9punkt - Die Debattenrundschau

Ein guter Rausch

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.08.2022. Die Ukraine hat einen langen Krieg vor sich. Wenn der Westen sie weiter unterstützen will, muss er seiner Bevölkerung erklären, was der Preis dafür ist, fordert im Guardian Timothy Garton Ash. Wenn Russland gewinnt, wird die ukrainische Intelligenz als erstes dran glauben müssen, meint Martin Pollack in der FR. In der taz erinnert die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel daran, dass die Kulturwissenschaften mal entwickelt wurden, um Differenzen zu denken. Die Islamische Republik Iran ist gescheitert, diagnostiziert der Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan in der NZZ. Und: In seiner Bar ist die Abstinenzbewegung noch nicht angekommen", versichert Klaus St. Rainer, Chef von Münchens Goldener Bar in der NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.08.2022 finden Sie hier

Europa

Die Ukraine hat mit den neuen amerikanischen Waffen "gute Chancen, in diesem Herbst eine wichtige Schlacht zu gewinnen; aber sie ist noch weit davon entfernt, den Krieg zu gewinnen", meint im Guardian Timothy Garton Ash, der sich sorgt, dass im sich abzeichnenden langen Krieg den westlichen Unterstützern der politische Wille eher ausgeht als den Russen die Waffen. "Wenn wir so weitermachen wie bisher, dann wird Feldmarschall Zeit auf der Seite der Ukraine sein. Putins Vorräte an seinen modernsten Waffen und am besten ausgebildeten Truppen sind bereits aufgebraucht. Wenn wir den Druck aufrechterhalten, wird er - so sagen uns Militärexperten - auf 40 Jahre alte Panzer und rohe Rekruten zurückgreifen. Die westlichen Sanktionen treffen die High-Tech-Bereiche seiner Wirtschaft, die für den Nachschub benötigt werden. Könnte er den Verlust qualifizierter Truppen durch eine allgemeine Mobilisierung kompensieren? Wird China ihm mit modernen Waffenlieferungen zu Hilfe kommen? Kann er eskalieren? Diese Fragen müssen natürlich gestellt werden, aber der Druck würde auf ihn zurückfallen. In Demokratien müssen die Staats- und Regierungschefs ein solches groß angelegtes, strategisches Engagement vor den Wählern rechtfertigen und erklären, sonst werden sie es auf Dauer nicht unterstützen. Putin würde dann mit seiner Diagnose, dass Demokratien schwach sind, Recht behalten. Estlands Kaja Kallas gibt ein Beispiel für eine solche Führung, aber ihr Volk weiß bereits genug über Russland. Im Moment sehe ich keinen Führer einer großen westlichen Demokratie, der das Gleiche tut", kritisiert Ash auch mit Blick auf Deutschland, "außer vielleicht Mario Draghi - und der geht gerade."

"Putin will die Ukraine als kulturell selbstständiges Land mit seiner reichen Tradition wegwischen und russifizieren. Ganz so wie früher die Zaren", erklärt der Schriftsteller und Übersetzer Martin Pollack im Interview mit der FR. "Gerade in Osteuropa waren Autoren immer Träger der Identität. In Polen zeigt sich das ganz stark. Ohne die polnische Literatur - natürlich spielt auch noch die Kirche eine große Rolle - wäre die polnische Identität viel schwächer ausgeprägt. Es war die Literatur, die über Jahre der Unterdrückung die Identität weitergetragen hat. Das ist auch in der Ukraine so. Wenn die Okkupation gelänge, würden die Russen ganz sicher als erstes die ukrainische Intelligenz liquidieren. Nach altem stalinistischen Vorbild wäre sie die erste, die drankommt, da wird nicht lange gefackelt."

