9punkt - Die Debattenrundschau

Der typische Londoner Fahrradfahrer

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.08.2022. Nancy Pelosis Besuch in Taiwan hat zu gravierenden chinesischen Sanktionen geführt, berichtet die SZ: Man verzichtet dort jetzt auf taiwanesische Zitronen und zwei Fischsorten. In der taz erinnert Ronya Othmann an den Genozid an den Jesiden vor acht Jahren. Die Zeit erzählt, wie der Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen vermarktet wird und wer sich noch alles in seinen Agenturen tummelt. Und die Katholische Kirche sichert sich laut FAZ hundert vom Staat bezahlte Stellen in Hamburg - um ihres Bekenntnisses willen!
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.08.2022 finden Sie hier

Politik

Nancy Pelosis Taiwan-Besuch ging zwar ruhig über die Bühne, aber China gibt kein Ruhe, schreiben Lea Sahay und Kai Strittmatter auf Seite 3 der SZ: China gab "erste Sanktionen bekannt: Zitrusfrüchte aus Taiwan stehen jetzt auf der schwarzen Liste, außerdem einige Teesorten, Kakaobohnen und zwei Fischsorten. Taiwan bekommt keinen Sand aus China mehr. Dann gab es den mittlerweile üblichen Schlagabtausch von Hacker-Trupps. Chinesische Hacker legten für 20 Minuten die Webseite des taiwanischen Präsidialamtes lahm und drangen in die Systeme der 7-Eleven-Supermärkte in Taiwan ein und belegten die Bildschirme dort kurz mit Anti-Pelosi-Sprüchen. Im Gegenzug wurden in der chinesischen Provinz Heilongjiang die Besucher einer Regierungswebsite am Mittwochvormittag begrüßt von einer strahlenden Nancy Pelosi und der taiwanischen Präsidentin Tsai Ing-wen."

Deprimiert schreibt Ronya Othmann in der taz über den Genozid an den Jesiden, den der Islamische Staat 2014 mit sadistischer Grausamkeit betrieb. Bis heute sind Tausende Jesidinnen vermisst, Die Überlebenden vegetieren in Flüchtlingslagern, die von der Türkei beschossen werden: "Die Jesid*innen haben keine Lobby. Von der islamischen Ummah, der weltweiten Gemeinschaft der Muslime, konnten und können sie keine Unterstützung erwarten. Auch in Deutschland nicht. Kein einziger deutscher Islamverband hat auf den Aufruf der Gesellschaft für bedrohte Völker reagiert, den Genozid an den Jesid*innen in den Freitagspredigten zu thematisieren. In Deutschland, wo mittlerweile rund 200.000 Jesid*innen leben - es ist die weltweit größte Diasporagemeinschaft -, ist der Genozid aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden."

Der Deal zwischen den USA und dem "Islamischen Emirat" in Kabul lautete: "Die ausländischen Truppen ziehen ab, Afghanistan beherbergt dafür keine Terroristen mehr", erinnert Thomas Avenarius in der SZ. Und doch sind wichtige Terrorkader im Land: "Diese Qaidisten träumten weiter vom globalen Dschihad, genießen in Afghanistan nun Bewegungsfreiheit. Die einst von Osama bin Laden gegründete Qaida könne in ein, zwei Jahren in der Lage sein, neue Anschläge rund um die Welt zu planen. Warum die Taliban dieses Terrortreiben nicht unterbinden? Weil sie nicht wollen. Ihr Denken unterscheidet sich kaum von der Qaida-Ideologie: eine verzerrte, versimpelte Auslegung des Islam. Die Religion wird auf die Scharia beschränkt, der Dschihad als Gotteskrieg gegen alle Nichtmuslime gepredigt. Dazu kommen enge persönliche Bindungen. Die Taliban haben jahrelang mit den Qaida-Leuten gemeinsam gekämpft, oft genug ihre Söhne und Töchter miteinander verheiratet."
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Europa

