9punkt - Die Debattenrundschau

Gegenstand aus Holz

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.07.2022. David Patrikarakos schildert für Unherd Szenen der Gewalt aus den von den Russen besetzten Gebieten um die Stadt Cherson.  Jean-Baptiste Jeangène Vilmer erklärt in Le Monde, warum der modische "Realismus" in außenpolitischen Fragen keiner ist. Die Unterzeichner der Emma-Briefe machen sich zu "Anwälten eines Aggressors", sagt Marina Weisband in der FAS. Der Slawist Wolfgang Kissel erzählt in der FAZ, warum das Abreißen und Wiederaufstellen von Puschkin- und Schewtschenko-Büsten im Ukraine-Krieg eine so große Rolle spielt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.07.2022 finden Sie hier

Europa

David Patrikarakos schildert für Unherd Szenen aus den von den Russen besetzten Gebieten um die Stadt Cherson. Die Russen zwingen die verbliebene Bevölkerung so weit sie können zur Kollabaration. Aber es gebe eine Menge Leute, die sich nicht dazu zwingen lassen wollten. "In den Städten Melitopol und Kakhovka wurden diejenigen, die sich weigerten - meist Frauen mittleren Alters - zusammengetrieben und in einen Keller gesteckt, ohne Essen oder Zugang zu einer Toilette. Dann wurden sie dreißig Kilometer aus der Stadt gefahren und am Straßenrand zurückgelassen. Ihnen wurde gesagt, sie müssten bis zur Ausgangssperre zurückkehren, sonst würden sie auf der Straße umgebracht." Umgekehrt ist es auch nicht gemütlich: "Es ist schwer einzuschätzen, wie viel gewaltsamen Widerstand es gibt. Die meisten Fälle werden nicht publik gemacht, weil die Russen nicht schwach oder verletzlich erscheinen und die Partisanen ihre Sicherheit nicht gefährden wollen. In Kleinstädten gibt es viele Fälle, in denen Jugendliche mit Messern auf betrunkene Soldaten einstechen. Niemand sagt etwas, weil das sowohl für die Russen als auch für die Jugendlichen schlecht ist."

Eine andere Szene aus der Region um Cherson:

Die Politikerin Marina Weisband, die in der Ukraine aufgewachsen ist und Familie hat, übt im Gespräch mit Julia Encke in der FAS scharfe Kritik an den Emma-Briefschreibern. Es seien nie Forderungen an Putin in diesen Briefen enthalten: "Zu sagen: Wir müssen den Krieg schnell beenden, weil Leute hungern, aber dabei nicht zu sagen: Wir fordern, dass Russland die Hafenblockade öffnet und das Getreide ausfahren lässt, sondern zu sagen: Die Ukraine muss kapitulieren, damit Putin das Getreide verkaufen kann, das ist Kreml-Linie. Das sind Anwälte eines Aggressors, eines Völkerrechtsbrechers, und mir fehlt dafür Verständnis, trotz aller Liebe zur offenen Debatte."

Aus der Kriegschronik:

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Ideen

Jean-Baptiste Jeangène Vilmer, Direktor des Institut de recherche stratégique de l'Ecole militaire in Paris wendet sich in einem Gastbeitrag für Le Monde gegen den heute wieder modischen "Realismus" in  der Betrachtung poltischer Konflikte, der von der Ukraine verlangt, sich um höherer Interessen willen zu unterwerfen. Es gebe einen echten und falschen Realismus, sagt er unter Bezug auf Raymond Aron, der sich schon im Kalten Krieg gegen den Zynismus von Realpolitik wandte: "Echte Realisten sind weit davon entfernt, moralische Erwägungen aus ihren Analysen auszuschließen, sondern achten lediglich darauf, dass diese Erwägungen nicht von den Zwängen der Realität abstrahiert werden. Die realistische Ethik ist die Ethik des geringeren Übels. 'Es ist nie der Kampf zwischen Gut und Böse', sagt Aron, 'sondern zwischen dem Vorzuziehenden und dem Verabscheuungswürdigen' - und insofern ist diese Ethik tragisch. Aber sie ist nicht weniger eine Ethik."
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Stichwörter: Aron, Raymond

