9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Linke, die sich selbst vergisst

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.07.2022. In Foreign Affairs schildern Andrei Soldatov and Irina Borogan den Krieg gegen die Ukraine als totale Machtübernahme des FSB. In der Zeit meditiert Thomas E. Schmidt über die vertrackte und nicht unschuldige Psychologie der Restitution. Ebenfalls in der Zeit wirft der Historiker Georgiy Kasianov einen wohltuend nüchternen Blick auf ukrainische Nationalerzählungen. In der FAZ verteidigen Saba-Nur Cheema und Meron Mendel die zur Funktionärin gemachte Aktivistin Ferda Ataman gegen ihre säkularen Kritiker.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.07.2022 finden Sie hier

Europa

Andrei Soldatov and Irina Borogan schildern den Ukrainekrieg in Foreign Affairs als eine Art totaler Machtergreifung des KGB-Nachfolgers FSB von Putins Gnaden: "Für Operationen in Russland sind die Anti-Terror-Einheit des FSB, seine Spionageabwehr und seine Ermittlungsabteilung zuständig. Unterdessen führen FSB-Spezialeinheiten und die militärische Spionageabwehr Operationen durch, die auf ukrainische Bedienstete in den besetzten Gebieten und darüber hinaus abzielen, ukrainische Agenten rekrutieren und diejenigen auswählen, die der FSB in Schauprozessen vor Gericht stellen will. FSB-Agenten sind an den russischen Grenzen stationiert, und der Wirtschaftssicherheitsdienst, der oft als die korrupteste Abteilung des FSB angesehen wird, hat die russische Wirtschaftspolitik mit Nachdruck durchgesetzt."

"Der Russe ist glücklich, wenn er zerstört", schreibt Viktor Jerofejew in der Welt: "Mit Beginn des Krieges in der Ukraine ist Putin für den Westen schlicht zum teuflischen Ungeheuer, zum Bösen an sich geworden - nicht aber für das russische Volk. Er hat das Geheimnis vom Glück des Volkes geknackt, denn er kommt selbst aus dem Volk. Er hat verstanden, dass weder Komfort, noch Lebensstandard oder Freundschaft mit dem Westen für das russische Volk an erster Stelle stehen. Das russische Volk hat andere Maßstäbe für Glück. (…) Das russische Glück ist die Verletzung jeder Norm. Auf diese Weise darf man in der Ukraine nicht Krieg führen, sagen Sie, das ist jenseits aller Grenzen von Gut und Böse. Doch für das russische Glück existieren keine Grenzen des Erlaubten. Unter der Fahne 'Wir sind besser als alle' - das A und O der russischen Ideologie - braucht man auf Feinde keine Rücksicht zu nehmen. Auch nicht auf eigene Verluste."

Eine andere Erklärung für den Krieg liefert, ebenfalls in der Welt, Felix Eick: "Russland hat seinen entmündigten Bürgern so gut wie nichts zu bieten", schreibt er: "Es existiert im Grunde kein Sozialstaat, die Gehälter sinken seit Jahren auf zuletzt unter 900 Euro im Schnitt, Privatkredite sind oft der einzige Ausweg. Regiert wird das Land von Verbrechern, die immer wieder um ihre Macht fürchten. Mit einem Ex-Geheimdienst-Mann an der Spitze, der sich zu ihrem Boss emanzipierte: Wladimir Putin. Die Geheimdienst-Mafia und ihre als Oligarchen bezeichneten Finanzhöflinge, die die Reichtümer des Clans verwalten, sind zum ewigen Regieren gezwungen. So auch Putin selbst. Jeder weiß vom anderen, was er getan hat, welche Millionen von ihm erbeutet wurden oder wie viel Bares er außer Landes gebracht hat. Jeder hat 'Kompromat', wie es im Spitzel-Russisch heißt, über den anderen griffbereit in der Schublade." Aber: "Tatsächlich hat der Ukraine-Krieg die Macht erst einmal gefestigt, das Volk steht geschlossen hinter Putin. Das Lewada-Zentrum vermeldet für Juni 2022 Zustimmungsraten von 83 Prozent, im Dezember 2021 vor Kriegsbeginn waren es 65 Prozent."

"Seltsam gleichmütig" nehmen die europäischen Gesellschaften den Vormarsch von Autoritären zur Kenntnis, notiert Kia Vahland in der SZ. Dabei stehen nicht nur LGBTQ-Rechte auf dem Spiel: "In Russland dürfen Minderjährige keine Bilder oder Texte sehen, die Homosexualität auch nur anklingen lassen. Gerade versuchen Duma-Abgeordnete, dieses Gesetz auf Erwachsene auszudehnen, womit jeder Anflug gleichgeschlechtlichen Begehrens auch in der Kunst verboten wäre. Es soll nicht nur niemand nicht-heterosexuell oder als Transperson leben. Auch soll niemand es imaginieren. Im Westen nicht denkbar? Doch, staatliche Übergriffe in individuelle Freiheiten werden längst auch in den USA diskutiert. In Florida ist es bereits verboten, jüngere Schulkinder über andere als heterosexuelle Lebensmodelle zu informieren. Bücher mit Erzählungen von einem Mädchen mit zwei Müttern werden in mehreren Bundesstaaten aus Bibliotheken entfernt."

