9punkt - Die Debattenrundschau

Ständig nur Opfer und Privilegierte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.07.2022. Stinkt nach zynischer Gleichgültigkeit, antwortet Serhij Zhadan auf den zweiten Brief der Emma-Friedenstruppe.  In der NZZ schildert Zhadan, wie eine kurze Episode der Ruhe in Charkiw zu Ende geht. Heute wird wohl Ferda Ataman zur unabhängigen Antidiskriminierungsbeauftragten des Bundes gewählt. Die Debatte über sie hat sich noch intensiviert: Sie soll sich der Diskussion mit ihren Kritikern stellen, fordert Hamed Abdel-Samad in der Jüdischen Allgemeinen. Der Journalist Stephan Anpalagan verteidigt Ataman gegen die "Kampagne von CDU, AfD, Bild, Welt und vielen anderen Medien".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.07.2022 finden Sie hier

Europa

Serhij Zhadan macht sich die Mühe, in der Zeit auf den zweiten Brief der Emma-Friedenstruppe (unser Resümee) zu antworten: "Indem sie einem falsch verstandenen Pazifismus anhängen - der nach zynischer Gleichgültigkeit stinkt-, legitimieren die Verfasser die Putinschen Propaganda-Narrative, die besagen, dass die Ukraine kein Recht auf Freiheit, kein Recht auf Existenz, kein Recht auf eine eigene Stimme hat, weil ihre Stimme den großen und schrecklichen Putin womöglich reizen könnte."

Einen zweiten Artikel schreibt Zhadan für die NZZ, wo er seine Kolumne über sein Leben in Charkiw fortsetzt. Das Leben sei nach den ersten Angriffen zurückgekehrt. Aber "die Ruhe hat sich - wie nicht anders zu erwarten - als Illusion erwiesen. Die Russen attackieren etliche Orte und ziehen Technik nach. Die Stadt wird wieder stärker beschossen. Weswegen die Zahlen der Toten und Verwundeten steigen. Es sind überwiegend Zivilisten. Da kann die russische Führung noch so oft betonen, die Angriffe blieben auf die militärische Infrastruktur beschränkt, es ist eine Lüge - die Russen feuern mit Raketen und Artillerie auf Wohngebiete, auf die Stadt Charkiw, auf die Vorstädte und das Umland, die Zivilbevölkerung leidet - Erwachsene und Kinder sterben, Wohnhäuser werden zerstört."

Die Talkshow-Philosophen Richard David Precht und Harald Welzer, die zur Emma-Brief-Fraktion gehören, machen sich unterdessen Sorgen, dass Medien nicht umstandslos ihre Meinung teilen und kündigen ein gemeinsames Buch an: "Die vierte Gewalt - Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist". In der Presseankündigung heißt es: "Die heutige Selbstgleichschaltung der Medien hat mit einer gelenkten Manipulation nichts zu tun. Die Massenmedien in Deutschland sind keine Vollzugsorgane staatlicher Meinungsmache. Sie sind die Vollzugsorgane ihrer eigenen Meinungsmache:  mit immer stärkerem Hang zum Einseitigen, Simplifizierenden, Moralisierenden, Empörenden und Diffamierenden. Und sie bilden die ganz eigenen Echokammern einer Szene ab, die stets darauf blickt, was der jeweils andere gerade sagt oder schreibt, ängstlich darauf bedacht, bloß davon nicht abzuweichen."

Die Nominierung Ferda Atamans zur Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung sorgt für immer heftigeren Streit. Heute soll sie im Bundestag gekürt werden. "Oppositionspolitiker aus Union und AfD, aber auch einzelne Vertreter der Regierungspartei FDP sprechen der Journalistin die Eignung ab", meldet dpa. "Sie bezeichnen Ataman unter anderem als 'linke Aktivistin', die für 'spaltende Identitätspolitik' stehe. SPD-Chefin Saskia Esken spricht von einer 'verleumderischen Kampagne'. Die Mehrheit für Ataman steht aber wohl."

Ataman hatte in einem Buch dargelegt, dass sie von hier sei, "Hört auf zu fragen", andererseits kontrollierte sie mit ihren "neuen deutschen Medienmachern" die Medien auf die Herkunft der Journalisten. In der Zeit erklärte sie die türkische Minderheit in Deutschland zur "Rasse" ("Wenn wir über Rassismus sprechen, sollten wir das Kind beim Namen nennen und auch 'Rassismus' sagen - 'Fremdenfeindlichkeit' oder 'Ausländerfeindlichkeit' taugen als Synonyme nicht und sind problematische Begriffe"). In der beginnenden Corona-Epidemie unterstellte sie, dass Menschen mit Migrationshintergrund in Krankenhäusern schlechter behandelt würden. In der NZZ kritisierte die FDP-Politikerin Linda Teuteberg Atamans identitätspolitische Position: "Identitätspolitik teilt Menschen in unentrinnbare Gruppenzugehörigkeiten ein, so dass sich ständig nur Opfer und Privilegierte gegenüberstehen. Das ist eine zutiefst illiberale Methode, die in Forderungen nach Quoten und umfassender Umverteilung mündet."