"Russland ist Feind der Menschheit geworden", geworden, schreibt Claus Leggewie in der FAZ. Auch wenn natürlich nicht alle Russen den Krieg gegen die Ukraine unterstützten, die Mehrheit tut es wohl doch, so Leggewie, der das Bild der Russen in der Welt mit dem der Deutschen nach 1945 vergleicht. "Für einen kühlen Vergleich oder gar Analogieschluss auf die russische Lage heute fehlen noch die Grundlagen. Pessimisten sehen die dortigen politischen Eliten nicht als Opfer oder Geiseln Putins, sondern als seine Handlanger, die sich die aktuelle Radikalisierung des großrussischen Imperialismus zunutze machen. Darüber, wo die Armee und Geheimdienste stehen und die diversen Oligarchenklubs, wird so wild spekuliert wie seinerzeit bei 'Kreml-Astrologen'. Zusammen mit der noch kaum von den Sanktionen getroffenen Extraktionswirtschaft, den autoritären Traditionen einer 'orientalischen Despotie' sowie dem Einfluss der Orthodoxie bestünde da kaum eine Hoffnung auf eine innere Demokratisierung. Welche Rolle kann da, wie im Falle Thomas Manns, die 'Diaspora' übernehmen?"

Den russischen Umfragen, wonach eine überwältigende Mehrheit für den Krieg ist, kann man nicht trauen, meint Leonid Wolkow, Mitstreiter des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalnyj, im Interview mit der FAS. Er ist optimistisch, dass viele Russen den Krieg ablehnen: "Diese Umfragen waren unprofessionell. Man kann die Leute doch nicht einfach fragen: 'Bist du für den Krieg oder nicht', wenn die wissen, dass die falsche Antwort sie ins Gefängnis bringen kann. Bei einer Telefonumfrage wissen die Leute nicht, wer mit ihnen spricht. Wir, also Nawalnyjs Antikorruptionsstiftung, machen auch Umfragen. Früher wollten etwa 20 Prozent der Leute sprechen, heute nur noch sechs bis sieben Prozent. Man kann allerdings durch indirekte Fragen die wirklichen Einstellungen sichtbar machen. Zum Beispiel fragen wir: Wenn der Staat mehr Geld hätte, wie sollte das ausgegeben werden? Wir stellen diese Frage an Menschen, denen die Propaganda ständig sagt: Es gibt einen Dritten Weltkrieg, Russland kämpft gegen die NATO. Und trotzdem wollen weniger als sieben Prozent mehr Militärausgaben. Wichtiger sind ihnen Gesundheit, Bildung, Renten, Straßen."

In der NZZ erklärt Marion Löhndorf am Beispiel des indischstämmigen Tory-Politikers Rishi Sunak, der beste Chance hat, britischer Premier zu werden, warum auch Briten mit Migrationshintergrund wie Sunak eine ausgesprochen restriktive Einwanderungspolitik befürworten. "Vor allem der sichtbare Aufstieg in der Politik macht deutlich, dass die Berichte von Armut, Gewalt und Gegengewalt unter den Einwanderern inzwischen nur noch ein Teil der Geschichte sind. Sajid Javid war der erste Brite asiatischer Herkunft in einem der vier führenden Ämter Großbritanniens. Der Sohn einer aus Pakistan stammenden Familie kam in Lancashire zur Welt. Javid war Innenminister der Tory-Regierung und anschließend Schatzkanzler. Sadiq Khan, Londons Bürgermeister, wurde im Süden der Stadt in eine britisch-pakistanische Arbeiterfamilie geboren. Während seiner Tätigkeit als Anwalt begann er seine politische Karriere bei der Labour-Partei, die ihn bis an die Spitze der Londoner Stadtregierung führte. Auch die indischstämmige Priti Patel, Innenministerin in Boris Johnsons Kabinett, wurde in London geboren. Die Inspiration zu ihrer politischen Karriere verdankt sie Margaret Thatcher. Beim Thema Immigration vertritt Patel eine harte Linie. Wer selber einen Migrationshintergrund hat, muss nicht zwangsläufig eine Politik der offenen Tür vertreten."
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Politik