Cathrin Gilbert und Heinrich Wefing führen für die Zeit ein Interview zum Abschied des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk. Er bedauert seine Äußerungen zu Stepan Bandera, besonders gegenüber den Polen. Aber er sagt auch: "Ich war einmal am Grab von Bandera, im März 2015, zwei Monate nach meinem Amtsantritt hier in Deutschland. Es gibt ja auch viele Gräber von Wehrmachtssoldaten in der Ukraine, die deutsche Botschafterin legt am Volkstrauertag Kränze dort ab. Da könnten sich die Ukrainer fragen: Ist das in Ordnung? Die Wehrmacht war beteiligt an Kriegsverbrechen in der Ukraine, nicht nur die SS."

Karen Krüger zeichnet für die FAZ ein Bild von der seltsam anmutenden Russlandliebe in italien, die sie vor allem aus dem ehemaligen romantischen Prokommunismus erklärt, der Länder wie Frankreich, Italien und Spanien im kalten Krieg auszeichnete. Putin nutzte die auch bei Rechten wie Berlusconi oder der Lega verbreitete Russlandliebe für eine große Propagandaktion während der Corona-Epidemie, als ein russischer Tross mit Hilfsmaterial in Bergamo einrückte: "Später machte die Zeitung La Stampa öffentlich, dass achtzig Prozent des gelieferten medizinischen Materials unbrauchbar war. Außerdem habe Rom den Treibstoff der Flugzeuge und die Hotelkosten bezahlt. Die Recherchen der Zeitung legten nahe, dass hinter der Mission eine nachrichtendienstliche Operation und Informationskampagne stand: Das russische 'Hilfsteam' hatte sich gut vier Wochen ungehindert auf italienischem Terrain bewegt. Moskau reagierte prompt mit einer Drohung gegenüber dem verantwortlichen La Stampa-Redakteur auf der Facebook-Seite der russischen Botschaft."
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Ideen

Thomas Thiel berichtet in der FAZ über eine Jean-Améry-Konferenz des Einstein-Forums. Noch Améry, kritisiert er hier, wurde von einem der Redner zum Vordenker des heute modischen Antizionismus gemacht. Dabei, so Thiel, war Améry derjenige, der in seinem Zeit-Essay "Der ehrbare Antisemitismus" von 1969 als einer der ersten den israelbezogenen Antisemitismus thematisiert habe. Israel "war für ihn das hypothetische Asyl, die Schutzburg, an die er über die in seinen Unterarm tätowierte KZ-Nummer gekettet war. 'Wenn aus dem geschichtlichen Verhängnis der Juden- beziehungsweise Antisemitenfrage, zu dem durchaus die Stiftung des nun einmal bestehenden Staates Israel gehören mag, wiederum die Idee einer jüdischen Schuld konstruiert wird', schrieb er in seinem berühmten Essay, 'dann trägt hierfür die Verantwortung eine Linke, die sich selbst vergisst.'"

Das multikulturelle Paar Saba-Nur Cheema und Meron Mendel, das als solches eine Kolumne in der FAZ hat, verteidigt heute die Idee des Aktivismus, und auch die Idee, dass Aktivisten wie Ferda Ataman in die Funktion einer "Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung" gehoben werden. Aktivisten, die das kritisieren, kritisiert das nach Selbstauskunft ebenfalls aktivistische Paar: "Personen wie Hamed Abdel-Samad und Henryk M. Broder - beide gern gesehene Gäste bei Alice Weidel & Co.- haben in den rechten Blogs Tichy's Einblick und Die Achse des Guten gegen Ataman gewettert. Als sogenannte Islamkritiker können sie anscheinend über jede muslimische Frau urteilen. Stellt sich die Frage, wer hier eigentlich Aktivist ist? Dicht hinter ihnen folgt Ahmad Mansour, der nach der Nominierung Atamans kaum einen Tag vergehen ließ, ohne seine Sorge über ihre Personalie zu äußern."
Archiv: Ideen

