9punkt - Die Debattenrundschau

Nur ein Gebet in der Fortschrittskirche

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.07.2022. Im New Statesman attackiert Bruno Maçães Intellektuelle wie Jürgen Habermas, die über den "kindlichen Glauben der Ukraine, noch siegen zu können, mit Amüsement hinweggehen". In der SZ fordert Hedwig Richter, dass die SPD auch den "kleinen Mann" auffordert, den Gürtel enger zu schnallen. Das chinesische Modell ist im 21. Jahrhundert gefährlicher für die liberale Weltordnung als die morsche Autokratie Russlands, fürchtet die Welt. Die sozialen Medien wachsen weiter, so die SZ. Aber News kaufen sie nicht mehr, so Axios.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.07.2022 finden Sie hier

Europa

In welcher sozialdemokratischen Zeitschrift in Deutschland würde angesichts des Krieges ein solches Pathos entfaltet? Bruno Maçães, ehemaliger portugiesischer Europa-Minister, attackiert im linken britischen Wochenmagazin New Statesman Intellektuelle wie Jürgen Habermas, die über den "kindlichen Glauben der Ukraine, noch siegen zu können, mit Amüsement hinweggehen". Und dann wird er feierlich: "Im Ukraine-Krieg stehen die Intellektuellen ihrem ältesten Feind Auge in Auge gegenüber. Es ist ein Kampf, dem man sich ohne jede Ambivalenz anschließen kann, ein Kampf zwischen jenen, die Kultur schaffen, und jenen, die nur darauf aus sind, sie zu zerstören. In diesem Fall besteht die Rolle des Intellektuellen darin, seine Gesellschaft zu inspirieren, für heilige Werte zu kämpfen. Es gibt einen Moment, in dem selbst Intellektuelle erkennen müssen, dass alles, wofür sie stehen, auf dem Spiel steht: wenn Gewalt gegen Kultur, Dunkelheit gegen Licht, Zerstörung gegen Geschichte, Schwachsinn gegen Verstand ausgespielt wird."

Barbara Oertel unterhält sich in der taz mit dem russisch-ukrainischen Dokumentarfilmemacher Witali Manski, der im lettischen Exil lebt. Er spricht auch über den Boykott russischer Kultur: "In Zeiten des Krieges sollten die zwischenstaatlichen Beziehungen abgebrochen werden, das gilt auch für den Bereich der Kultur. Das heißt: Keine Nachsicht mit Kulturschaffenden, die mit staatlichen Strukturen wie zum Beispiel Stiftungen verbunden sind. Doch mit der gleichen Entschlossenheit müssen diejenigen unterstützt werden, die die Kraft aufbringen, sich dem Staat, seiner Aggression und seinem antidemokratischen Vorgehen entgegenzustellen. Das ist leider eine deutliche Minderheit."

Die Sanktionen gegen Russland scheinen nur auf den ersten Blick nicht zu wirken, hält Markus Ziener in einem Kommentar für Dlf Kultur fest: Regelrecht eingebrochen sei zum Beispiel "der Absatz russischer Autos. Und was jetzt noch auf dem Markt ist, ist nicht attraktiv. Nach dem Ende der Kooperation mit westlichen Partnern, wie etwa Renault bei Lada, sind die angekündigten neue Modelle technisch ein großer Rückschritt. Es fehlen schlichtweg Teile, Wissen und Ideen."
Archiv: Europa

Ideen

Elena Witzeck macht sich im Feuilletonaufmacher der FAZ Gedanken über unsere dank Klimakrise apokalyptische Zukunft. Mehr Demokratie  würde helfen: "Um die Beschleunigung der Erderwärmung aufzuhalten, müsste sich das politische System aber viel schneller und radikaler verändern. Mit Verfassungen, die entstanden, als man den Begriff 'Klimawandel' noch nicht kannte, kommt man jedenfalls nicht weit - und radikale politische Schritte gab es bislang nur nach mittleren Katastrophen. Eine Dürre in Hessen reicht nicht, es müssten schon die Innenstädte brennen."
Archiv: Ideen

