9punkt - Die Debattenrundschau

Ganz friedlich einmarschieren

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.07.2022. Der absolut chaotische Beschuss von Wohnhäusern, Schulen, Krankenhäusern, Verwaltungsgebäuden, der Infrastruktur des Hafens und der Felder ist charakteristisch für Russlands Krieg in der Ukraine geworden, berichtet Anastasia Magasowa für die taz aus Mykolajiw. Ralf Fücks fürchtet in Spiegel online, dass die Solidarität mit der Ukraine wegbricht. In der FAZ fordern Militärexperten ein dezidierteres Agieren der deutschen Politik. Omri Boehm attackiert in der Zeit Natan Sznaider und den Zentralrat der Juden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.07.2022 finden Sie hier

Europa

Anastasia Magasowa berichtet für die taz aus der Stadt Mykolajiw, die zwischen Odessa und Cherson liegt. Die Schlachten fänden zwar zwanzig bis dreißig Kilometer entfernt statt, aber dennoch "schlagen jeden Tag russische Marschflugkörper und Artilleriegeschosse in der Stadt und ihrer Umgebung ein. Der absolut chaotische Beschuss von Wohnhäusern, Schulen, Krankenhäusern, Verwaltungsgebäuden, der Infrastruktur des Hafens und auch der bestellten Felder ist charakteristisch für Russlands Krieg in der Ukraine geworden. In den vergangenen Wochen haben die russischen Streitkräfte ihre Taktik geändert: Schossen sie anfangs zwei, drei Raketen ab, von denen die ukrainische Luftabwehr die meisten zerstören konnte, werden jetzt zehn bis zwölf Raketen gleichzeitig abgefeuert, die nicht mehr alle abgefangen werden können."

Eine beeindruckende Reihe von Experten, darunter der ehemalige Generalleutnant Heinrich Brauß und die Militärforscher Sönke Neitzel und Carlo Masala, legt in der FAZ ein dezidiertes Papier gegen die Idee eines  "Kompromisses" mit Putin vor. Sie fordern die Stärkung militärischer Kapazitäten im Westen, besonders mit Blick auf Deutschland, und außerdem eine klare Ansage über kommende Entbehrungen. "Solange Russland die völlige Unterwerfung der Ukraine mit Waffengewalt durchsetzen will, besteht für eine seriöse diplomatische Lösung derzeit leider kein Spielraum. Auf keinen Fall dürfen die Souveränität und Freiheit anderer Völker Gegenstand westlicher Verhandlungsangebote sein." Die Chancen stünden aber für den Westen angesichts der recht dürftigen Performance der russischen Kriegsführung recht gut.

Ralf Fücks fürchtet bei Spiegel online, dass die Solidarität mit der Ukraine wegbricht: "Die Forderung, die Ukraine möge einem Ende des Krieges nicht länger im Wege stehen und Putin geben, was er fordert, gewinnt an Boden. Clausewitz hat diese Verkehrung von Täter und Opfer auf die ironische Formulierung gebracht, dass letztlich der Verteidiger schuld am Kriege sei, weil er sich dem Angreifer in den Weg stellt: Der Aggressor würde gern ganz friedlich einmarschieren." Fücks deutet Olaf Scholz' zweideutige Äußerungen zum Krieg ("Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen, die Ukraine nicht verlieren") so, dass Deutschland auf einen Waffenstillstand setzt, bei dem nur noch die Frage ist, ob Odessa und Charkiw zu den von Russland besetzten Gebieten gehören oder nicht.

"Jeder totalitäre Staat ist ein Konzentrationslager", sagt die russische Journalistin Irina Rastorgueva - aktuelles Buch "Das Russlandsimulakrum" - im Welt-Gespräch mit Andrea Seibel. Genau könne man nicht sagen, wie viele Menschen in Russland den Krieg unterstützen, erklärt sie außerdem: "Es gibt einige indirekte Indikatoren, die beziffern, was in diesem Land nicht stimmt: vier Millionen Emigranten, eine erhöhte Nachfrage nach Antidepressiva, zu wenig Freiwillige, die an die Front gehen. Und volle Säle bei den Konzerten des russischen Rockmusikers Juri Schewtschuk, der sich offen gegen den Krieg ausspricht.' Außerdem "erhalten viele derjenigen, die sich gegen den Krieg ausgesprochen haben, Drohungen per Telefon und Post, und an ihren Türen stehen oft Aufschriften wie: 'Hier wohnt ein Nazi und Verräter' oder ihre privaten Telefonnummern und Kontakte werden veröffentlicht."

In Frankreich existiert das Hufeisen - extremistische Gegner Macrons von links und rechts haben zusammen in der Assembée nationale mehr Stimmen als die Regierungsfraktion. Nun haben sie sich verbündet und gemeinsam gegen neue Maßnahmen in der sich wieder verschärfenden Coronakrise gestimmt, berichtet Michaela Wiegel in der FAZ. Marine Le Pen, die den Impfgegnern nahesteht, habe auf Twitter gejubelt. "Sie hat wiederholt gefordert, Impfgegner im Krankenhauswesen wieder einzustellen. Die Sitzung wurde von der früheren Krankenpflegerin Caroline Fiat von der Linkspartei La France Insoumise (LFI) geleitet. Fiat hat sich wiederholt gegen die Impfpflicht für Gesundheitspersonal und die Überprüfung des Impfstatus ausgesprochen. Bis spät in die Sommernacht kam es zu einer hitzigen Debatte in der Nationalversammlung, die mehrmals unterbrochen werden musste."
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Medien

