9punkt - Die Debattenrundschau

Der Wunsch nach Echtheit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.07.2022. Europa befindet sich gegenüber dem längst schon siegreichen Putin in einer total aussichtslosen Situation, ist sich Jörg Baberowski bei t-online.de sicher. Die Mehrfachraketenwerfer vom Typ Himars haben dabei aber noch ein Wörtchen mitzureden, informiert die SZ. Sehr viel wird in den Medien über den Misserfolg der westlichen Sanktionen diskutiert. Auch in der italienischen Regierungskrise spielt der Krieg gegen die Ukraine eine Rolle, berichtet die FAZ. Xi Jinping nimmt unterdessen in Xinjiang eine Parade gleichgeschalteter Uiguren ab, berichtet ebenfalls die FAZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.07.2022 finden Sie hier

Europa

Europa befindet sich gegenüber dem längst schon siegreichen Putin in einer total aussichtslosen Situation, ist sich Jörg Baberowski in einem endlosen Interview mit Marc von Lüpke und Florian Harms von t-online.de sicher (wir tragen es nach, es ist schon am Donnerstag erschienen). "Zögen sich die USA aus dem Konfrontationsgeschehen zurück, stünden die Europäer Putin allein gegenüber. Spätestens dann werden die ersten europäischen Staaten aus der Anti-Russland-Koalition ausbrechen. In Deutschland sind die Fragezeichen zweifellos größer als in Polen. Aber Deutschland hat auch ein größeres Gewicht in der europäischen Gemeinschaft. Wenn in Deutschland und Frankreich die Zweifel wachsen, ist es um die Einheit Europas geschehen. Das alles weiß Putin, und er wird so lange Krieg führen, bis die Zweifel im Westen Europas zur Gewissheit werden." Für Europa bleibt laut Baberowski nur "Realpolitik", für die er Olaf Scholz ausdrücklich lobt. Die Ukraine widersetze sich Putins Angriffskrieg zwar zurecht, aber ohne Aussicht auf Erfolg: "Wer sich ihm erfolgreich widersetzen will, darf doch auch die Grenzen des Möglichen nicht aus den Augen verlieren."

Das einzige, wozu die russische Armee im Donbass fähig scheint, ist unpräziser Artilleriebeschuss. Allein die acht bisher an die Ukraine gelieferten Mehrfachraketenwerfer vom Typ Himars haben sich als Gamechanger erwiesen. Denn sie ermöglichen den hochpräzisen Beschuss von Zielen hinter den russischen Linien, berichtet Sebastian Gierke in der SZ: "Eine einzelne Himars-Rakete kostet 155.000 Dollar - bei dem Preis verwundert es nicht, dass es um Ziele höchster Priorität geht. Dazu zählen vor allem Munitionsdepots, Kommandoposten und Lagerstätten von wichtigem militärischem Gerät oder Werkstätten. Solche Logistikzentren brennen seit ungefähr drei Wochen jeden Tag in dem von Russland besetzten Gebiet; das zeigen Videos, Bilder, aber auch das Nasa-System Firms, das mithilfe von Satelliten große Brände lokalisiert und auf eine Karte überträgt." Weitere Systeme sollen geliefert werden, auch ähnliche System aus Deutschland.

Seit fünf Monaten dauert der Krieg. Tausende russische Soldaten sind gefallen. In der russischen Gesellschaft regt sich kein Mucks. Mit einem Regime aus Lüge und Angst hat Putin das Land im Griff, notiert Frank Nienhuysen in der SZ. Zehntausende Menschen sind geflüchtet: "Putin lässt sie, im Ausland können sie weniger stören." Und "dort, wo das Nach-Wende-Russland über drei Jahrzehnte Pluralismus wenigstens in privater Runde kannte, herrscht nun zunehmend Schweigen. Denn das ist jetzt oft zu hören: dass über Politik nicht mehr geredet wird. Angst kriecht in viele Familien, vor unüberbrückbarem Streit, vor Entfremdung." In der taz berichtet Katja Kollmann über die neue russische Diaspora in Georgien.

Eine Gruppe von Professoren, darunter Andreas Rödder, antworten in der Welt auf den zweiten Brief der Emma-Briefautoren, der in der Zeit erschienen war (unser Resumee): "Im Kern wollen die Autoren in der Zeit den Aggressor Putin beschwichtigen, weil sie glauben, sich damit seinen guten Willen zu erheischen und den Krieg zu beendigen. Diese Annahme ist falsch. Diktatoren lassen sich nicht beschwichtigen. Die Deutschen, mehr als alle anderen Staaten Europas, sollten wissen, dass Hitler nach seinen Blitzkriegen mit militärischer Gewalt von seinem Wüten abgebracht, geschlagen werden musste."

Im Krieg lernt mach auch etwas über die Funktionsmechanismen von Sanktionen. Bisher sieht es so aus, als seien dem Westen seine Sanktionen auf die Füße gefallen, weil Putin seine geringeren Gaslieferungen vorerst noch über den höheren Preis kompensieren kann. Der Ökonom Lion Hirth zieht darum im Gespräch mit Benjamin Hirsch vom Tagesspiegel folgende Lehre: "Sinnvoller wäre gewesen, entweder so viel russisches Gas zu beschaffen wie irgend möglich, etwa indem man den Spielraum bei Langfristverträgen voll ausgeschöpft hätte, um damit den Preis in Schach zu halten. Oder man hätte hart spielen und Gazprom von Anfang an einen Maximalpreis von beispielsweise 50 Euro je Megawatt-Stunde bieten müssen, take it or leave it, unter der Androhung eines Embargos. So aber hat Putin Europa auf dem Gasmarkt im letzten Jahr an die Wand gespielt und finanziell ausgepresst wie eine Zitrone."

