9punkt - Die Debattenrundschau

Knochenbedarf

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.08.2022. Der Guardian trifft einen russischen Soldaten, der in einem 140-seitigen Bericht das grausige Leben in der russischen Armee schildert. Olaf Scholz' Lapsus offenbart etwas über Deutschland und etwas über Scholz, finden taz und Welt. Die FAZ weiß, was mit den verschwundennen Überresten der gefallenen Soldaten und Pferde von Waterloo geschah. Die Zeit traut sich ins feuchte Biotop des Posthumanismus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.08.2022 finden Sie hier

Europa

Der Guardian-Reporter Andrew Roth hat in Moskau den russischen Soldaten Pavel Filatyev getroffen, der einen 140-seitigen Bericht über das grausige und elende Leben der russischen Soldaten im Ukraine-Krieg geschrieben hat. "Seit er an die Öffentlichkeit gegangen sei, habe seine gesamte Einheit den Kontakt zu ihm abgebrochen. Er glaubt jedoch, dass zwanzig Prozent seinen Protest uneingeschränkt unterstützten. Und viele andere hätten ihm in ruhigen Gesprächen gesagt, dass sie zähneknirschend den Patriotismus der Ukrainer respektierten, die für die Verteidigung ihres eigenen Territoriums kämpften. Oder sie hatten sich über die Misshandlung ihrer eigenen Soldaten durch Russland beklagt."

Auf die schrittweise, mit der Orangen Revolution einsetzenden Entkommunisierung der Ukraine folgt seit Kriegsbeginn die Entrussifizierung, notiert Hubertus Knabe nicht ohne Kritik in der NZZ: "Das ukrainische Kulturministerium sah sich mittlerweile genötigt, vor allzu viel Aktionismus zu warnen. Ein Expertenrat zur Überwindung der Folgen von Russifizierung und Totalitarismus legte Mitte Juli Empfehlungen vor, gemäß denen in jedem Einzelfall auf wissenschaftlicher Grundlage und in einem öffentlichen Dialog zu prüfen sei, welche Rolle eine Person in der Vergangenheit gespielt habe. Denkmäler dürften ohne Zustimmung der Behörden weder beschädigt noch versetzt werden. Auch Kriegsgräber und Erinnerungsstätten zum Zweiten Weltkrieg stünden unter dem Schutz des Staates und sollten gegebenenfalls mit Erläuterungen versehen werden. Ob dieser Appell Gehör finden wird, bleibt abzuwarten. Unter dem Eindruck der Grausamkeiten der russischen Armee fällt es schwer, kühlen Kopf zu bewahren."

Olaf Scholz
' mangelnder Reflex bei Mahmoud Abbas' Holocaust-Relativierung vorgestern (unser Resümee) ist symptomatisch, findet Klaus Hillenbrand in der taz: "In Deutschland hat sich ein seltsamer Zwiespalt entwickelt. Da sind einerseits die wohlgewählten Worte bei Gedenkfeiern, wo immer wieder versichert wird, dass man die damaligen Geschehnisse nicht vergessen dürfe, der Judenhass bekämpft werden müsse und die Existenz jüdischen Lebens in Deutschland eine Bereicherung darstelle. Und da ist andererseits die Unfähigkeit, die richtigen Worte zu finden, wenn genau diese Grundsätze infrage gestellt werden."

"Scholz hätte wissen müssen, wen er da empfängt", ärgert sich Alexandra Föderl-Schmidt in der SZ. Nicht zum ersten Mal falle Abbas "mit Relativierungen zum Holocaust auf. 2018 hatte er im Palästinensischen Nationalrat erklärt, Ursache des jahrhundertelangen Hasses auf Juden in Europa sei nicht ihre Religion, sondern ihre Rolle im Finanzwesen - 'Wucher und Banken', wie er sagte. Deswegen sei auch der Holocaust nicht durch Antisemitismus ausgelöst worden. Später entschuldigte er sich. Und schon in seiner Dissertation hatte er sich mit der 'geheimen Beziehung zwischen Nazitum und Zionismus' beschäftigt und die Zahl von sechs Millionen ermordeten Juden als übertrieben dargestellt."

