9punkt - Die Debattenrundschau

Krass weitgehend

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.08.2022. Die Kriegsopfer gehen inzwischen in die Tausende, alle ukrainischen Gesellschaftsschichten sind betroffen, berichtet die FAZ. Viel Kritik gibt es am Amnesty-Bericht über die ukrainische Kriegsführung. "Den Hintergrund des postkolonialen Antisemitismus der Gegenwart bildet die Nichtaufarbeitung des internationalen linken Antisemitismus der 1970er und 1980er Jahre", schreibt Samuel Salzborn in der FR. Die Organisation  "Terre des Femmes" zieht ein kritisches Papier zu Transgender zurück, um weiterarbeiten zu können.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.08.2022 finden Sie hier

Europa

Kriegstote gibt es in der Ukraine inzwischen in allen Gesellschaftsschichten, berichtet Gerhard Gnauck in der FAZ: "Waren es in den ersten zwei Kriegsmonaten vor allem Berufssoldaten, die den Tod des sprichwörtlichen 'Unbekannten Soldaten' starben, meldeten jetzt immer mehr Intellektuelle, Journalisten, Aktivisten und weitere Angehörige der städtischen Mittelschicht den Tod eines Bekannten, eines Freundes oder Verwandten, der sich erst nach der großflächigen russischen Invasion zum Dienst gemeldet hatte. Zum Beispiel Bohdana Schewtschenko, die sich auf Twitter als 'Fotografin, Journalistin, digitale Marketing-Managerin' präsentiert. Sie betrauerte im Juli ihren 33 Jahre alten Bruder Jewhen Olefirenko, Kriegsname 'Elvis'. Gestern Abend verschollen, 'last seen yesterday at 18:14', steht in einem Posting neben letzten gemeinsamen Fotos." Etwa 10.000 UkrainerInnen seien gefallen, habe Präsident Selenski im Juni mitgteilt. Spiegel online meldet zugleich unter Berufung auf Schätzungen des Pentagon, dass bereits "bis zu 80.000 russische Soldaten getötet oder verletzt worden" seien.

Die Russen veröffentlichen regelmäßig ihre "Erfolge" in den sozialen Medien, sagt im Tagesspiegel+-Gespräch mit Yulia Valova Tamara Yanina, Witwe des "Asow"-Kämpfers Oleksiy Yanin: "In den sozialen Medien kursieren … besonders brutale Videos russischer Kriegsverbrechen im Osten der Ukraine - ich bin mir nicht ganz sicher, ob alle in Oleniwka gefilmt wurden. Zum Beispiel eines, in dem ein russischer Soldat einem ukrainischen die Genitalien abschneidet, ihm die abgetrennten Organe ins Gesicht wirft, ihm dann in den Kopf schießt und ihn an Seilen, die an seinen Beinen befestigt sind, in eine Grube schleift. (…) Es gibt auch ein Foto eines ukrainischen Soldaten, dem die Arme bis zu den Ellbogen abgehackt und der Kopf abgeschlagen wurde, und vier russische Soldaten, die neben ihm posieren. Es gibt außerdem ein Foto, das die Hände und den Kopf eines ukrainischen Soldaten zeigt, der an den Pfählen eines Zauns aufgehängt sind. Die Bildunterschrift unter dem Foto lautet: 'Das wird jedem Ukrainer passieren, ihr Schlampen'."

Amnesty International (Unser Resümee) hat es "geschafft, die dreißigjährige Arbeit von Aktivisten und Menschenrechtsverteidigern in der Ukraine, die an Veränderungen und Menschenrechte glaubten, zu 'töten'", schreibt die ukrainische Journalistin Olga Konsevych (Tagesspiegel+): "Die Autoren des Berichts hätten zumindest auf beiden Seiten recherchieren und die Position des ukrainischen Verteidigungsministeriums berücksichtigen müssen, wenn die Organisation solche Standards hat. Die Leitung des ukrainischen Amnesty-Büros sagte, dass sie sich nach den Gesprächen mit der Zentrale an das Verteidigungsministerium gewandt und um eine Reaktion gebeten habe, aber die ukrainische Seite habe nur sehr wenig Zeit für eine Antwort erhalten. Eine Reihe von Ukrainern, darunter die Leiterin des Büros, Oksana Pokaltschuk, verließen als Reaktion auf die Veröffentlichung ihre Posten bei der Organisation."