Geschichte

Der Slawist Wolfgang Kissel erzählt in der FAZ, warum das Abreißen und Wiederaufstellen von Puschkin- und Schewtschenko-Büsten im Ukraine-Krieg eine so große Rolle spielt. Um Puschkin wurde zunächst von den Zaren, später wieder von Stalin (im Gegensatz zu Lenin) ein imperial-zentralistischer Kult betrieben. Unter Stalin wurde der Puschkin-Kult nur vom Stalin-Kult selbst übertroffen, so Kissel. Während Schewtschenko das Bestreben osteuropäischer Länder verkörpert, dem Bann Russlands zu entkommen, auch indem man die eigene Sprache behauptet - Dichter spielten darum im 19. Jahrhundert  in den entstehenden Nationen eine solch zentrale Rolle. Aber nach dem Tod Schewtschenkos "wurde das Ukrainische im Zarenreich unterdrückt, seine Entwicklung zu einer modernen Wissenschafts- und Kommunikationssprache sollte verhindert werden. Werkausgaben ukrainischer Dichter, so auch von Schewtschenko, erschienen jedoch weiterhin in Lemberg, das seit 1772 zur Habsburger-Monarchie gehörte und wo weitaus günstigere Bedingungen für die ukrainische Sprache und Schriftkultur bestanden. Dort lehrte der Historiker Mychajlo Hruschewskyj, der heute als Hauptvertreter einer großen Erzählung ukrainischer Geschichte angesehen wird."
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Kulturpolitik

In prächtigem Ornat und unter Wahrung des höfischen Zeremoniells nahm König Asabaton, der Fon von Fontem im westlichen Kamerun, im Rautenstrauch-Joest-Museum der Stadt Köln eine Figur eines Pfeifenträgers entgegen, die seinem Volk vor über hundert Jahren gestohlen worden war. Patrick Bahners berichtet in der FAZ, wie der König die Figur zunächst dreimal berühren durfte. Für den König und die ihn begleitende Delegation sei der Pfeifenträger ein verschollener Verwandter: "Die Hoffnung, die sie an seine Heimkehr knüpfen, könnte kühner nicht sein. Seit der Niederlage gegen die Deutschen liegt ein Fluch auf ihrem Reich, und alles soll sich zum Besseren wenden, wenn die heimgeholte Trophäe in ihrer natürlichen Umwelt wieder ihre spirituelle Kraft entfaltet. Soll man darüber staunen, dass Absolventen internationaler Universitäten, die als Unternehmensvorstände und Professoren arbeiten, einem Gegenstand aus Holz zutrauen, solche Wunder zu wirken?"
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Politik

Neulich griff Boko Haram ein Gefängnis an und befreite seine 900 Insassen, viele von ihnen radikale Islamisten. Der nigerianische Präsident reagierte mit einem hilflosen Tweet, erzählt Dominic Johnson in der taz. Nigeria müsste eigentlich eine Großmacht sein, mit weit über 200 Millionen Einwohnern. In dem Land werden mehr Kinder geboren als in der ganzen EU, so Johnson. "Sie wachsen auf in einem Land, in dem Perspektiven schwinden. Nicht nur bewaffnete Islamisten machen das Leben von Millionen zur Hölle. Im Juni warnte das Council of Foreign Relations in den USA: 'Nigeria erlebt einen dramatischen Anstieg von Alltagsgewalt, darunter Entführungen, religiös motivierte Angriffe, Überfälle durch bewaffnete Banden und Polizeibrutalität. Die Behörden haben das Chaos nicht im Griff.'" eines der Probleme sei die in Afrika weitverbreitete Gerontokratie: "Junge Kräfte haben in Nigeria nichts zu melden. Nur 7,5 Prozent der Bevölkerung sind älter als 55 Jahre, aber diese Altersgruppe monopolisiert fast alle Machtposten."
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Stichwörter: Nigeria, Boko Haram

Medien

Nick Cohen rechnet im Observer mit Boris Johnson ab. Und auch mit den Medien, die ihn ermöglicht hatten: "Die Sun, die Mail, der Express und der Telegraph waren mehr als nur Opfer einer Kultur der Abhängigkeit. Von gelegentlichen ehrenwerten Ausnahmen abgesehen, waren sie ein aktiver und williger Arm des Johnsonschen Staates. Sie boten dem Premierminister einen privatisierten Propagandadienst mit Cheerleadern, Schönrednern, Rüpeln und Spionen. Johnson war einer der ihren. Sie liebten ihn dafür."
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Stichwörter: Johnson, Boris, Spio