In der Jüdischen Allgemeinen bringt Hamed-Abdel Samad einen öffentlichen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz und kritisiert unter anderem, dass Ataman Kritik am Islam als rassistisch verunglimpfe - aber er signalisiert Gesprächsbereitschaft: "Wir wollen Frau Ataman nicht aus dem Diskurs verbannen. Wir wollen nur verhindern, dass sie über den Diskurs herrscht. Ich schlage vor, dass sich Frau Ataman, bevor sie dieses Amt übernimmt, zunächst einer Debatte mit ihren Kritikern stellt. Diese Debatte sollte am besten im Bundestag stattfinden, damit sich die Volksvertreter ein Bild von der Frau machen können, die nun für weniger Diskriminierung im Land sorgen soll."

Kritiker, die Ataman einen umgekehrten Rassismus vorwerfen, übersehen allerdings, "dass Rassismus und Diskriminierung nur in Kombination mit Macht wirksam werden", schreibt Esther Diestelmann auf der Website des Bayerischen Rundfunks. "Rassismus und Diskriminierung finden statt, wenn eine Mehrheit, die sich selbst als die Norm versteht, andere auf vielfältige Weisen abwertet und ausschließt. Das kann beispielsweise am Arbeitsplatz, in der Schule, bei der Wohnungssuche, aber auch im Umgang mit Behörden passieren."

Der Journalist Stephan Anpalagan verteidigt Ataman in einem langen Twitter-Thread (hier lesbar auf seinem Blog, hier in der FR) und verweist darauf, dass Ataman, die immerhin mal als Redenschreiberin für Armin Laschet gearbeitet hatte, zu Beginn ihrer Karriere durchaus auch über Themen wie Ehrenmorde, die Diskrimierung Homosexueller in der Türkei und Zwangsverheiratete geschrieben hatte - er zitiert Kolumnen von ihr aus Spiegel online aus den Jahren 2005 bis 2008. Anpalagan sieht Ataman als Opfer eine Kampagne, die maßgeblich von Autoren wie Ahmad Mansour betrieben werde. Anpalagan schließt: "Die Verleumdung von Ferda Ataman und die Kampagne von CDU, AfD, Bild, Welt und vieler anderer Medien verwundert nicht. Sie ist ein Symptom für eine gesellschaftliche, politische und mediale Schieflage, in der Rassismus und Rechtsextremismus verharmlost und diejenigen verfolgt werden, die sich offen und deutlich gegen Menschenfeindlichkeit aussprechen." Auch Matthias Meisner schreibt in der taz von einer Kampagne, die gegen Ataman geführt werde.

Das Gesetz wurde eigens geändert, um eine "unabhängige" Beauftragte einsetzen zu können, erläutert der Rechtswissenschaftler Gregor Thüsing in der Welt. Zuvor gab es nur eine Antidiskriminierungsstelle des Bundes, wo Beamte nach Qualifikation eingesetzt wurden. "Eine Besetzung nach politischem Gusto war ausgeschlossen. Das ist jetzt nicht mehr so. Denn um freie Hand bei der Besetzung zu haben, wurde das Gesetz geändert. Es war im Koalitionsvertrag schon so vereinbart worden, doch dann ging es unerwartet schnell. Die Leitung der Antidiskriminierungsstelle soll eben künftig ein Unabhängiger Bundesbeauftragter für Antidiskriminierung sein. Der Bundestag hat dies am 28. April so beschlossen, und die Regelung ist bereits am 28. Mai in Kraft getreten." Laut Constanze von Bullion in der SZ ist die heutige Wahl Atamans im Bundestag wohl sicher.

Den Rassismus- beziehungsweise Antirassismusbegriff Atamans erklärt Sebastian Wessels, Autor des Buchs "Im Schatten guter Absichten - Die postmoderne Wiederkehr des Rassendenkens", in der Berliner Zeitung am Beispiel des "Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors" (NaDiRa), den die ähnlich argumentierende Forscherin Naika Foroutan im Juni dieses Jahres vorgestellt hat. Hier wurden 5.000 Bürger repräsentativ zu Rassismuserfahrungen befragt. Das Dumme ist nur, dass die Frage schon die Antwort enthält, findet Wessels: "Die Studie unterscheidet unter den Befragten sechs 'rassifizierte Gruppen': Schwarze, Juden, Muslime, Asiaten, Osteuropäer sowie Sinti und Roma. 'Rassifiziert' bedeutet, dass die Mehrheitsgesellschaft den Betroffenen die Zugehörigkeit zu einer imaginären 'Rasse' aufgedrückt habe, um ihre Ausbeutung und Unterdrückung zu rechtfertigen. Die siebte Gruppe sind also diejenigen, die das tun, die Rassifizierer; Atamans 'Kartoffeln'."
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Ideen

Revisionistische Mächte seien stets die größte Bedrohung für den Frieden, verkündet Herfried Münkler in der Zeit. Diesen unartigen Jungs in geostrategischen Spiel könne man nur mit Appeasement, Verflechtung oder Abschreckung begegnen. Gegenüber Russland hätte man natürlich schon früher dezidierter agieren könne, aber ob das gut angekommen wäre? "Dann hätte man spätestens seit 2014 das Zwei-Prozent-Kriterium der Rüstungsausgaben übererfüllen müssen. Darauf wird es für die Zukunft hinauslaufen, und es bleibt abzuwarten, ob eine deutliche Mehrheit der Wähler diese Wohlstandseinbußen auf Dauer akzeptieren wird."