Gesellschaft

In der SZ macht die Historikerin Hedwig Richter ihrem Ärger über eine neue "Klassenkampfrhetorik" Luft. Ob Billigflüge, günstiges Fleisch - oder Energiesparen, geht es um Einschränkungen für die ökologische Wende, heiße es: "Bitte nicht die Deutschen belasten": "Von der aktuellen FDP-Spitze und ihrem infantilen Freiheitsbegriff ließ sich selbst in Regierungsverantwortung nichts anderes erwarten. Und Markus Söder lässt sich die Gelegenheit für ein bisschen Populismus routinemäßig nicht entgehen und fordert einfach mal mehr von allem für alle. Bemerkenswert ist allerdings, warum die SPD den naheliegenden Schritt nicht hinkriegt, der Bevölkerung zu sagen, was ansteht. Vermutlich weil sich die Sozialdemokratie als die Partei des sogenannten kleinen Mannes versteht. Da sie historisch auf Verteilung geeicht ist - ein Projekt, mit dem sie Großes erreicht hat -, sieht sie sich heute offenbar außerstande, Menschen etwas abzuverlangen, die weniger besitzen als einen Privatjet."

"Wir haben jetzt einen Punkt erreicht, an dem weiteres Wachstum kaum mehr Nutzen erzeugt bei exponentiell steigenden Schäden", meint auch der Ökonom Niko Paech, der im NZZ-Gespräch mit Roman Bucheli ebenfalls eine "Wende zum Weniger" fordert: "Auf dem Weg in den Wohlstand sind viele menschliche Fähigkeiten zwangsläufig verkümmert. Wir haben verlernt, genügsam zu leben und handwerklich tätig zu sein. Die vielbeschworene Innovationsfähigkeit ist nur ein Gebet in der Fortschrittskirche: In Wahrheit brauchen wir Innovationen, damit wir uns nicht ändern müssen."
Archiv: Gesellschaft

Politik

Das chinesische Modell ist im 21. Jahrhundert für die liberale Weltordnung die größere Herausforderung als die morsche Autokratie Russlands, meint Philipp Mattheis in der Welt. Denn so "verführerisch" es nach außen scheint, so "gnadenlos" ist es nach innen: "Tatsache ist, dass derzeit rund eine Milliarde Überwachungskameras die Bewegungen von 1,3 Milliarden Menschen erfassen, Algorithmen in Sekunden als aufrührerisch definierte Worte löschen und die digitale Währung EYuan bald sämtliche Finanztransaktionen einsehbar macht. Recherchen der New York Times haben kürzlich nachgewiesen, dass Peking bereits eine gigantische DNA-Datenbank seiner Bürger angelegt hat. Die massenhaften PCRTests dürften dabei eine Rolle gespielt haben. China mag in der internationalen Wahrnehmung sanfter, smarter und leiser daherkommen. Der Propaganda-Apparat der KP ist längst nicht mehr so dumpf wie noch vor zehn Jahren. Chinesische Diplomaten twittern fleißig, die Kader der Kommunistischen Partei lächeln und locken mit dem größten Binnenmarkt der Welt. Die Mischung aus totaler Kontrolle und Wirtschaftswachstum macht das chinesische Modell nicht nur, aber vor allem für Diktaturen attraktiv."
Archiv: Politik

Kulturpolitik

Hat der deutsche Kulturbetrieb ein Antisemitismusproblem oder nicht doch eher ein Israelproblem, fragt in der Berliner Zeitung der ehemalige Knesset-Sprecher Avraham Burg in einem zuvor bei Haaretz erschienenen Artikel. Wichtige Institutionen wie das HKW oder das Zentrum für Antisemitismusforschung, aber auch Peter Schäfer, Ex-Direktor des Jüdischen Museums, würden vom Zentralrat der Juden "eingeschüchtert", behauptet er: "Israel wird derzeit von einer rechtskonservativen Ideologie bestimmt, die von Siedlern und Ultraorthodoxen sowie von xenophoben, homophoben und auch christlichen Kräften bestimmt wird. (...) Rechte und extrem rechte Kräfte steuern Israels Politik. Und Israel prägt die Positionen des Zentralrats. Sprich, der konservative und rassistische Flügel der israelischen Rechten verwaltet indirekt Deutschlands Gefühle in Bezug auf Juden, Antisemitismus und Israel. Wie konnte es dazu kommen? Israel hat den Antisemitismus zu einem mächtigen politischen Instrument gemacht."
Archiv: Kulturpolitik

Medien

Christian Caryl schreibt für die Washington Post ein ausführliches Porträt über den russisch-britischen Journalisten und Dissidenten Wladimir Kara-Mursa, der seit Jahren Kolumnist bei der Post ist. Zur Zeit wartet er in einem Moskauer Gefängnis auf den Prozess, der ihm gemacht wird, weil er den Krieg einen Krieg nennt. Caryl schildert ihn geradezu als Antipoden Putins: "Putin wählte eine Karriere beim KGB als ergebener Diener des sowjetischen Systems. Die Familie Kara-Murza hat sich seit langem durch ihre Opposition gegen dieses System definiert. Zwei von Kara-Murzas Vorfahren - ein Urgroßvater und ein Urgroßonkel - wurden von Stalins Geheimpolizei erschossen."