In der SZ ärgert sich auch Joachim Käppner, dass Amnesty seine Glaubwürdigkeit verspielt. Das größte Problem sei "die atemberaubende Ignoranz gegenüber den Opfern eines Zerstörungskrieges", schreibt er: "Erst der Angriff des Aggressors macht Städte zum Schlachtfeld, doch nicht deren Verteidigung. Einmal abgesehen davon, dass sich die Ukrainer bemühen, Zivilisten aus den Kampfgebieten zu bringen: Die russische Kriegführung ist so brutal, dass sie ohnehin keinen Unterschied zwischen militärischen und zivilen Zielen macht, wie die Trümmerwüste von Mariupol belegt. Städte aber sind ein enormes Hindernis für Angreifer, Bastionen des Widerstandes. In der seltsamen Logik des Ukraine-Berichts müsste man auch der Roten Armee, als sie 1942 Stalingrad gegen die Wehrmacht verteidigte, völkerrechtswidriges Verhalten vorwerfen. Obwohl noch Zivilisten in der Trümmerstadt waren, kämpften die sowjetischen Soldaten um jedes Haus. Was hätten sie sonst tun sollen?"

Russland wird zerfallen, prognostiziert der Politologe Alexander Etkind in einem etwas wolkigen NZZ-Artikel. Froh macht ihn das nicht. Schuld ist für ihn die korrupte Führung des Landes: "Indem sie sich auf den Energieressourcen und den Atomschirm verließen, unterwarfen sich die Führer Russlands nationalem Reichtum, ohne etwas dafür zu tun. Die Korruption schuf Ungleichheiten in Ausmaßen, wie es sie nicht einmal unter den Zaren gegeben hatte und auch sonst nirgendwo auf der Welt gab. Zwei unverdiente Schätze, Reichtum und Sicherheit, schufen eine arrogante, doch nie wirklich geprüfte Elite."
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Ideen

Die deutsche Postkolonialismus-Debatte muss sich den "dunklen Seiten ihrer eigenen Tradition stellen - und dabei von einem provinzialistischen, ethnisierenden und homogenisierenden Blick auf den 'Globalen Süden' verabschieden", fordert der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn in der FR und erläutert: "Den Hintergrund des postkolonialen Antisemitismus der Gegenwart bildet die Nichtaufarbeitung des internationalen linken Antisemitismus der 1970er und 1980er Jahre, der ein zentrales Strukturmerkmal der antiimperialistischen Gruppen war und die heutige Globalisierung des Antisemitismus wesentlich vorbereitet hat. Diejenigen aus einem sich selbst als links verstehenden Milieu, die heute Antisemitismus und Israelhass verbreiten, verfolgen nach wie vor das völkische Weltbild des Antiimperialismus (das nun aber eher unter dem Label 'ethnisch' oder 'kulturell-divers' daherkommt), das von ethnisch-kollektiven Homogenitätsvorstellungen geprägt ist. Der Antiimperialismus, der sich primär gegen Amerika und Israel richtet, stellt die Rahmenideologie dar, deren integraler Bestandteil der Antisemitismus, vor allem in Form des Antizionismus, ist."

Ganz anders sieht das in der Lettre Benjamin Korn, der seine eigene Sozialisierung in der Linken in den Sechziger und Siebzigern beschreibt. Leider ist der Artikel nicht online, sondern nur ein sehr kleiner Auszug. Israel war für die 68er "kein großes Thema", schreibt er. "Im SDS wurde, insbesondere zu Israel und Palästina, viel Unsinn geredet, woran Unkenntnis und Denkfaulheit gleichermaßen beteiligt waren (man verwendete mit Vorliebe zu Worthülsen heruntergekommene Begriffe wie 'Internationalismus', 'Antiimperialismus', 'Antikolonialismus'), aber Antisemitismus - obschon ich in diesem Punkt hellhörig und empfindlich bin - habe ich nie erlebt und, soweit ich weiß, andere Juden und Jüdinnen, die dem SDS nahestanden, auch nicht. Das Gegenteil ist wahr: Viele meiner nichtjüdischen Freunde waren mit ihren Eltern, ihren Familien zerstritten, weil diese die rassistischen Ideen der Nazis propagiert hatten".
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Gesellschaft

Dass das aktuelle Transsexuellengesetz nicht mehr zeitgemäß ist, liegt für taz-Autor Jan Feddersen auf der Hand, "weil trans eben nicht als Krankheit zu gelten hat". Das geplante Selbstbestimmungsgesetz, das es jedem ermöglicht, sein Geschlecht selbst festzusetzen, aber nennt er ein "ein krass weitgehendes Reformprojekt, so fundamental ausgreifend, das vor allem unter diesem Umstand jetzt schon leidet und das es Konservativen leicht machen wird, es zu deligitimieren und als Top-Down-Vorschrifterei der akademisch orientierten Politiken zu charakterisieren". Die Bevölkerung folgt laut Umfragen diesem Voluntarismus nicht, so Feddersen: "Diese Zahlen sollten vielleicht die Regierung vielleicht alarmieren, die Aktivist*innen und Fellows aber ganz besonders: Eine Reform, die so wenigen Menschen wirklich nützt, aber so vieles umstülpt - wie soll die akzeptiert werden, nicht nur in woken Kreisen?"