Die Konferenz "Hijacking the Memory - the Holocaust and the New Right" liegt zwar schon ein paar Tage zurück, aber ihre Teilnehmer veröffentlichen jetzt noch in der Berliner Zeitung einen öffentlichen Brief zur Verteidigung des Hauses der Kulturen und der  anderen Organisatoren, die die Konferenz ausrichteten. "Die Instrumentalisierung der Erinnerung an den Holocaust und des Kampfes gegen Antisemitismus durch rechte Akteure ist in unseren Augen ein besorgniserregendes und drängendes Problem." Es habe einen "Schwall an verleumderischen Vorwürfen aus unterschiedlichen Richtungen" gegeben. Dagegen wollten die Autoren ochmal "unterstreichen, dass die rechte Vereinnahmung und Instrumentalisierung des Holocaust-Gedenkens dem Kampf gegen Antisemitismus - aber auch dem Kampf gegen Rassismus auf der ganzen Welt - schadet".

Im Gespräch mit Vojin Saša Vukadinović kritisiert Ayaan Hirsi Ali im Schweizer Monat jenen Antirassismus, für den Ataman steht - Identitätspolitik sei an die Stelle von Religion getreten: "Ein Opfer zu sein - wie auch die Behauptung, dass andere Menschen grundsätzlich Opfer wären und deshalb nicht zur Verantwortung gezogen werden können - ist zur größten Tugend geworden. Inzwischen ist das fast wie eine neue Religion. Die Europäer haben das Christentum aufgegeben und nun diese neue Religion des Mitleids angenommen. Das verleiht ihnen eine Art Überlegenheitskomplex."
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Geschichte

Die NS-Verstrickungen der Flicks, Fincks und Quandts sind nicht ganz unbekannt, aber die Familien selbst begnügen sich, wenn überhaupt, mit akademischen Aufarbeitungen. In ihren Stiftungen oder auf ihren Webseiten sucht man die Distanzierung meist vergeblich, muss David de Jong, Autor des Buchs "Braunes Erbe", feststellen, wie er in einem Artikel in der New York Times, den die Berliner Zeitung übersetzt hat, schreibt: "Als ich Jörg Appelhans, den langjährigen Sprecher von Stefan Quandt und Susanne Klatten, nach der Verwendung der Namen ihres Großvaters und ihres Vaters für ihre Firmensitze und den Medienpreis fragte, schickte er mir eine E-Mail, in der es hieß: 'Wir glauben nicht, dass die Umbenennung von Straßen, Plätzen oder Institutionen ein verantwortungsvoller Umgang mit historischen Persönlichkeiten ist', weil dies 'eine bewusste Auseinandersetzung mit ihrer Rolle in der Geschichte verhindert und stattdessen deren Vernachlässigung befördert.' Eine besonders schamlose Verdrehung: Diese Familien zeigen die blutige Geschichte hinter ihrem Vermögen nicht, außer in Auftragsstudien in dichtem Akademiker-Deutsch, deren Ergebnisse sie bei der Beschreibung ihrer Familiengeschichte letztlich weglassen. Sie gehen nicht mal ehrlich mit ihnen um. Im Gegenteil: Sie gedenken ihrer Patriarchen, ohne deren Aktivitäten in der Nazizeit zu erwähnen."
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Gesellschaft

Nils Minkmar mokiert sich in der SZ über den Politikersprech vom "breiten gesellschaftlicher Dialog" zu allen möglichen Themen. "Da ein breiter gesellschaftlicher Dialog sowieso nie an ein Ende kommt, dient er als Wiedervorlageförderband für Fragen, die in Wahrheit längst entschieden sind."
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Medien

Die FAZ macht sich für Pressesubventionen stark: Sachsen und Niedersachsen starten eine Bundesratsinitiative, um der Presse Förderung zukommen zu lassen, berichtet Helmut Hartung. Die vorherige Regierung wollte vor dem Wahlkampf bereits 200 Millionen Euro locker machen, zog aber zurück, nachdem Internetmedien mit Klagen drohten. Aber aufgegeben ist die Idee nicht: "Mit einer Bundesratsinitiative setzen die Länder ein Signal, sie können die Bundesregierung aber nicht zum Handeln zwingen. Es ist offen, ob und wann die Regierung ihre Verpflichtung aus dem Koalitionsvertrag, die flächendeckende Versorgung mit periodischen Presseerzeugnissen zu gewährleisten und dafür geeignete Fördermöglichkeiten zu prüfen, umsetzt."
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Stichwörter: Niedersachsen