Die Aufarbeitung deutscher Mitschuld am Zustandekommen der putinistischen Diktatur macht erste tastende Schritte. Hedwig Richter und Bernd Ulrich schildern in einem gemeinsamen Zeit-Essay, wie es sich die Deutschen mit ihrer Geschichte bequem machen und im Wandel durch Handel die Dividenden ihrer Schuld genossen. "Die Vergangenheit musste gar nicht mehr verdrängt werden, vielmehr diente sie als Allzweck-Argument. Die Bundesrepublik erreichte in dieser Kunst nicht nur bemerkenswerte Tiefen ernster Selbstbefragung, sondern auch luftige Höhen der Hybris. Auf merkwürdig zuverlässige Weise brachte die Geschichte mit den schrecklichsten Verbrechen die bequemsten Handlungsvarianten zutage: Seltener als die Verbündeten in militärischen Einsätzen - wegen der Geschichte. Billiges Gas aus Russland - weil wir das Land einst überfallen haben und jetzt doch bitte umso inniger Geschäfte mit ihm machen müssen, koste es andere, was es wolle. Und so weiter. Deutsche Vergangenheit, from pain to gain."

Fünfzig Jahre nach dem Olympia-Attentat, das auch eine der peinlichsten Katastrophen in der Geschichte der deutschen Sicherheitsdienste war, haben die Angehörigen der Opfer keine angemessene Entschädigung erhalten, berichtet Robert Wolff in der Zeit. Zwar wurden an die Opfer vier Millionen Euro verteilt, aber "deklariert als humanitäre Hilfsleistungen, um ein Schuldbekenntnis zu vermeiden. Ankie Spitzer, die Ehefrau des ermordeten israelischen Fechttrainers Andrei Spitzer und Sprecherin der Opferfamilien, hat aus Verärgerung über die Bundesregierung in den vergangenen Monaten bereits mehrere geplante Veranstaltungen und Treffen mit führenden bayerischen Politikern in München abgesagt und mit einem Boykott der Gedenkfeier am 5. September in Fürstenfeldbruck gedroht. Ein neues Entschädigungsangebot haben die Angehörigen mit der Begründung abgelehnt, dass die Summe beleidigend und demütigend sei."
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Gesellschaft

Eva Ladipo erklärt in der FAZ, warum Fahrradfahrer in London so verhasst sind. Es hat etwas mit der Klassenstruktur des Landes zu tun: "Der typische Londoner Fahrradfahrer ist, erstens, männlich. Frauen trauen sich seltener in den Nahkampf auf der linken Spur. Das Geschlechterverhältnis liegt bei etwa sieben zu drei. Zweitens sind Fahrradfahrer überdurchschnittlich wohlhabend - etwa ein Drittel verdient doppelt so viel wie das Durchschnittseinkommen -, was logisch ist, weil die ärmeren Randgebiete Meilen von der Innenstadt entfernt sind und keine Fahrradwege haben. Außerdem haben ärmere Städter mehr gesundheitliche Probleme und keinen Platz, ein Fahrrad unterzustellen."
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Stichwörter: Fahrrad, Radfahrer, Innenstadt

Religion

Die Katholische Kirche tritt in Hamburg dem "Religionsunterricht für alle (RUfa)" bei, berichtet Tobias Schrörs in der FAZ. Die katholischen Religionslehrer müssen sich dann künftig das religiöse Sensorium der Schüler mit konkurrierenden Konfessionen teilen (Zweifler sind wohl nciht dabei). Ein wichtiger Beweggrund könnten für Erzbischof Stefan Heße, der gezaudert haben soll, die schönen Stellen sein: Heße hob hervor, dass künftig 24. 000 katholische Schüler an staatlichen Schulen erreicht werden könnten und hundert katholische Religionslehrkräfte im Staatsdienst durch den Beitritt des Erzbistums zum 'RUfa 2.0' vom Schuljahr 2022/23 an weiter Religion unterrichten können." Der Rufa kriegt das Kunststück hin, bekenntnisgebunden und doch übergreifend zu sein. "Das Erzbistum wurde auch mit dem Versprechen der Stadt gelockt, katholische Studiengänge für alle Lehramtstypen am katholischen Institut der Universität Hamburg zu ermöglichen." Bezahlt von allen Steuerzahlern natürlich, unabhängig davon, ob sie in der Kirche sind oder nicht.
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Ideen

Alle Kultur ist Aneignung, schreibt Jens Balzer, der demnächst ein Buch zum Thema herausbringt, in der Zeit nach jüngsten Vorwürfen gegen weiße Reggae-Musiker: "Wer über kulturelle Aneignungen nur noch im Modus des Verbots reden kann, der übersieht ihre schöpferische und auch emanzipatorische Kraft - und dass es in Wahrheit überhaupt keine Kultur ohne sie gibt."

