9punkt - Die Debattenrundschau

Zwölf Punkte beim Songcontest

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.07.2022. Im Moment sieht es so aus, als würde sich die russische Armee in der Ukraine festsetzen, aber das wird nicht so bleiben, prognostiziert der Militärhistoriker Lawrence Freedman in seinem Blog. Sind die Westeuropäer wirklich bereit, für die Ukraine einzutreten, fragt der belarussische Autor Sasha Filipenko in der FAZ Andrij Melnyk wird gehen. Ferda Ataman wird kommen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.07.2022 finden Sie hier

Europa

Der Militärhistoriker Lawrence Freedman publiziert einen seiner wie immer gut belegten, aber auch optimistischen Blogposts. Die Waffenlieferungen für die Ukraine treffen jetzt überhaupt erst ein, schreibt er. Und die Russen hätten, etwa auf der Schlangeninsel gezeigt, das sie sich schnell zurückziehen, wenn sie geschlagen werden: "Da wir eine Zeit des langsamen, zermürbenden Vormarschs Russlands hinter uns haben, würde man annehmen, dass auch die Ukraine eine hartnäckige russische Verteidigung wird überwinden müssen, so dass die dritte Phase wie die zweite aussehen könnte, nur mit vertauschten Rollen. Das ist nicht so offensichtlich, wie es scheinen mag. Nicht nur, dass die ukrainische Taktik wahrscheinlich eine andere sein wird. Auch müssen die Russen, wenn sie zurückgedrängt werden, entscheiden, inwieweit sie wirklich das von ihnen eroberte Territorium festhalten wollen und dafür das, was von ihrer Armee übrig ist, opfern wollen."

Europäische, besonders deutsche Intellektuelle, fordern die Ukraine auf zu kapitulieren. Wie weit entspricht das Stimmung in der Bevölkerung, fragt der belarussische Autor Sasha Filipenko in der FAZ: "Die Durchschnittseuropäer sind bereit, sich ehrenamtlich zu engagieren, Flüchtlinge aufzunehmen, Geld zu überweisen und den Opfern der Gewalt zu helfen. Aber sind sie auch bereit, für die Integrität Europas zu kämpfen, wenn ihnen dessen Grenzen nicht wirklich klar sind?" Genau darauf setzt Putin, ist sich Filipenko sicher: "Derzeit spielt Putin sich als Europas Lehrer auf, hält dem Europäer einen roten Stift und eine Landkarte hin und sagt: Zeichne ein, für welche Gebiete du dein Leben riskieren würdest!" Filipenkos bitteres Resümee: "Wir geben der Ukraine zwölf Punkte beim Songcontest und Russland - tut uns leid - neunzig Milliarden Euro für Gas."

Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk soll wohl abgezogen werden soll. taz-Korrespondent Stefan Clasen würde es begrüßen: "Zu viel Schaden hat dieser mit seiner öffentlichen Verehrung des ukrainischen Nationalisten und Antisemiten Stepan Bandera angerichtet. (...) Eine von Banderas OUN aufgestellte Miliz hatte Verhaftungen für die Massenerschießung von 3.000 Juden durch die Einsatzgruppe C der deutschen Sicherheitspolizei vorbereitet. Insgesamt wird Banderas Militärs die Beteiligung am Mord an 800.000 Juden vorgeworfen. Mit seinem Bandera-Kult ist Melnyk nicht nur denen in den Rücken gefallen, die die Ukraine unterstützen, weil sie an eine demokratische Ukraine glauben." Mehr zu Melnyks Abberufung hier. In einem längeren Beitrag des Historikers Grzegorz Rossoliński-Liebe auf dem Wissenschaftsportal Lisa der Gerda-Henkel-Stiftung, kann man sich eingehender über Banderas Verstrickung kundig machen.

Bandera selbst konnte keine Morde befehlen, da er sich zu dieser Zeit in Sachsenhausen befand, schreiben Gerhard Gnauck und Markus Wehner in der FAZ: "Die Kampfgruppen, die sich auf die OUN beriefen, töteten allerdings Tausende Juden, Polen und andere, die sie für Unterstützer der Sowjets hielten. Das ukrainische Außenministerium distanzierte sich von Melnyks Aussagen. Kiew ging es vor allem darum, eine Verstimmung mit Polen zu verhindern, dem engsten und treuesten Verbündeten der Ukraine."