Erdogan kontrolliert bereits jetzt 95 Prozent der türkischen Medien, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. Zur Sicherheit erklärt er aber noch ein paar Regeln: "Berichterstattung dürfe nicht gegen 'die allgemeine Moral und den Schutz der Familie' verstoßen. Nachrichten, die nicht im Einklang mit den 'nationalen und gesellschaftlichen Werten' stehen, dürfen nicht gebracht werden. Und wer entscheidet darüber, ob Berichterstattung nun diesen Regeln entspricht? Selbstverständlich die Beamten des Palastes. Zeitungen, die sich nicht an die Regeln halten, erhalten von der öffentlichen Hand keine Anzeigen mehr, und die Presseausweise ihrer Mitarbeiter werden annulliert."
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Politik

Die Aufhebung von Roe vs. Wade war überfällig, schreiben die Rechtswissenschaftler Christian Funck und Thomas Funck in der FAZ. "Roe hatte keine Grundlage in der US-Verfassung." Der damalige Spruch des Supreme Court habe das Recht auf Abtreibung aus dem Schutz der Privatsphäre abgeleitet, zudem seien die Fristen für Abtreibung extrem großzügig gesetzt: "Roe war auch im internationalen Vergleich äußerst weitgehend. Nur in weltweit acht anderen Staaten sind indikationslose Abtreibungen nach der 20. Schwangerschaftswoche noch zulässig. In Deutschland wäre die in Roe festgeschriebene Regelung verfassungswidrig." Allerdings fürchten die Autoren nun in den USA ein Gesetzgebungschaos.
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Ideen

Wir leben in einer "Polykrise", erklärt Adam Tooze in der Zeit. Eine Polykrise sei die die gleichzeitige Verschränkung mehrerer Krisen mit möglicher gegenseitiger Verstärkung: "Diese Wechselwirkungen können durch Krisenbilder veranschaulicht werden. Ein Beispiel: Kommt es zu einer weltweiten Rezession, dürften angesichts der zu erwartenden Einkommensverluste die Gefahren für die Stabilität der amerikanischen Demokratie zunehmen. Die Spannungen im europäischen Währungsraum würden wachsen. Die Ernährungsproblematik in den Entwicklungsländern würde sich verschärfen. Und sehr wahrscheinlich würden in vielen Staaten die Investitionen in die Energiewende zurückgehen - mit Folgen für den Kampf gegen den Klimawandel."

Ebenfalls in der Zeit spricht Udo Di Fabio im Interview mit Tina Hildebrandt und Heinrich Wefing über patriotische Pflicht der Bürger und die Frage, wie weit der Staat gehen darf, um bei Knappheit den Zugang zu Gütern zu regulieren: "In echten Notlagen kann der Staat priorisieren oder zuteilen. Doch wenn es Möglichkeiten gibt, vorübergehende Engpässe unter globalen Bedingungen zu überwinden, dann macht das der Markt regelmäßig besser als der Staat, da bin ich sicher. Die Findigkeit von Unternehmen, Lieferketten neu zu gestalten, ist deutlich höher als die eines Regierungsdirektors im Wirtschaftsministerium. Deshalb bleibe ich dabei: Der Staat schafft einen Ordnungsrahmen, aber er sollte die Verteilungsentscheidungen nur im äußersten Notfall, also im Triage-Fall, übernehmen und ansonsten auf Marktmechanismen verbunden mit sozialen Kompensationen setzen. "

Scharf attackiert Omri Boehm in der Zeit die Kritiker der "Hijacking Memory"-Konferenz wie Natan Sznaider und Daniel Botmann vom Zentralrat der Juden und verteidigt de Mandarine des "Weltoffen"-Papiers, die ihre Institutionen für Anhänger des Israel-Boykotts öffnen wollen. BDS sei nicht antisemitisch, obwohl es auch BDS-Anhänger gebe die "anti-universalistisch" agierten. Bei der "Hijacking"-Konferenz seien 80 Prozent der Teilnehmer jüdisch gewesen. "Mag er sich auch noch so sehr über einen stillschweigenden BDS-Boykott gegen Juden und Israelis beklagen: Der Zentralrat ist zu einer viel mächtigeren Bedrohung für den öffentlichen Auftritt von Juden in diesem Land geworden. Die aktuellen Angriffe auf die Konferenz Hijacking Memory sind nur der Gipfel einer Serie von Vorfällen, die im Sommer 2019 mit dem Vorwurf an das Jüdische Museum Berlin begonnen haben, es sei nicht hinlänglich jüdisch. Es ist bezeichnend, dass Botmann, der inzwischen versucht, die Autorität jüdischer Personen und Institutionen, die die Politik des Zentralrats nicht teilen, systematisch zu untergraben, auch das angesehene Einstein Forum und das führende Zentrum für die Erforschung des Antisemitismus verleumdet." Boehms Artikel antwortet auf einen Sznaider-Artikel von Juni (unser Resümee). Hanno Hauenstein sieht es in der Berliner Zeitung ähnlich wie Boehm.

Und nochmals in der Zeit porträtiert Xifan Yang den Soziologen Xiang Biao, der zu den Leitern des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung in Halle gehört und offenbar in China ein viel gelesener Intellektueller ist.
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