Die Frauenrechtsorganisation "Terre des Femmes", die sich dem klassischen Feminismus verschrieben fühlt und zum Beispiel gegen Zwangsheiraten und Beschneidung von Frauen engagiert, hat unterdessen letzte Woche eine kritisches "Positionspapier Transgender, Selbstbestimmung und Geschlecht" zurückgezogen und von der Website gelöscht. Die Begründung argumentiert nicht unbedingt inhaltlich: "Dem Vorwurf der Transfeindlichkeit, der sich insbesondere auf das Positionspapier bezieht, ist inzwischen mit keinem Argument mehr zu begegnen. Solange das Positionspapier öffentlich ist und nicht transparent zurückgenommen wird, wird dieser Vorwurf bleiben. Dadurch wird unser Auftrag - der Einsatz für Frauenrechte - bis zur Unmöglichkeit erschwert, Kooperationen und wichtige Bündnisse sind und werden aufgekündigt, bereits begonnene Kampagnen können nicht umgesetzt oder müssen abgebrochen werden. Das Thema Transgender und das Positionspapier überschatten alle unsere wichtigen Referatsthemen." Im Google-Cache ist das Positionspapier aus dem Jahr 2020 hier noch zu lesen.

Bei rechtspopulistischen oder -extremen Bewegungen wie etwa unter rechten Impfgegnern werde die Gefahr regelmäßig zunächst nicht ernst genommen, sagt die Expertin Pia Lamberty im Gespräch mit Anna-Lena Ripperger in der FAZ: "Dann gibt es erst einmal Debatten darüber, ob das nicht nur die Ängste und Sorgen der 'normalen Bürger' sind. Dadurch, dass das Ganze nicht eindeutig aussieht wie ein rechtsextremer Protest, wird es in seiner Gefährlichkeit nicht erkannt. Und während die Gesellschaft noch diskutiert, können sich antidemokratische Räume ausbilden. Das hat man bei Pegida gesehen und jetzt auch bei Corona. Da gab es leider bisher keinen Lerneffekt."
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Medien

Die Staatsanwaltschaft nimmt nun doch Ermittlungen wegen des Verdachts der Untreue und der Vorteilsannahme gegen Schlesinger, sowie gegen ihren Mann, Ex-Spiegel-Journalist Gerhard Spörl und den bisherigen RBB-Verwaltungsratschef Wolf-Dieter Wolf auf, meldet unter anderem ZeitOnline.

Die Öffentlich-Rechtlichen stecken nicht erst seit dem Fall Schlesinger in einer "Relevanz-, Repräsentations- und Akzeptanzkrise", schreibt Malte Lehming im Tagesspiegel. Zumindest ihre Akzeptanz könnten die ÖRR aber erhöhen, meint er: "In Sachen Transparenz und Demokratie hinken die Öffentlich-Rechtlichen indes hinterher. Gehälter, Honorare und Altersbezüge sollten detailliert einsehbar sein. Und was spräche gegen eine Mitsprache des Bürgers bei Personal und Programm? Warum stellen sich Intendanten und Programmverantwortliche nicht dem Votum der Nutzer? Das könnte einen Ideenwettkampf entfalten, in dem regelmäßig die Wünsche und Bedürfnisse der Zuschauer reflektiert werden.  Mehr Musikantenstadl, längere Tagesschau, früherer Talkshow-Sendungsbeginn? Über alles darf ergebnisoffen diskutiert werden. Ihrem Image, dass nach intransparenten Gremiensitzungen von Oben herab fragwürdige Entscheidungen getroffen werden, müssen die ÖRR durch eine radikale Demokratisierungs- und Transparenzoffensive begegnen."

Christian Walther erinnert in der taz an den heute fast vergessenen "Republikanischen Presseverein", der im Juni 1927 gegründet wurde und heute fast vergessen ist: "'Republikanisch' - das war damals ein Synonym für demokratisch, und es war der Gegenpol zu monarchistisch und rechtsradikal. Es war ein Ja zur Weimarer Republik und ein Nein zum untergegangenen Kaiserreich. Der Vorstand der neuen Vereinigung hatte prominente Mitglieder: den Journalisten und Reichstagspräsidenten Paul Löbe, Georg Bernhard von der Vossischen, Hermann Orth, Chefredakteur der Kölnischen Volkszeitung, Friedrich Stampfer vom Vorwärts, Theodor Wolff vom Berliner Tageblatt, dazu im Arbeitsausschuss Verleger Franz Ullstein und Chefredakteur Otto Nuschke von der Berliner Volkszeitung. Die Gründung der Vereinigung wurde aufmerksam registriert, vornehmlich in den republikanisch orientierten Blättern, die es quer durch das Deutsche Reich reichlich gab - teils der SPD, teils der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) verbunden, teils zum katholischen Zentrum gehörend."
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