Kulturpolitik

Jenseits von antikolonialistischem Aktivismus ist das Interesse an afrikanischer Gegenwartskultur gering, bemerkt Thomas E. Schmidt in der Zeit. Viel mehr gehe es um das schlechte Gewissen der Europäer als um die Bedürfnisse der Afrikaner, meint er: "Viele der dekolonialisierenden Aktivitäten kranken daran, dass sie das Grundverhältnis zu den afrikanischen Gesellschaften vom selbsterklärt guten weißen Menschen und von seinem Geschichtsbewusstsein her definieren. Der weiße Mensch möchte seine Historie reparieren und sich mit Gesten der Großmut von seiner Schuld befreien. Das geschieht jetzt: Die ersten bedeutsamen Restitutionen finden statt. Dennoch ist die Stimmung gedämpft. Man spürt, dass sich ein gewisses Missverhältnis bestätigt oder sogar erneuert. So könnte die Zerknirschung auf deutscher Seite auch eine Geste der Überlegenheit sein: Wer unter den Afrikanern die Objekte annimmt, will besitzen, ist gerade nicht großmütig, sondern besteht auf Rückzahlung. Das Hergeben erlaubt es den Europäern, ihre Geschichte nachzuerleben und sie dabei in ihrem heutigen Sinn geradezurücken: Sie haben ein Opfer gebracht, selbst wenn sie das energisch bestreiten. Die große Geste erfolgt auf dem alten Spielplatz der Eroberer, wo Deals gemacht werden: im Ökonomischen, als Übertragung von Eigentumsrechten."
Archiv: Kulturpolitik

Geschichte

Dem imperialen Nationaldiskurs der Russen steht ein ethno-nationales Denken der Ukrainer entgegen. Dies sei zwar nach innen gerichtet und defensiv, war aber auch nicht unproblematisch, weil Krimtataren, Russen und Polen darin keinen klaren Status hatten. Erst durch die Besetzung der Krim modernisierte sich auch das ukrainische Denken über die eigenen Nation, erklärt der Historiker Georgiy Kasianov, Autor des Buchs "Memory Crash", im Gespräch mit Christian Staas  von der Zeit: "Die nationale Erzählung wurde nun dominanter und zugleich inklusiver: Die Krimtataren verloren ihren Status als 'Andere', die Erinnerung an den Holocaust entwickelte sich zu einem Bestandteil der Nationalgeschichte, und es besteht Aussicht, dass der tief verwurzelte Konflikt mit Polen endlich beigelegt wird. Die Sowjetnostalgie verlor unterdessen an Zuspruch." Kasianov erzählt in dem Gespräch überigens auch, wie er in Konflikt mit Andrij Melnyk geriet, weil er anders als Melnyk den Holodomor als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", aber nicht als Genozid sieht. Zum Thema Bandera sagt Kasianov: "Es ist schade, dass jeder Deutsche den Namen Bandera zu kennen scheint, aber kaum einer weiß, dass in Yad Vashem mehr als 2.600 Ukrainer als Gerechte unter den Völkern geehrt werden, weil sie Juden gerettet haben."

Außerdem: In der NZZ widmet sich der Historiker Michael Wolffsohn der Frage: Wie antisemitisch war Bismarck? Ein bisschen "klassen-antisemitisch", so sein Resümee.
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Gesellschaft

In einem sehr persönlichen Artikel für die Zeit erklärt Lea De Gregorio, ehemalige Redakteurin des Amnesty-Magazins, warum sie Amnesty International verlassen hat. Ihr wurde immer suspekter, wie intensiv die Organisation ihren Bericht "Israel's Apartheid against Palestinians" feierte, der ein Rückkehrrecht  für alle Palästinenser mit Flüchtlingsstatus fordert, aber nicht anerkennt, dass Israel ein Zufluchtsort für alle Juden ist. "Wird Antisemitismus nicht gerade dann respektabel, wenn er unter den 'Guten', denjenigen, die sich gegen Menschenfeindlichkeit einsetzen, zutage tritt? Einige Nahost- und Antisemitismus-Experten, die den Bericht öffentlich kritisierten, aber nicht deutlich als antisemitisch einstuften, sorgten für Besänftigung. Na, dann ist doch alles gut, hieß es. Währenddessen bot die Tatsache, dass Amnesty den Begriff Apartheid nicht nur auf die besetzten Gebiete, sondern sogar auf das Kernland Israel anwendete, für Israel-Hasser auf der ganzen Welt eine Referenz."

Im Dlf Kultur ärgert sich der an der UDK lehrende Kulturwissenschaftler und Publizist Christian Schüle über den "autoritären Gestus" der identitätspolitischen Jugend: "Gewollt wird der woke Mensch, nicht der weiße Mann. Letztlich zielt die Dekonstruktion der Normalität auf die Dekonstruktion bisheriger Machtverhältnisse. Wie so oft folgt der süßen Moral die saure Doppelmoral, jedenfalls sind die Widersprüche der moralistischen Identitätspolitik verstörend. Unterschiede zwischen Menschen sollen eliminiert werden, indem man sie gerade hervorhebt. Das Individuum erhält erst durch seine Eingemeindung ins Kollektiv Identität."
Archiv: Gesellschaft