Die Islamische Republik Iran ist gescheitert, diagnostiziert der in Teheran lebende Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan in der NZZ. Wissenschaftler, hochqualifizierten Arbeitskräften, Künstler "verlassen Iran neuerdings in Scharen. Allein 2021 haben 900 Universitätsdozenten dem Land den Rücken gekehrt." Und das hat Folgen: "Der Generaldirektor der Wohlfahrtsbehörde der Provinz Teheran ließ kürzlich verlauten, dass mehr als 2000 Kinder im Teheraner U-Bahn-Netz tätig seien. Das Wirrwarr von den Alltag regulierenden Bestimmungen ist so undurchschaubar geworden, dass 61 Wirtschaftswissenschafter den Menschen im Land kürzlich in einem offenen Brief erläuterten, die wirtschaftliche Schieflage habe keine wirtschaftlichen Ursachen. Nur durch eine bessere Regierungsführung ließen sich die Probleme lösen. Angesichts beständig schwindender wirtschaftlicher Möglichkeiten des Überlebens herrscht bei vielen schon eine Angst, die sich auf der Straße zu entladen droht. Zu den Friktionen des Alltags hinzu kommen eine endemische Korruption und eine schwindelerregende Inflation."
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Ideen

Gegen Armut hilft nur eins: Umverteilung, meint im Interview mit der taz die Politikwissenschaftlerin Roswitha Pioch. "Das Bürgergeld ist ein Schritt in die richtige Richtung, weil man den Zugang erleichtert. Aber man hält immer noch an den Erwartungen einer Gegenleistung fest, die Empfänger:innen sollen eine Erwerbsbereitschaft zeigen, es ist immer noch an den Arbeitsmarkt geknüpft. Die ursprüngliche Idee des Bürgergeldes bedeutete ja, dass es bedingungslos ist, dass man sagte, jeder soll unabhängig von seinen Leistungen eine Existenz finanziert bekommen. Am nun geplanten Bürgergeld ist aber gut, dass die Möglichkeiten für eine Weiterbildung im Leistungsbezug verbessert wurden."

Ist es kulturelle Aneignung, als weißer Europäer Reggae zu spielen und Rastalocken zu tragen? Unsinn, meint der Religionshistoriker Alfred Bodenheimer in der NZZ. Er findet das Denken dahinter herabwürdigend für jede nicht-weiße Kultur: "Heute würde niemand dagegen demonstrieren, dass aus Korea oder Senegal stammende Violinisten oder Dirigentinnen Beethoven interpretieren. Was ja noch ein Glück ist - was aber zugleich noch schärfer deutlich macht, auf welche Abwege das Kulturverständnis geraten ist. Denn heißt das nicht, dass 'weiße' Kultur, westliche Konzertsaalrituale und der Auftritt in rituell strikt festgelegten schwarzen Kleidern, Smokings oder Abendroben universal gültig sind, während Reggae samt den dazugehörigen Markern wie Kleidung und Haarpracht zur jamaicanischen Provinzkultur verzwergt wird?"

Im Interview mit der taz erinnert die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel daran, dass die Kulturwissenschaften mal entwickelt wurden, um in Grenzgebieten zu forschen und "Differenzen zu denken". Heute würden dagegen Eindeutigkeiten und Identitäten bevorzugt, man verschanzt sich "in separierte Denk-Ghettos", kritisiert sie. Auch "die postkoloniale Theorie ist ja mal aus der Perspektive des Anderen und im Blick auf kulturelle Differenzen entstanden; sie hat dann aber eine globale Wirkungsgeschichte entfaltet, mit denselben Begriffen, Denk- und Argumentationsmustern unabhängig von spezifischen lokalen Verhältnissen und kulturellen Differenzen. Dabei hat sie sich tendenziell in einen hegemonialen Exportartikel der akademischen Eliten der USA verwandelt und zudem noch den Trend zur Einsprachigkeit verstärkt. Politisch prekär ist aber vor allem, dass dadurch, dass die Machtverhältnisse primär auf der kulturellen Ebene abgebildet werden, die ökonomischen Verwicklungen der heimischen Eliten in die postkolonialen Macht- und Abhängigkeitsstrukturen im Schatten bleiben."

