9punkt - Die Debattenrundschau

Das Vorhandensein der Apparate ist kein Selbstzweck

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.08.2022. Die taz recherchiert zum Oligarchen Wladimir Jakunin, der Wladimir Putin sehr nahesteht und ein enges Netzwerk in Westeuropa unterhält. Doch doch, der RBB-Skandal ändert etwas, da ist sich Medienwissenschaftler Leonard Novy in der taz mit dem FAZ-Medienredakteur Michael Hanfeld einig. Heute ist Wolfgang-Pohrt-Tag in den Feuilletons. In der FAS feiert Claudius Seidl Klaus Bittermanns große Biografie über den Polemiker. Wie gut sind seine Texte gealtert?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.08.2022 finden Sie hier

Europa

Zusammen mit einem Medienverbund recherchiert die taz seit längerem  zum Oligarchen Wladimir Jakunin, der Wladimir Putin sehr nahe steht und zum Beispiel in Wien ein Luxushotel zu besitzen scheint. Paul Toetzke erzählt von den neuen Erkenntnissen. Der Text ist beispielhaft für die komplexen, aber so notwendigen  Recherchen zu Kumpaneien zwischen Putinismus und westlichen Politikern und Prominenten. "Kaum ein anderer Oligarch ist so gut vernetzt in Europa wie Jakunin. Er unterhält Stiftungen und Institute in Frankreich, Österreich, der Schweiz, Tschechien und - bis vor Kurzem - auch in Deutschland. Alle haben dasselbe Ziel: pro-russische Allianzen knüpfen und die Politik des Kremls im Ausland salonfähig machen. In all diese Aktivitäten ist auch der Rest der Familie - seine Frau Natalia und die Söhne Andrei und Viktor - eingebunden. Russische Aktivisten und Oppositionelle warnen schon lange davor, dass die Familie auch im Ausland agiert."

Auf Charkiw konzentriert sich das Kriegsgeschehen zur Zeit nicht. Und doch, schreibt Sergei Gerasimow in einer neuen Folge seines Tagebuchs für die NZZ: "Mittlerweile sind alle großen Straßen von Charkiw mit schweren Betonblöcken versperrt, die wie riesige Ziegelsteine übereinanderliegen. Sie sind so angeordnet, dass Autofahrer im knappen Zwischenraum kaum manövrieren können, aber alles, was kleiner ist als ein Panzer oder ein gepanzertes Fahrzeug, kann passieren. Viele kleine Straßen dagegen sind komplett für Autos gesperrt, und man findet dort nur zu Fuß ein Durchkommen."
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Medien

Der Medienwissenschaftler Leonard Novy will sich im Gespäch mit taz-Autor Johannes Drosdowski über die RBB-Skandal nicht einfach auf das linke "Cui bono"-Muster ("wer profitiert? Die Rechten!") einlassen. Das ganze System der Öffentlich-Rechtlichen sei in Frage gestellt, und er konzediert, "dass der Daseinszweck der Öffentlich-Rechtlichen sich heute nicht mehr so leicht vermitteln lässt wie im 20. Jahrhundert. Und das Vorhandensein ihrer Apparate ist kein Selbstzweck".

Ja, doch. Der RBB-Skandal ändert etwas, schreibt FAZ-Medienredakteur Michael Hanfeld, der größte Kritiker des ÖRR jenseits von Springer. Und er stellt schon den Status quo in Frage: "Mit einem Mal tauchen Forderungen nach Kontrolle und Transparenz auf, die bislang undenkbar waren. Mochte es Kritik geben, etwa an den fabulösen Spitzengehältern, Mittelverschwendung oder der Bauwut (nicht nur der RBB investiert hohe Millionenbeträge in Beton, WDR, SWR und BR tun das auch), im öffentlich-rechtlichen Rundfunk tat sich - nichts. Es wurde über zu wenig Geld geklagt, und der Rundfunkbeitrag stieg. Tat er es nicht, etwa als sich der Ministerpräsident von Sachen-Anhalt verweigerte, half das Bundesverfassungsgericht nach."

Eine Autorengruppe der SZ erzählt die Geschichte in einer ihrer berühmten Seite-3-Reportagen nochmal von vorn und durfte auch das Dienstzimmer Patricia Schlesingers betreten: "Im Sender an der Berliner Masurenallee wissen sie vor lauter Krise gerade nicht mehr, wo oben und unten ist, aber wenn man das Büro betrat, das bis gerade noch Patricia Schlesinger gehörte, wusste man eines ganz genau: Hier ist oben."

