9punkt - Die Debattenrundschau

Die sogenannten nachwirkenden Dienstpflichten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.08.2022. Die Familienangehörigen der Münchner Attentatsopfer von 1972 werden nicht an der Gedenkfeier teilnehmen, meldet Spiegel online. Richard Herzinger schreibt in seinem Blog über den weitgehend vergessenen Kontext des Münchner Olympia-Attentats.  Im Guardian erinnert Andriy Yermak , der Leiter von Selenskis Präsidialbüro an das Budapester Memorandum von 1994 und daran, wer es brach. Gerhard Schröder klagt gegen den Bundestag, er will sein Büro zurück, meldet dpa. Thomas Schmid porträtiert in der Welt die italienische Neofaschistin Giorgia Meloni.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.08.2022 finden Sie hier

Europa

Während sich Deutschland weiter in Erinnerungen an die "heiteren Spiele" in München 1972 ergeht, haben die Familienangehörigen der Anschlagsopfer ihre Teilnahme an der Gedenkfeier abgesagt, berichtet Anne Armbrecht bei Spiegel online. Die Opferfamilien fühlen sich durch ein Entschädigungsangebot der Bayerischen Regierung brüskiert. Diese erklärt, weiter verhandeln zu wollen. "Ankie Spitzer ist die Witwe des 1972 ermordeten Fechttrainers André Spitzer und vertritt die Interessen der Hinterbliebenen gemeinsam mit Ilana Romano, Witwe des israelischen Gewichthebers Yossef Romano. Die Familien dächten nun über neue Schritte nach, sagte Spitzer. 'Übrigens wurden wir vom britischen Parlament eingeladen, am 5. September nach London zu kommen, wo sie eine Gedenkfeier für unsere elf ermordeten Sportler abhalten. Es ist surreal, aber so ist es.'"

Das Olympia-Attentat wäre zu verhindern gewesen, schreibt Richard Herzinger in einem überarbeiteten älteren Artikel in seinem Blog, ihm gingen Entführungen israelischer Flugzeuge und der bis heute nicht geklärte Brandanschlag auf ein jüdisches Altenheim in München voraus. Die Behörden hätten alarmiert sein müssen. Die militanten Abspaltungen der 68er-Bewegung, Dieter Kunzelmanns "Tupamaros" und einige RAF-Terroristen, waren in einen mörderischen Antisemitismus abgeglitten: "Dass der deutsche Terrorismus seine Initiation durch aktive Beihilfe zum Judenmord erfuhr, zertrümmert die Reste des Mythos, er sei ursprünglich so etwas wie eine überzogene Reaktion auf wirkliche gesellschaftliche Missstände gewesen. Während die Linke die palästinensischen Gewaltmenschen zur 'Befreiungskämpfern' verklärte, versuchte sich die deutsche Regierung durch Nachgiebigkeit und Beschwichtigung aus der Schusslinie zu ziehen. Internationale Fluglinien zahlten indessen Schutzgelder an palästinensische Terrororganisationen, um von Anschlägen und Entführungen verschont zu werden." Herzinger empfiehlt sich noch einmal Georg M. Hafners beeindruckenden Dokumentarfilm "München 1970 - Als der Terror zu uns kam", der vor einigen Jahren den verdrängten Kontext wieder ausgrub. Er ist hier bei Youtube zu sehen.

Der ehemalige Rhein:

Andriy Yermak ist Leiter der ukrainischen Präsidialverwaltung. Im Guardian erinnert er an das Budapester Memorandum von 1994, in dem Russland die Ukraine anerkannte und der Westen Sicherheitsverspechen gab - im Gegenzug ließ die Ukraine zu, dass die Atomwaffen auf seinem Territorium abgezogen wurden. Das Abkommen hielt bekanntlich nicht: "Der Westen hatte zu viel Vertrauen in Jelzins Fähigkeit, Russland auf den Weg der liberalen Demokratie zu führen. Sie vergaßen die mächtigen ehemaligen sowjetischen Geheimdienstchefs, die sich aus Wut über den Zusammenbruch ihres alten Imperiums im Verborgenen, aber in der Nähe des Präsidenten aufhielten." Politiker, die an einen möglichen "Kompromiss" mit Putin glauben, hält Yermak entgegen: "Wir wissen genug, um sicher zu sein, dass es kein solches Friedensabkommen gibt, unter das Russland seine Unterschrift setzen und sein Wort halten würde. Angesichts seines Vorgehens in Syrien und seines Verhaltens nach der Einnahme der Krim sollte klar sein, dass Moskau die Friedensgespräche als Ablenkungsmanöver und Falle nutzt, nicht als Lösung."

Die Russen können ja bisher ganz gut mit den Sanktionen leben, schreibt Kerstin Holm, in der FAZ, doch eines vermissen sie schon sehr: Ikea: "Jetzt hat Russlands Strafvollzugsbehörde, die Häftlinge praktisch gratis unter anderem Möbel produzieren lässt, Anspruch auf das Marktsegment angemeldet. Der Leiter der Abteilung für Arbeitsrehabilitierung, Oberst Iwan Scharkow, versicherte, die in Strafkolonien verfertigten Möbel seien zugleich qualitativ hochwertiger als auch preisgünstiger als die von Ikea. Die Strafvollzugsbehörde, die einen steilen Anstieg ihrer Möbelproduktion vermeldet, sei offen für Geschäftsanbahnungen, erklärte Scharkow."

