheidungsmerkmale Ei und Samenzelle die Voraussetzung für die menschliche Fortpflanzung sind." Und er beklagt "die Angst vor einer Minderheit, die nur das Wort 'Queerfeindlichkeit' über den Campus brüllen muss, damit Dekane, Rektoren und Präsidentinnen jeden sofort wieder ausladen, der in den Verdachtsschatten der Ideologen geraten sein könnte".

Ganz anders sieht es Sonja Dolinsek in der Berliner Zeitung: "In diesem Fall verschwimmen Aktivismus und Wissenschaft. Vollbrecht ist selbst Aktivistin, seit 2020 auf Twitter überaus aktiv und erst seit Kurzem auch nicht mehr nur anonym. Der abgesagte Vortrag lässt sich deshalb mitnichten als Ausdruck nüchterner Wissenschaft verstehen, sondern muss im Kontext ihres eigenen Aktivismus eingeordnet werden."
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Internet

Es gibt wieder etwas zu regulieren. Das neue Digitalgesetz der EU fordert, dass jedes Land einen Digitalkoordinator zur Kontrolle der Plattformen benennt. Eine Bundesbehörde, die allzu schnell als Zensurinstanz verdächtigt würde, geht schon vom Grundgesetz her nicht. Die Grünen-Politikerin Tabea Rößner und Karl-E. Hain, Direktor des Instituts für Medienrecht und Kommunikationsrecht der Universität zu Köln, plädieren darum, in der FAZ dafür die Verantwortung bei den Landesmedienanstalten zu belassen. "Sollte die Wahl auf die Landesmedienanstalten fallen, müsste auf interföderaler Ebene entweder eine Dachstruktur für die Übernahme der Koordinatorenrolle geschaffen werden, oder die Länder sollten sich darauf einigen, einer der großen Landesmedienanstalten diese Rolle zuzuweisen." Klingt nach vielen aufregenden Sitzungen.
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Stichwörter: Grundgesetz, Medienrecht

Politik

Eine Mehrheit der Amerikaner befürwortet das Recht auf Abtreibung, mehr als zwei Drittel der Amerikaner fordern laut Umfragen eine Neuregelung der Waffengesetze, schreibt die italienische Schriftstellerin Francesca Melandri, die in der NZZ die Strategie der Republikaner analysiert: "Der republikanische Ausbau der Ermächtigung einer demografischen Minderheit hat viel mit dem Schreckgespenst der Volkszählung 2042 zu tun. Dann zumal wird die weiße Bevölkerung nicht mehr die Mehrheit bilden. Und obwohl es nicht offensichtlich ist, dass Afroamerikaner oder Hispanics immer mehrheitlich für die Demokratische Partei stimmen (im Jahr 2020 waren die Stimmen der zutiefst antikommunistischen kubanischen Einwanderer ausschlaggebend dafür, dass Florida in den Händen der Republikaner blieb), hat Trump selbst vor Jahren gestanden: Wenn die Wahlen wirklich repräsentativ den Willen des Volkes abbilden würden, 'würden wir (die Republikaner) nie wieder gewinnen'. Wenn dem so wäre, könnten die Republikaner nur an der Macht bleiben, indem sie die Wahl unterdrückten oder manipulierten, wie es bei den letzten Wahlen versucht wurde." Melandri befürchtet, dass bald auch die gleichgeschlechtliche Ehe und das Recht auf gewerkschaftliche Vereinigung infrage gestellt werden könnten.
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