In der taz wirft der israelische Autor Hagai Dagan Deutschland "ein verzerrtes Holocaustverständnis" vor, das nur der israelischen Rechten diene: "Es scheint, als seien die Deutschen hier in eine Falle geraten, um nicht zu sagen in eine Art Benommenheit. Ihr Reflex, sobald das Thema Holocaust aufkommt, der Wunsch zur Wiedergutmachung, die Empfindlichkeit und Vorsicht sind zum Instrument in den Händen sowohl zynischer Israelis geworden, die ein sehr begrenztes und dummes Geschichtsverständnis haben, als auch einer Bande von Hofjuden. Engstirnige jüdische Macher, die im Zentralrat der Juden Deutschlands sitzen. ... Deutschland auf offizieller Ebene muss verstehen: Rechts ist rechts und Faschismus ist Faschismus, auch wenn es um die jüdische Rechte und jüdischen Faschismus geht."
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Geschichte

In der NZZ erinnert die Kulturhistorikerin Agnieszka Pufelska an den Petersburger Vertrag von 1772, mit dem Preußen, Russland und Österreich die erste Teilung Polens beschlossen hatten. "Polen, das sich nicht wehren konnte und keine internationale Unterstützung fand, wurde gezwungen, dem Teilungsvertrag der drei Supermächte zuzustimmen. Die Abgeordneten blieben zunächst dem Parlament fern. Doch die drei Verbündeten machten Druck, zahlten viel Bestechungsgeld und ließen auch ihre Truppen einmarschieren. Am 30. September 1773 wurde die Teilung dann durch eine parlamentarische Mehrheit sanktioniert." Doch Polens Kapitulation zahlte sich nicht aus, die Großmächte hatten immer noch nicht genug. Sie annektierten bald "Gebiete, die weit über die in der Petersburger Teilungskonvention bezeichneten hinausgingen. Russland verleibte sich Livland und Teile Weißrusslands (84 000 Quadratkilometer mit 1 256 000 Einwohnern) ein. Österreich sicherte sich Kleinpolen und weite Teile Galiziens (93 900 Quadratkilometer, 2 669 000 Einwohner). Obwohl Preußen mit dem Ermland und Teilen Großpolens 'nur' 35 000 Quadratkilometer mit 365 000 Einwohnern gewann, durfte sich der preußische König als eigentlicher Gewinner der Teilung fühlen. Die seit Generationen von den Hohenzollern angestrebte Landverbindung zwischen Ostpreußen und Brandenburg wurde hergestellt, und mit der Einführung der Weichselzölle übernahm Preußen die Kontrolle über den lukrativen polnischen Außenhandel."
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Gesellschaft

"Die Abstinenzbewegung ist in meinen Augen ein Medienphänomen. In meiner Bar ist sie noch nicht angekommen", versichert Klaus St. Rainer, Chef der Goldenen Bar in München, der im Interview mit der NZZ nicht nur alkoholfreie Cocktails ablehnt - "mich stört der Beschiss: 40 Euro für 0,7 Liter Tee. So einen Mist wird es in meiner Bar nie geben" - sondern auch erklärt, was einen guten Rausch ausmacht: "Ein guter Rausch ist dynamisch. Er kann bei einem Mittagessen beginnen, wo man eigentlich nur ein Glas Wein trinken will, und sich dann, am besten langsam, steigern. Idealerweise ist man von guten Menschen umgeben, mit denen man kreativ und lustig werden kann. Was ich gar nicht mag, ist schnelles Trinken."
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