Melnyk hatte sich in einem Videointerview mit Tilo Jung geäußert. Gnauck kann in einem zweiten Artikel für die Medienseiten der FAZ sein Unbehagen nicht verhehlen, dass Jung Themen wie Butscha in dem dreistündigen Interview eher beiseitelässt: "Statt dessen packte Jung seinen Zettelkasten aus, um Melnyk mit den Worten 'Wir müssen hier noch ein paar schwierige Themen durchgehen' einem historischen Verhör zu unterziehen. Melnyk ist kein Historiker, und so ließ er sich aufs Glatteis führen." Und er zitiert die ukrainische Journalistin Olga Woroschbyt: "Ja, die Ukrainer sollten ihre Geschichte noch mehr als bisher aufarbeiten. Aber damit sie das tun können, müssen sie erst einmal überleben."

Anders als vor acht Jahren könnten die Schotten im Oktober des kommenden Jahres für die Unabhängigkeit stimmen, glaubt die schottische Schriftstellerin A. L. Kennedy in der SZ. Die schottische Unabhängigkeitskampagne habe Schottland verändert, ein Jahrzehnt "des Wahnsinns und der Grausamkeit" habe die Briten erst zum "Gespött" und dann zu "Aussätzigen" gemacht, meint sie: "Für Putin und seine britischen Handlanger wäre Schottland als neues Mitglied einer florierenden EU ein Gräuel - ein Modell für Nationalstolz, der zugleich offen, selbstbewusst, zivilisiert und im Glauben an eine stabile Demokratie verankert ist. Seit dem letzten Unabhängigkeitsreferendum haben die Schotten gegen ihren Willen ihre EU-Mitgliedschaft eingebüßt. Sie sind gewaltsam wirtschaftlich schlechtergestellt worden, sie sind angeekelt von den ruinösen Folgen und den vielen Toten, welche die konservative/russische Regierung in Westminster zu verantworten hat. Viele wollen eine Veränderung. Aber wie viele?"

Außerdem: Im Aufmacher des SZ-Feuilletons berichtet Marlene Knobloch vom Frankfurter Kongress "Politik als Beruf", wo über den fehlenden Nachwuchs in der Politik diskutierte wurde: "In Hunderten Kommunen fehlen Bürgermeisterkandidaten, den Parteien brechen Mitglieder weg (in den letzten drei Jahrzehnten hat sich bei SPD wie CDU die Mitgliederzahl halbiert), die Wahlbeteiligung, gerade unter jungen Menschen, ist trotz Welt-Brisanz niedrig, das Vertrauen in Institutionen hat während Corona schwer gelitten." Besprochen wird die Ausstellung "Extreme Situationen, schnelle Entscheidungen. Helmut Schmidt gegen Sturmflut und RAF-Terror" in der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität (SZ).
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Gesellschaft

Gibt es hierzulande wirklich Cancel Culture - oder werden Einzelfälle nur medial aufgeblasen, fragt sich Johannes Schneider bei ZeitOnline. Klar, die Fronten seien verhärtet, schreibt er, aber es wäre "die Aufgabe starker Institutionen, zwischen diesen Fronten souverän zu agieren. Im aktuellen Fall der Humboldt-Universität hätte das geheißen: Vollbrecht erst gar nicht zur Langen Nacht der Wissenschaft einladen oder sie, wenn schon, aus begründeten fachlichen Bedenken wieder ausladen und nicht mit dem Hinweis auf die allgemeine Sicherheitslage. Eventuell auch: sie nicht auf den öffentlichen Druck hin wieder (wenn auch in einen anderen Kontext) einladen, das wirkt doch alles arg unsouverän und vor allem nicht von wissenschaftlichen Qualitätskriterien geleitet."

Heute wird wohl Ferda Ataman als Integrationsbeauftragte der Bundesregierung installiert - ein Geschenk an die linken Grünen, sagt man. Ataman hat im Vorfeld der Benennung professionell agiert und 10.000 ihrer Tweets gelöscht, berichtet Heike Schmoll in der FAZ. Einen davon hatte Ataman zu Beginn der Corona-Epidemie geschrieben: "Ich habe irgendwie eine Ahnung, welche Bevölkerungsgruppen in Krankenhäusern zuerst behandelt werden, wenn die Beatmungsgeräte knapp werden."