Die französische Russlandexpertin  Françoise Thom resümiert in einem instruktiven Artikel bei deskrussie.fr Diskussionen russischer Medien zum Thema: Und "die russische Presse zitiert genüsslich eine Studie der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, die 'ergab, dass ein plötzlicher Stopp der russischen Gaslieferungen zu einem Rückgang der deutschen Wirtschaft um 12,5 Prozent und zum Verlust von 5,6 Millionen Arbeitsplätzen führen wird. Diese Prognosen übertreffen bereits - und zwar erheblich - selbst die pessimistischen Prognosen über eine Schrumpfung der russischen Wirtschaft... Das ausmaßder Rezession in der deutschen Wirtschaft kann zu einem Problem für die Stabilität der gesamten Europäischen Union werden'."

Der eigentliche Grund für die Regierungskrise in Italien ist, dass Ministerpräsident Mario Draghi mit seiner Solidarität zur Ukraine unter rechten und linken Putin-Freunden in der italienischen Politik recht alleine dastand, vermutet Matthias Rüb in der FAZ: "Weder bei den Fünf Sternen noch bei der Lega und auch nicht bei Berlusconi haben sich die alte Verbundenheit mit Russland und die über die Jahre gewachsene Zuneigung zu Präsident Wladimir Putin in Luft aufgelöst. Immer lauter wird die Forderung, Kiew solle zu Verhandlungen mit Moskau und zu Gebietsabtretungen an Russland gedrängt statt weiter aufgerüstet werden. Sollte sich nach den Fünf Sternen nun auch noch die Lega von Draghi abwenden, würde das weit mehr mit der Ukraine als mit der italienischen Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialpolitik zu tun haben."
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Internet

Jacob Mchangama, ein dänischer Menschenrechtsanwalt und Forscher zum Thema soziale Medien und Meinungsfreiheit, warnt in der taz vor zensorischen Folgen des von der EU geplanten "Digital Services Act" (DSA): "Ein von mir mitverfasster Bericht aus dem Jahr 2021 ergab, dass nationale Gerichte in fünf europäischen Demokratien durchschnittlich 778,47 Tage brauchen, um Fälle von Hetzreden abzuurteilen. Die sehr kurzen Löschungsfristen bedeuten, dass Technologieplattformen in wenigen Stunden oder Tagen rechtliche Entscheidungen treffen müssen, für die geschulte Juristen Monate oder Jahre benötigen. Dies wird angesichts der hohen Bußgelder für die Nichteinhaltung fast zwangsläufig dazu führen, dass Plattformen aus Furcht vor hohen Bußgeldern auch rechtmäßige Inhalte löschen."

Ebenfalls in der taz spricht Tobias Schulze mit dem Politologen Tobias Fella über die Selbstdarstellung der Ukraine und Russlands in den sozialen Medien.
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Ideen

Der Schriftsteller Christian Baron legt in der SZ einen etwas wirren Essay über das Fehlen einer ordentlichen Linken vor, die sich für Frieden mit Russland und arme Menschen einsetzt. Eine interessante Beobachtung aber macht er: "So ist es im Film und am Theater in weiten Teilen nicht länger erwünscht, etwa die Rolle einer trans Person an einen Schauspieler zu vergeben, der als Cis-Mann gilt. Wer den Part eines türkischen Gemüsehändlers nicht zumindest mit einem türkeistämmigen Deutschen besetzt, der kann sich auf was gefasst machen. Interessanterweise verlangt aber niemand, dass der türkische Gemüsehändler auch von einem Gemüsehändler gespielt wird. Der Wunsch nach Echtheit endet also exakt bei der sozialen Klassenzugehörigkeit."

In der taz  spricht Nora Bossong ("Die Geschmeidigen") im Interview mit Peter Unfried episch über ihre offenbar recht uninteressante Generation.
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Politik

Xi Jinping ist zum zweiten Mal in seiner Karriere als chinesischer Parteichef nach Xinjiang gefahren. Beim ersten Mal, 2014, wies er die Behörden an, "keine Gnade" walten zu lassen und initiierte damit das System der Internierungen in der Provinz. Diesmal reiste er an, um die Wirkungen seiner Gleichschaltung mit Zufriedenheit abzunehmen, berichtet Friederike Böge in der FAZ: "Als Zeichen des angeblich harmonischen Zusammenlebens führten Uiguren für ihn traditionelle Tänze auf. Musikern der kirgisischen Minderheit sagte Xi, 'die große chinesische Zivilisation setzt sich aus hervorragenden Kulturen verschiedener ethnischer Gruppen zusammen'. Kulturelles Erbe müsse besser geschützt werden. In den Ohren vieler Bewohner müssen seine Worte wie Hohn klingen."

Vor knapp einem Jahr wurde der haitianische Präsident Jovenel Moïse ermordet. Seitdem herrscht in Haiti eine entfesselte Gewalt. "Allein in dieser Woche sind in der Hauptstadt Port-au-Prince an die neunzig Menschen getötet worden", schreibt Hans-Christoph Buch in der FAZ: "Haiti ist das extreme Beispiel eines gescheiterten Staats, dessen Niedergang nicht, wie von Utopisten erhofft, kreative Energien freisetzt, sondern sich in blinder Gewalt gegen die verwundbarsten Mitglieder der postkolonialen Gesellschaft entlädt."
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