Scholz' Schweigen offenbart als ein Lapsus des Nichteingreifens Tieferes über seinen Politikstil, schreibt Welt-Autor Thomas Schmid: "Sein behördliches Verständnis von Politik verbietet es ihm, sich spontan zu äußern. Er hat das derart verinnerlicht, dass er sogar eine Relativierung der Shoah erst einmal geschehen lässt, bevor er sich dazu äußert. Die Scholz-Räson scheint ihm zu gebieten, im öffentlichen Raum die Form bis ins Unerträgliche hinein zu wahren und zu überdehnen."
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Wissenschaft

Eine Covid-19-Infektion erhöht das Risiko, dement zu werden, bei 65-Jährigen um über 30 Prozent, hat eine Studie herausgefunden, die in der Financial Times vorgestellt wird: "Long Covid, oft definiert als Symptome, die zwölf Wochen oder länger nach einer Covid-Diagnose auftreten, umfasst eine Reihe von Symptomen, die von Müdigkeit und Kurzatmigkeit bis hin zu Problemen im Zusammenhang mit dem Gehirn reichen, wie zum Beispiel ein Mangel an geistiger Klarheit. Nach Schätzungen von Wissenschaftlern könnten weltweit mehr als hundert Millionen Menschen betroffen sein."
Archiv: Wissenschaft
Stichwörter: Covid-19, Long Covid

Medien

Patricia Schlesinger lag übrigens, was ihr Jahresgrundgehalt betrifft, nur im Mittelfeld ihrer ARD-Kollegen, berichtet Torsten Wahl in der Berliner Zeitung: "Unangefochtener Spitzenreiter ist seit Jahren WDR-Intendant Tom Buhrow, der gerade den ARD-Vorsitz von Schlesinger übernommen hat, sich 'enttäuscht und wütend' über deren Fehlverhalten gibt und gern Reformen im Senderverbund anmahnt. Er liegt mit seinen 413.000 Euro Jahresgrundgehalt so weit vorn wie sonst Bayern München in der Tabelle." Eine weitaus größere Belastung für den Gebührenzahler aber seien "die Pensionsansprüche aller langjährigen Mitarbeiter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die nicht rückgängig gemacht werden können, die Senderetats erheblich belasten und nicht dem Programm zugute kommen. Laut aktuellem Bericht der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten fließen über acht Prozent der Beitragsaufkommens in die betriebliche Altersvorsorge - das sind von 2021 bis 2024 insgesamt über 2,6 Milliarden Euro."

Ebenfalls in der Berliner Zeitung springt Harry Nutt für die ÖRR in die Bresche. Wir brauchen sie nach wie vor zur "demokratischen Stabilisierung", aber: "Die Kontrollmechanismen, nicht nur in Bezug auf Reisekostenabrechnungen, bedürfen selbst der Kontrolle. In den Rundfunkräten, die man sich nicht zu Unrecht als träge Versammlung von Interessenvertretern vorstellt, sollen die gesellschaftlich relevanten Gruppen vertreten sein. Was in den Anfangsjahren der Republik einer vergleichsweise homogenen Zusammensetzung aus korporatistischen Partnern - Parteien, Religionsgemeinschaften und Verbänden - entsprach, ist längst einer sozialen Dynamik gewichen, die gesellschaftliche Diversität kaum noch nach Proporzkriterien abzubilden vermag. Vermutlich hat das Unbehagen über die schwierige Repräsentanz zuletzt sogar zum Wandel sprachlicher Ausdrucksformen, dem umstrittenen Gendern, beigetragen, das kaum durch den Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Einrichtungen gedeckt sein dürfte."

Seit Mai 2022 ist Franca Lehfeldt "Chefreporterin Politik" des Fernsehsenders Welt, seit Juli 2022 ist sie Ehefrau von Christian Lindner. Gerät sie da nicht in einen Interessenkonflikt, fragt sich Kathrin Müller-Lancé in der SZ. Springer sieht aktuell keinen Handlungsbedarf, aber: "Bei ihrer politischen Berichterstattung kann Franca Lehfeldt sehr viel falsch und eigentlich kaum etwas richtig machen. Zitiert sie interne Informationen, für deren Beschaffung man andere Journalisten loben würde, steht der Verdacht im Raum, sie habe diese von ihrem Ehemann. Berichtet sie ausführlich über die FDP, kann ihr vorgeworfen werfen, sie räume der Partei zu viel Raum ein. Lässt sie die FDP bei ihren Analysen ganz außen vor, wirkt das irgendwie auch komisch."
Archiv: Medien