Putin plant, den gefangenen Kämpfern des Asow-Regiments einen Schauprozess in der Kammerphilharmonie von Mariupol zu machen, berichtet Sonja Zekri in der SZ. "In einem verzweifelten Appell haben sich die Angehörigen der Asow-Kämpfer an den ukrainischen Präsidenten Wolodymir Selenskij, das Internationale Rote Kreuz und die UN gewandt, um die Durchführung einer solchen Farce zu verhindern ... Anfang August erklärte Russlands Oberstes Gericht das Asow-Regiment zur Terror-Organisation. Nun fürchten die Angehörigen, dass sie in den anstehenden Schauprozessen wie Terroristen und nicht - unter dem Schutz der Genfer Konvention - wie Kriegsgefangene behandelt werden."

Gerhard Schröder, SPD, klagt gegen den Bundestag. Er will sein Büro und die damit verbundenen Privilegien zurückhaben, meldet unter anderem Spiegel online mit dpa unter Bezug auf Schröders Hannoveraner Rechtsanwalt Michael Nagel. Der Bechluss des Bundestags, das Büro ruhend zu stellen, sei rechtswidrig, argumentiert das Anwaltsschreiben laut dpa: "Es werde 'behauptet, Herr Bundeskanzler a.D. Gerhard Schröder nehme die sog. 'nachwirkenden Dienstpflichten' nicht mehr wahr'. Es werde 'aber nicht festgelegt, was 'nachwirkende Dienstpflichten' überhaupt sind, wie ihre Wahr- bzw. Nichtwahrnehmung zu ermitteln ist und welches Procedere es im Übrigen dabei einzuhalten gilt', heißt es in der Erklärung weiter."

Thomas Schmid porträtiert in der Welt die postfaschistische Politikerin Giorgia Meloni, der gute Chancen bei den nächsten Wahlen eingeräumt werden, und resümiert ihre widersprüchlichen Positionen: "Die Außenpolitik, die sie skizziert, orientiert sich strikt an italienischen Interessen, lehnt den humanitären Universalismus als verfehlt missionarisch ab. Was sie - in deutlichem Unterschied zu ihren Partnern Salvini und Berlusconi - nicht daran hindert, einen klaren Trennungsstrich zu Diktaturen zu ziehen und die transatlantische Bindung für lebensnotwendig zu erklären. Als Ministerin hat sie einst die italienischen Athleten aufgefordert, nicht zu den Olympischen Spielen nach Peking zu reisen, was den damaligen Ministerpräsidenten Berlusconi sehr verärgerte. Heute plädiert sie im russlandfreundlichen Italien klipp und klar für die militärische Unterstützung der Ukraine."
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Ideen

In der Reihe Reihe "55 Voices" mit Ansprachen für die Demokratie schreibt heute der deutsch-marokkanische Journalist Mohamed Amjahid in der SZ über den Liberalismus der Rechten in den USA, "der Freiheit bis zur Unkenntlichkeit fetischisiert und die individuelle Sphäre auf Kosten des Wohlergehens der Gemeinschaft auslegt". Eine Einstellung, die seiner Meinung nach viele alte weiße Atlantiker in Europa teilen oder die sie zumindest gemütlich diskutieren. "Dabei könnten ganz andere Stimmen über den Atlantik schallen und mit einem großen Mehrwert Brücken nach Europa bevölkern: der Soziologe Ibram X. Kendi, die Aktivistin Angela Davis, die Filmemacherin Ava DuVernay, der Schriftsteller Ocean Vuong, die Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez oder der Philosoph Noam Chomsky, um nur einige Namen zu nennen. Zwar werden die Arbeiten dieser kritischen Stimmen durchaus auch in Deutschland rezipiert, in den antiquierten Netzwerken der Atlantiker haben sie allerdings wenig Platz. Emanzipatorische Diskurse stören die hyperliberale Weltsicht, denn sie konterkarieren eben die Fiktion vom American und damit auch vom German Dream, die jedes Individuum in der westlichen Welt mit seinen Mitbürgern ahistorisch gleichstellt."
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Medien

Selten passeirt es, dass das Systemm der öffentlich-rechtlichen Sender von links kritisiert wird. Aber nach der Patrica-Schlesinger-Affäre beim RBB ist sich Freitag-Kolumnist Wolfgang Michael sicher: Es "fault von innen". "Die Verteidiger des öffentlich-rechtlichen Systems nehmen das Fernsehen zu wichtig, und deshalb glauben die Repräsentanten dieses Systems, sie hätten für ihre repräsentativen Aufgaben ein Anrecht auf dicke Gehälter, fette Limousinen, luxuriöse Büros und geldwerte Vergünstigungen. Selbstbewusst reihen sie sich ein in die Freunderl-Wirtschaft der Beraterverträge und des einträglichen Wechselspiels von Auftragsvergabe und Auftragsannahme. Aus der gegenseitigen Kontrolle der Gremien ist ein prinzipielles Einvernehmen der Netzwerke und Seilschaften geworden. Wie überall."
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