Jost Müller-Neuhof glaubt im Tagesspiegel nicht so recht an die RBB-eigene Taskforce, die nun zum Skandal im eigenen Haus recherchieren soll: "Die offenkundige Verschwendung öffentlicher Mittel in der Rundfunkanstalt wird nun paradoxerweise von Journalistinnen und Journalisten ebendieses Hauses aufgeklärt, die ebenfalls aus diesen Mitteln bezahlt werden... Hinzu gesellt sich ein Investigativteam einer extern beauftragten Anwaltskanzlei, das ebenfalls der Beitragszahler finanziert. Und um Anfragen von Journalistinnen und Journalisten außerhalb des RBB mit dem Hinweis auf 'schwebende Verfahren' ins Leere laufen zu lassen - was den Schlesinger-RBB-News eine gewisse Exklusivität versprechen könnte -, hat der RBB einen bundesweit bekannten Medienrechtler mandatiert."
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Ideen

Heute ist irgendwie Wolfgang-Pohrt-Tag. Claudius Seidl bespricht in der FAS die fulminante Pohrt-Biografie des Autors und Verlegers Klaus Bittermann und nutzt die Gelegenheit, an den linken Polemiker gegen Links zu erinnern, der in den Achtzigern in konkret und taz unsterblichen Spott über die Friedensbewegung ausgoss. Das Buch sei so auch eine "eine Mentalitätsgeschichte der deutschen Linken, die... ja auch die Adressatin seiner Artikel war. Wobei es Momente gibt, da meint man, dass die Gegenwart sich dehne, ja dass die Geschichte auf der Stelle trete. Damals, in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern, war vom BDS noch nicht die Rede, und mit dem Postkolonialismus beschäftigten sich in Deutschland allenfalls ein paar Spezialisten. Es reichte aber schon ein gewisses antiimperialistisches Gefühl, damit so viele deutsche Linke damals im Staat Israel den Aggressor sahen, den Unterdrücker, die imperiale Macht. Und in den diversen Palästinensergruppen, von der PLO bis zur PFLP, die revolutionären Befreiungsorganisationen, mit denen jeder, der ein Che-Guevara-Poster an der Wohngemeinschaftstür hatte, sich gefälligst solidarisieren musste."

In der taz argumentiert auch Ulrich Gutmair mit Pohrt, um apokalyptische Jugendbewegungen wie die "Letzte Generation" oder "Extinction Rebellion" zu begreifen: "Wenn Themen wie Überbevölkerung, Raubbau an der Natur und Umweltverschmutzung die öffentliche Diskussion bestimmen, dann habe sich der Gegner verwandelt, meinte vor gut vierzig Jahren Wolfgang Pohrt: Nicht das falsche gesellschaftliche Verhältnis der Menschen, der Mensch selbst erscheint dann als Feind." Eine Autorengruppe recherchiert in der taz zugleich über wachsende Gewaltbereitschaft in der Klimabewegung.

Was Pohrt schrieb, versichert Seidl, sei "auch sehr gut gealtert. Vieles liest sich zeitgemäß. Das Beste ist radikal unzeitgemäß geblieben." Da ist sich Perlentaucher Thierry Chervel, der gestern - pure Koinzidenz - eine Pohrt-Fundstelle in einem Twitter-Thread kommentierte, nicht so sicher.

Jürg Altwegg porträtiert in einem etwas mäandernden, aber inspirierenden FAZ-Text den Essayisten Eric Marty ("Le Sexe des modernes"), Herausgeber der Werke von Roland Barthes und zugleich Kritiker und Bewunderer der großen poststrukturalistischen Generation in Frankreich, deren Denken in den woken Theorien Amerikas verkümmert sei. Aber nicht ohne ihre Mitverantwortung: "Derrida habe sich nie von dieser Instrumentalisierung seines Denkens distanziert: 'Aus Eitelkeit wurde er zu ihrem Komplizen.' Zwischen seiner komplexen Philosophie und der von Judith Butler aber lägen Welten: 'LGTBQ und sein nebulöser Jargon haben nichts mit Derridas komplexer Philosophie zu tun.' Marty kann es noch immer nicht wirklich fassen, was mit der 'Generation von Lacan, Barthes, Alain Robbe-Grillet, die ich bewunderte', in Amerika geschehen ist. Die Wucht, mit der MeToo und Black Lives Matter - Letzteres für ihn 'systemischer Rassismus' - nach Frankreich kamen, begreift er als Generationenkonflikt." Den Ursprung für die postkoloniale Verdrehung der Geschichte - Israel als die Nazis der Palästinenser - sehe Marty übrigens in Jean Genets Texten über die Massaker von Sabra und Schatila.

Außerdem: in der taz plädiert der Politikwissenschaftler Felix Heidenreich ("Demokratie als Zumutung") im Interview mit Jens Uthoff für eine Erneuerung der Demokratie durch Bürgerversammlungen.
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