Geschichte

Jahrzehntelang war das Rätsel der Überreste der gefallenen Soldaten und Pferde von Waterloo ungelöst. Es handelt sich um die Knochen Zehntausender Männer und Pferde, die nie wiedergefunden wurden. Nun hat eine Forscherkommission die Lösung des Rätsels gefunden. Die Knochen wurden illegal für die Zuckerproduktion benutzt, erzählt Lorenz Hemicker unter der Überschrift "Gefallen, zermalmt und aufgelöst" in der FAZ: Dafür führten die Forscher einige Argumente aus: "Der Aufstieg der Zuckerindustrie in Belgien begann 1833. Preis und Nachfrage nach Knochen explodierten förmlich, weil die Fabriken die Knochen zu Knochenkohle verarbeiteten. Die wurde für die Filter benötigt, die zum Einsatz kamen, um den Zucker zu entfärben - nicht nur in Belgien, sondern auch in anderen Teilen Europas. Der Aufwand war gigantisch. Ein Politiker jener Tage bezifferte den Knochenbedarf auf ein Drittel des produzierten Zuckers."
Archiv: Geschichte
Stichwörter: Waterloo

Gesellschaft

Die Historikerin Franka Maubach erinnert in der Zeit an das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen vor dreißig Jahren. Bei den rechtsextremen Ausbrüchen in der Ex-DDR überkreuzten sich eigene und westdeutsche Einflüsse, schreibt sie: "Während sich die Diskriminierungsgeschichte der vietnamesischen Community bis in die DDR zurückverfolgen lässt, etablierten sich die Ressentiments gegen Asylsuchende erst nach 1990. Damals wurde das westdeutsche Asylsystem nach Ostdeutschland übertragen - ein Transfer der Strukturen und Verfahren, der zeithistorisch noch wenig untersucht ist. Aber die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen werfen ein Schlaglicht darauf, wie problematisch der Prozess verlief. Weitet man den Blick über die vier Tage im August hinaus, lässt sich beobachten, dass sich die Situation vor Ort über viele Monate hinweg verschärfte - und wie die verantwortlichen Politiker sie eskalieren ließen."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Peter Neumann führt in einem nützlichen Zeit-Artikel in die neumodische Ideologie des "Posthumanismus" ein, als deren Protagonisten er Autoren wie Eugene Thacker, Fahim Amir und Eva von Redecker benennt. Ein Star der Szene sei auch die italienische Philosophin Rosi Braidotti, eine der Kuratorinnen der Biennale von Venedig. Abgeschafft wird der übliche weiße Mann: "Statt der zweiwertigen Logik des Entweder-oder, Wahr-oder-falsch, Gut-oder-böse soll ab jetzt die bewegliche Hydrologik des Sowohl-als-auch gelten. Alles fließt. Nichts bleibt gleich." Dabei entwickeln die Posthumanist:innen eine Vorliebe für Weichgetier: "Es sind Molche und Schildkröten, Schnecken und Regenwürmer, Moose und Pilze, die zurzeit die großen Erzählungen über die Zukunft der Menschheit bevölkern. Überall wimmelt es von feuchtigkeitsliebenden Tieren und Pflanzen, die mit ihrer Mischung aus physischer Schwammartigkeit und imaginierter Widerstandsfähigkeit als neues Lebensgemeinschaftsmodell herhalten müssen."
Archiv: Ideen

Kulturmarkt

"Das bisschen Affäre" um Maja Göpel (Unser Resümee) hätte sich die Zeit sparen können, meint Paul Jandl in der NZZ: "Es ist ein surrealer Schwank über einen Wissenschafts- und Publikationsbetrieb, der sich normalerweise wenig Gedanken darüber macht, ob Bücher gut geschrieben sind. Das Sachbuch wird in einer Grauzone produziert, in der das Thema allemal wichtiger ist als stilistische Feinheiten. Dazu kommt, dass der, der sich auf einem Fachgebiet auskennt, nur selten auch ein guter Schreiber ist. Die Hüter akademischer Wissensschätze haben in Zeiten popularisierten Wissens mehr und mehr das Nachsehen. In der Zeit, in der jemand wie Maja Göpel Bücher zur ökologischen Weltbedrohungslage schreibt, hätte das deutsche Professorenwesen vielleicht gerade einmal seine Zettelkästen zusammengesucht."
Archiv: Kulturmarkt
Stichwörter: Göpel, Maja