In der NZZ platzt David Signer der Kragen angesichts der Debatte um "kulturelle Aneignung": Es gibt … nicht nur bei Rassisten, sondern auch bei Antirassisten die Tendenz, die Welt in Schwarz und Weiß einzuteilen. Das ist umso paradoxer, als sich Letztere als modern und progressiv verstehen, aber die zunehmende Vermischung und die Zwischentöne der Hautfarben ignorieren; es gibt nur 'privilegierte Weiße' und 'unterdrückte Schwarze'. In den USA ist diese Tendenz besonders frappant, da jeder, der nur einen Tropfen 'schwarzen' Blutes in sich hat, als Afroamerikaner identifiziert wird. Während man beim Geschlecht obsessiv darauf achtet, Regenbogen-Vielfalt zu respektieren und niemanden auf 'Mann' oder 'Frau' zu reduzieren, ist die binäre Logik bei der Hautfarbe absolut. Die rassistischen Kategorien, denen man den Garaus machen will, kommen durch die antirassistische Hintertüre wieder herein, Kultur wird deckungsgleich mit Hautfarbe."

Angelehnt an Thomas Manns 55 BBC-Beiträge aus den Kriegsjahren zwischen 1940 und 1945 hat der Trägerverein der Begegnungsstätte Thomas Mann House in Los Angeles vor einigen Jahren die Serie "55 Voices for Democracy" gestartet, die die SZ abdruckt und der Dlf sendet. Heute schreibt die Politologin Christine Landfried. Ihre These: Die repräsentative Demokratie im 21. Jahrhundert steckt in der Krise und braucht Bürgerkonferenzen: "Die Bevölkerung muss jenseits von Wahlen politische Entscheidungen wirksam beeinflussen können. Um dieses Ziel zu erreichen, sind im letzten Jahrzehnt in europäischen Ländern und in den USA Bürgerkonferenzen oder -versammlungen als neue Formate der Beteiligung entstanden. Dabei entwickeln nach dem Zufallsprinzip unter Beachtung der Repräsentativität ausgewählte Bürgerinnen und Bürger auf der Basis einer informierten Diskussion Vorschläge zur Lösung politischer Probleme oder Konflikte." Hier die Website der Serie.
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Medien

Screenshot  von der Website von Gold1Networks

Ken Jebsen
war lange Zeit ein Star beim RBB-Radio "Fritz", bis Henryk Broder eine Mail von ihm ("ich weis, wer den Holocaust als PR erfunden hat") veröffentlichte und der Sender ihn nach einigem Zögern feuerte, obwohl ihn taz-Autor Daniel Bax noch tapfer gegen den "Krawallpublizisten" Broder verteidigt hatte. Jebsen galt damals noch als links. Inzwischen gilt er als rechts und ist als einer der erfolgreichsten Verschwörungstheoretiker im Internet unterwegs, auch wenn er sich offiziell zurückgezogen hat. Dabei ist er bestens mit PR-Firmen der Rapperszene vernetzt, hat Jonas Fedders in der Zeit herausgefunden. Jens Ihlenfeldts Firma Aggro Berlin hat Rapper wie Fler und Bushido groß gemacht. Ihm gehört auch die Firma  Gold1Networks: "Recherchen der Zeit legen jetzt nahe, dass Gold1Networks über Jahre hinweg auch für den YouTube-Kanal von KenFM verantwortlich war und Jebsens Team zudem beratend zur Seite stand. In einem Kalender der KenFM-Redaktion sind allein für das Jahr 2020 sieben Termine mit Gold1Networks aufgeführt, darunter befindet sich eine 'operative Besprechung' und eine 'Social-Media-Schulung'. Die Firma war lange Zeit in einem Gewerbehof in Berlin-Kreuzberg gemeldet. Aggro Berlin, Aggro TV und Gold1Networks teilen sich dort einen Briefkasten mit Ken Jebsen und KenFM - bis heute. Im März 2020 verlegte Gold1Networks seine Geschäftsadresse von dem Gewerbehof nach Berlin-Mitte, in dasselbe Haus, in dem KenFM ein Studio und Redaktionsräume unterhält." Inzwischen operiert Jebsen nicht mehr von Deutschland aus, arbeitet aber weiter mit diesen Firmen, die auch viele unbescholtene Stars und Fußballspieler vertreten.
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Stichwörter: Jebsen, Ken, RBB, Social Media