9punkt - Die Debattenrundschau

Die Folge einer Politik der Zugeständnisse

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.08.2022. Die taz geht dem Tod von 57 ukrainischen Kriegsgefangen in der Haftanstalt Oleniwka nach. Kriegsverbrechen wie die Verbreitung eines Videos, das die Kastration eines Kriegsgefangenen zeigt, erleben die Ukrainer laut taz als Teil der russischen Kriegsführung. Aber es gibt Anzeichen für eine Schwächung Putins, hofft Timothy Snyder in der NZZ. In der Welt schildert Thomas Schmid die destruktive Politik Viktor Orbans mit der ungarischen Minderheit in Rumänien. Der Guardian fragt, ob die Sprengung von Rasenflächen zu unterlassen sei.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.08.2022 finden Sie hier

Europa

Das jüngste russische Kriegsverbrechen schafft es in den deutschen Medien nicht mal mehr auf die Titelseiten. Bei einer Explosion in der Haftanstalt Oleniwka sind 57 ukrainische Kriegsgefangne, teils aus dem Asow-Regiment, ums Leben gekommen. Viele weitere wurden verletzt. Die Medien halten sich zurück, und zitieren wegen der unmöglichen unabhängigen Überprüfbarkeit die russische Version zum Geschehen gleichwertig mit der ukrainischen. Das Rote Kreuz, liest man auf Twitter, wurde nicht zum Tatort vorgelassen. Bernhard Clasen berichtet in der taz: "Schon am Freitagabend hatte der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte Söldner der russischen Gruppe 'Wagner' beschuldigt, den Angriff auf die Strafkolonie ausgeführt zu haben. Erst zwei Tage zuvor waren die Kriegsgefangenen dorthin verlegt worden. Dieser Angriff habe der Verschleierung gedient. Man habe die Veruntreuung von Geldern und, wichtiger noch, die Folter ukrainischer Gefangener verschleiern wollen, so der Generalstab." Clasen berichtet auch über Racheschwüre auf ukrainischer Seite: "Demgegenüber erklärt die ukrainische Menschenrechtlerin Tetiana Pechonchyk auf ihrer Facebook-Seite: 'Die Verbreitung eines Videos, das zeigt, wie einem ukrainischen Soldaten die Genitalien abgeschnitten werden, ist eine weitere psychologische Operation des Feindes im Informationskrieg. Ziel ist es, bei den Ukrainern Wut, Rachedurst und den Wunsch zu wecken, das Gleiche mit den russischen Kriegsgefangenen zu machen.' Doch die Ukraine dürfe sich nicht auch auf dieses Niveau herablassen, so die Menschenrechtlerin."

Deutsche Intellektuelle, die sagen "Ihr seid mit Gewalt konfrontiert, und wir helfen Euch nicht", sind für Katja Petrowskaja, mit der sich Bert Rebhandl für den Standard unterhält, im Grunde Geschichtsleugner: "Der heutige Krieg ist die Folge einer europäischen Politik der Zugeständnisse. Durch diese Politik des 'Wandels durch Annäherung' hat man Putin immer weiter legitimiert und 'reingewaschen'. Seit dem zweiten Tschetschenien-Krieg und seiner Machtübernahme 1999 eskaliert Putin Schritt für Schritt, führt Kriege und bekämpft die Demokratie im eigenen Lande... Putin eskaliert, und keine diplomatischen Bemühungen dagegen haben gewirkt. Deutschland hat überallhin Waffen verkauft, aber jetzt, wo es wirklich nötig ist, ein Regime der Tötung und Vergewaltigung zu stoppen, halten manche in Deutschland plötzlich die Fahne des Pazifismus hoch."

Timothy Snyder erkennt in der NZZ bei näherem Hinsehen doch einige Elemente einer möglichen Schwächung Putins. Eine seiner Diagnosen: "Der russische Staat ist für einen Krieg dieser Art nicht ausgelegt. Er gebärdet sich an der Spitze sehr wohl faschistisch, aber es fehlt ihm die faschistische Fähigkeit zum totalen Krieg. Seine tägliche Macht beruht auf der Demobilisierung der russischen Bevölkerung, nicht auf deren Mobilisierung. Ein alter kommunistischer Witz lautete: 'Wir tun so, als würden wir arbeiten, und ihr tut so, als würdet ihr uns bezahlen.' In Russland sieht die Realität heute eher so aus: 'Ihr tut so, als würdet ihr einen Krieg gewinnen, und wir tun so, als würden wir dafür Begeisterung zeigen.'"