Es haben sich auffällig viele Menschen mit Migrationshintergrund kritisch zur Personalie geäußert, etwa Fatma Özdağlar, 26, studentische Beauftragte für Diversitätsförderung an der Berliner Charité, die bei Spiegel online schreibt: "Ich wurde als Kind türkischstämmiger Eltern in Berlin-Neukölln geboren, bin dort aufgewachsen und zur Schule gegangen. Ich habe hautnah erlebt, wie es ist, von anderen Menschen mit Migrationsgeschichte diskriminiert zu werden, weil ich nicht gefastet habe, Nagellack trug und einen besten Freund hatte." Sie wünsche ich als Integrationsbeauftragte jemanden, der sowohl Diskriminierung als auch Islamismus oder Clan-Kriminalität benennen könne. Ebenfalls in Spiegel online verteidigt der Soziologe Albert Scherr Ataman gegen eine "Kampagne".
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Politik

Das Urteil zum Recht auf Abtreibung in den USA zeigt beispielhaft, wie sich "ideologische Klientelpolitik" betreiben lässt, schreibt Katharina Riehl in der SZ auch mit Blick auf das polnische Urteil zur Abtreibung oder den Ausstieg der Türkei aus der Istanbul-Konvention: "Wenn politische oder religiöse Kräfte, egal in welchen Teilen der Erde, diese Errungenschaften infrage stellen, also auf Kosten von Frauen Klientelpolitik für all jene betreiben, die Gleichberechtigung und weibliche Selbstbestimmung als Angriff auf ihr Selbstverständnis verstehen, dann ist das nicht nur ein Rückschlag für den Feminismus."
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Medien

George Degiorgio, der mutmaßliche Auftragsmörder der maltesischen Journalistin Daphne Caruana Galizia, hat in einem Gespräch mit einem Reuters-Journalisten seine Tat ohne weiteres zugegeben - und übrigens ohne ein Zeichen des Bedauerns. Stephen Grey berichtet für die Agentur: "In seiner ersten Stellungnahme aus dem Gefängnis sagte George Degiorgio, wenn er mehr über Daphne Caruana Galizia gewusst hätte - die Journalistin, die er und zwei andere im Jahr 2017 getötet haben sollen - hätte er mehr Geld für die Ausführung des Anschlags verlangt." Degiorgio äußerst sich in einem sechsteiligen Podcast der Agentur zum Mord an der Journalistin. In der Hoffnung auf Straferleichterung will er andere Schuldige benennen.

Über "Schlesinger-Filz" beim RBB berichtet der Tagesspiegel. Gemeint ist die Intendantin des Berlin-Brandenburger Senders, Patricia Schlesinger: "Schlesingers Ehemann, Gerhard Spörl, bekam durch Vermittlung des RBB-Verwaltungsratchefs Wolf-Dieter Wolf einen lukrativen Beratervertrag. Dann soll Schlesinger in ihrem Privathaushalt Abendessen gegeben haben, die sie über den RBB abgerechnet hat. Beides ist von der Compliance-Abteilung des RBB geprüft und in keiner Weise gerügt worden."

Seit 2005 sind in den USA 2.500 Lokalzeitungen eingestellt worden, also ein Viertel der einst zehntausend, schreibt Jürgen Schmieder in der SZ. So entstehen "Nachrichtenwüsten", denn in zwei Dritteln der 3.143 Bezirke in den USA gebe es gar keine oder nur eine Tageszeitung. "Lokaljournalismus ist bedeutsam in einem solchen Land, denn: Was hat ein linksliberaler Kalifornier mit dem Republikaner aus Kentucky gemein außer der Übereinkunft, keinen gemeinsamen Nenner finden zu wollen? Wenn es niemanden mehr gibt, der über den Stadtrat oder den Skandal im Schulbezirk berichtet oder aufgrund der Monopolstellung eines Mediums nur so, dass es dessen Förderern gefällt, dann ist die Demokratie wirklich bedroht."
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