Facebook hat vor einigen Jahren ähnlich wie Google News-Initiativen gestartet und bezahlt vor allem amerikanischen Medien Millionen für Inhalte (wohl auch, um sie gewogen zu halten). Das stoppt der Konzern jetzt, berichtet Sara Fischer bei axios.com und zitiert aus einem eiskalten Statement eines Konzernsprechers:  "Vieles hat sich geändert, seit wir vor drei Jahren Verträge unterzeichnet haben, um zu testen, ob wir zusätzliche Nachrichtenlinks in Facebook News in den USA einbinden können. Die meisten Menschen kommen nicht wegen Nachrichten zu Facebook, und für Unternehmen hat es keinen Sinn, zu viel in Bereiche zu investieren, die nicht mit den Präferenzen der Nutzer übereinstimmen."

Mit der als humanitäres Projekt vermarkteten Free Basics App, die Nutzern Zugriff auf eine kostenfreie Basisversion des Internets bieten soll, profitiert Facebook durch die Extraktion von Daten aus Ländern mit begrenzten Datenschutzverordnungen und Kontrollmechanismen, schreibt die bei einer NGO tätige Expertin für Entwicklungszusammenarbeit Antonia Baskakov im Tagesspiegel und spricht von "digitalem Kolonialismus": "Über die Free-Basics-App haben Nutzer*innen Zugriff auf eine kleine Auswahl von Websites, ohne für mobile Daten zahlen zu müssen. Die Auswahl bestimmt Facebook. So kontrolliert das Unternehmen die digitale Welt seiner App-Nutzer*innen. (…) Die App speichert Daten nicht nur, wenn Nutzer*innen Facebook selbst nutzen, sondern sobald sie irgendeine Website über die App aufrufen. Auf dem afrikanischen Kontinent bekommt Facebook diese Daten also zu besonders günstigen Bedingungen: In einigen Ländern kann Facebook Daten ohne Zustimmung der Nutzer*innen speichern und an Dritte weitergeben, ohne die Nutzer*innen auch nur zu informieren."

Einer Untersuchung zufolge leiden immer mehr Menschen an "News Fatigue" oder "Digital Burnout", schreibt Andrian Kreye in der SZ. "Das alles ist übrigens weniger ein Massenphänomen als ein sich ausbreitendes Krankheitsbild. Natürlich sind weltweit immer noch Milliarden auf Facebook und Hundert Millionen auf all den anderen Plattformen. Tendenz weiter steigend, auch in Deutschland. Mit mehr als 78 Millionen Nutzern sind laut der deutschen Filiale der globalen Marketing-Agentur We Are Social derzeit 93 Prozent aller Deutschen im Internet und immerhin 86,5 Prozent aller Deutschen in sozialen Medien unterwegs. Letzteres bedeutet eine Steigerung von zehn Prozent im Vergleich zu 2021. Doch was Kramp und Weichert Sorgen macht, sind weniger die Gesamtzahlen. 'Wir haben fast sechzig ausgewählte Leute intensiv interviewt, die an unserer Umfrage teilgenommen haben', sagt Weichert. 'Was sich da in der qualitativen Erhebung ergeben hat, war eine tiefe Frustration mit digitalen Medien.'"

Für die SZ stattet Frank Nienhuysen der Nowaja Gaseta, die nun Nowaja Gaseta. Europa heißt, einen Besuch im lettischen Exil ab. "Lettland sieht in den exilierten Medien eine Chance, der russischsprachigen Bevölkerung guten Journalismus zu bieten. Die russischen Staatsmedien hat das Land verboten, aber deren Propaganda dürfte noch nachwirken. Auch deshalb hat Lettland der Nowaja Gaseta eine neue Chance angeboten. Nicht nur ihr. Der unabhängige russische Fernsehsender Doschd hat jetzt ebenfalls von Riga aus über einen Youtube-Kanal einen Relaunch gestartet. Auch das aus Moskau gedrängte Büro der Deutschen Welle ist in Riga, der russische BBC-Dienst und die beliebte russische Medienplattform Meduza. Lettland ist ein neues Zentrum russischsprachiger Redaktionen."
Archiv: Medien