Thomas Schmid kommt in der Welt auf Viktor Orbans Rede zur Tusványos-Sommerakademie zurück (unser Resümee), bei der er scharf rechtsextreme Akzente hören ließ. Schmid erläutert, dass der Kurort Tusványos in Rumänien liegt und dass sich Orban hier explizit an die ungarische Minderheit wendet, der er die ungarische Staatsbürgerschaft verliehen hat und die in Ungarn mitwählen  darf: Und "gezielt fördert Orbáns Regierung seit Langem finanziell und personell ungarische Parteien in Rumänien. Diese sind teilweise durchaus erfolgreich - was dann zu einer Ethnisierung auch der Politik führt. Die Wähler stimmen nicht für ein Programm, sondern für die Durchsetzung ihrer Interessen als Minderheit. Orbán fördert auch damit bewusst die Abschottung der Ungarisch-Sprachigen von der rumänischen Mehrheitsgesellschaft. Sein eigentliches Ziel reicht weiter: Im Grunde will er ein ungarisches Protektorat auf rumänischem Boden errichten."
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Medien

Es passiert nicht allzu oft, dass in Zeitungen davon die Rede ist, wie sie ihre Angebote herunterfahren, besonders in der Kulturberichterstattung. Die freie Journalistin Kathrin Horster benennt in der taz die Corona-Pandemie als fast so etwas wie den Schlussstrich nach einem langen Niedergang: "In den Folgemonaten erlebte ich, wie die Zeitungen ihre festangestellten Mitarbeiter in Kurzarbeit schickten und freie Kolleg*innen nicht mehr beschäftigen durften. Da keine Kultur mehr stattfinden konnte, gab es ohnehin kaum mehr etwas zu berichten. Über Bücher, neue TV- und Streaminginhalte, über Musik und Onlineangebote schrieben nur noch die Festen." Aber gewisse Standards, wie die "Filmseite am Donnerstag mit Kritiken zu mindestens acht Kinostarts" gab es auch vorher schon nicht mehr, räumt Horster ein.
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Gesellschaft

"Es ist tatsächlich Gewalt, die von dem virtuellen Raum ausgeht", schreibt Tanja Tricarico  in der taz zum Suizid der österreichischen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr, der viel Aufsehen erregt. Kellermayr war in Österreich eine der prominentesten Warnerinnen vor Corona und spielte wohl eine Christian Drosten vergleichbare Rolle. Monatelang war sie bedroht worden. Colette M. Schmidt und Oliver Das Gupta bringen einen ausführlichen Nachruf im Standard: "In ihrer Ordination lässt die Ärztin Sicherheitsvorkehrungen einbauen, die rund 100.000 Euro kosten. Sie schafft das finanziell nicht mehr, und sie hat große Angst, auch um ihre Mitarbeiterinnen. Sie engagiert einen privaten Security-Mann, der immer wieder Praxisbesuchern Butterflymesser abnimmt. Ende Juni schließt Kellermayr ihre geliebte Ordination. Sie holt sich psychologische Hilfe. Sie wendet sich verzweifelt an die Öffentlichkeit, fordert Polizeischutz. Die Landespolizeidirektion Oberösterreich und die Ärztekammer richten ihr aus, sie solle sich doch öffentlich zurückhalten."

Die Dürre betrifft viele wüstennahe Gegenden in den USA natürlich noch viel mehr als Deutschland. Der Staat Nevada hat inzwischen überflüssige Rasenflächen verboten, und das ist richtig so, findet Akin Olla im Guardian. Ob eine solche Diskussion auch nach Deutschland kommt? "Nach Angaben der Environmental Protection Agency macht der Wasserverbrauch im Freien für Rasen und Gärten 60 Prozent des Wasserverbrauchs der Haushalte in den trockenen Gebieten des Landes aus. Und im Gegensatz zum Wasserverbrauch in Innenräumen geht ein großer Teil dieses Wassers durch Verdunstung und Abfluss verloren. Alles in allem verbrauchen amerikanische Rasenflächen jedes Jahr 13 Milliarden Liter Wasser - genug Trinkwasser für Milliarden von Menschen pro Jahr."

Steve Ayan, Psychologe und Redakteur bei Gehirn & Geist hat in der taz zwar duchaus Verständnis für eine gute Absicht hinter dem Gendern, bleibt aber wegen des politischen Drucks, den die neuen Sprachreglungen ausüben, skeptisch: "Das Moralisieren des Mitmeinens (Wer nicht gendert, hat etwas gegen Gleichberechtigung) fördert die Zersplitterung. Oder wie kommt es, dass viele so erbittert um Sternchen und Partizipien streiten? Ist es nicht einfach nur zeitgemäß, sprachliche Konventionen im Sinn der Gleichberechtigung zu reformieren? Das Problem ist die Doppelbödigkeit dieses scheinbar harmlosen Wunsches, denn das Gendern setzt viele Menschen unter Druck. Jeder sieht plötzlich alt aus, der weiter generische Maskulina benutzt. Man fühlt sich an den Rand gedrängt; wird genötigt mitzuspielen oder sich zu erklären. Man kann sich nicht nicht zum Gendern verhalten."

Gleichzeitig wendet sich eine Gruppe von zunächst siebzig Sprachwissenschaftlern in einem online veröffentlichten Aufruf an die Öffentlich-Rechtlichen Sender mit der Aufforderung, das Gendern zu lassen: "Wir fordern die Abkehr von einem Sprachgebrauch, der stark ideologisch motiviert ist und überdies - so zeigen es alle aktuellen Umfragen - von der Mehrheit der Bevölkerung (circa 75 bis 80 Prozent) eindeutig abgelehnt wird. Es ist bedenklich, wenn immer mehr Journalisten in Unkenntnis der sprachwissenschaftlichen Fakten den Jargon einer lautstarken Minorität von Sprachaktivisten in der Öffentlichkeit verbreiten und sich hierbei fälschlicherweise auf "Sprachwandel" berufen." In der FAZ berichtet Michael Hanfeld über diesen Aufruf. Mehr im Tagesspiegel.
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