9punkt - Die Debattenrundschau

Im Stil einer AK-47

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.08.2022. Wir müssen Putin redämonisieren, fordert Slavoj Zizek im Tagesspiegel. Der belarussische Autor Sasha Filipenko weiß in der FAZ, warum die Staaten der EU Putin nicht gewinnen lassen und warum sie ihn nicht verlieren lassen wollen. Das iranische Regime wird weiter morden, schreibt Masih Alinejad in der Washington Post nach dem Anschlag auf Rushdie. Die SZ begrüßt die Masern-Impfpflicht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.08.2022 finden Sie hier

Europa

Der ukrainische Präsident fordert die Streichung von Touristenvisa für Russen. Einige Länder kommen dem nach. Auch Italien oder Spanien sind für Russen inzwischen schwer zu erreichen. Aber für den belarussischen Autor Sasha Filipenko ist die Verweigerung von Visa nur eine populistische Ausweichoption, die westlichen Staaten zugleich gestattet, weiter Gas zu kaufen, wie er in der FAZ schreibt. "Die Strategie der antirussischen Alliierten sieht ungefähr so aus: Wir dürfen Putin nicht siegen lassen, weil er sich dann stark fühlt und halb Europa verwüstet; aber wir können ihn auch nicht verlieren lassen, weil er dann in Wut gerät und wiederum halb Europa verwüstet. Daher möchte Europa alle möglichen Mauern errichten, alle Vorhänge der Welt herunterlassen und nur kleine Schlupflöcher lassen, durch die man über Drittländer sanktionierte Waren nach Russland liefern kann. In dieser Epoche halber Maßnahmen startet Europa einen Großangriff der symbolischen Gesten, die leider nicht klug sind."

Die westliche Linke ignoriert nach wie vor die geopolitische Dimension von Putins Kulturkampf, etwa im Kosovo oder in Bosnien, kritisiert Slavoj Zizek in einem mäandernden Text im Tagesspiegel: "Wie Jeremy Corbyn, der ehemalige Vorsitzende der britischen Labour Party, klagte: Die Ukraine 'mit Waffen zuzuschütten, wird keine Lösung bringen, es wird diesen Krieg nur verlängern und auf die Spitze treiben'. Stillschweigend enthalten in dieser Position ist, dass westliche Regierungen die Besetzung der Ukraine einfach zulassen sollten. Doch es ist ein merkwürdiger 'Pazifismus', der Druck auf das Opfer und seine Unterstützer ausübt statt auf den Angreifer. Westliche 'Pazifisten' bestehen darauf, Putin zu 'entdämonisieren': Es wird früher oder später irgendeine Art von Verhandlungen geben müssen, also sollten wir ihn als zukünftigen Partner behandeln. Tatsächlich sollten wir genau das Gegenteil tun: Der Angriff auf die Ukraine zwingt uns, Putin als Exponenten eines gefährlichen geopolitischen und ideologischen Projekts zu redämonisieren. Es gibt immer mehr Beweise dafür, dass Russland sich in etwas verwandelt, das den Bewohnern der westlichen Demokratien von Grund auf fremd ist, Kennern der europäischen Geschichte aber nur allzu vertraut."

Im Standard setzt Helene Dallinger leise Hoffnung auf die Bewegung Feminist Anti-War Resistance, die laut der Historikerin Ella Rossmann auf insgesamt etwa 45 feministischen Gruppierungen in ganz Russland aufbaut, die trotz aller Widerstände gegen den Ukraine-Krieg protestieren. Aber: "Verhaftungen sind für Frauen deshalb besonders gefährlich, da sich laut Rossman die Berichte über sexuelle Übergriffe auf Polizeistationen mittlerweile häufen. Insgesamt wurden seit Kriegsbeginn laut OWD-Info rund 16.400 Personen in Zusammenhang mit kriegskritischen Äußerungen oder Protesten verhaftet. 'Die Zahlen sind enorm', kommentiert Drabkin. Was außerdem auffällt: Der Anteil der weiblichen Inhaftierten ist im Vergleich zu Protesten im vergangenen Jahr gestiegen. (…) OWD-Info führt den Anstieg der weiblichen Inhaftierten darauf zurück, dass Frauen sich in den letzten Jahren aktiver in politische Proteste eingebracht hätten und diese mittlerweile auch von den russischen Behörden ernster genommen würden."
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Politik

Unabhängig davon, ob der Rushdie-Attentäter Kontakt zu iranischen Stellen hatte oder nicht: Für Masih Alinejad ist klar, dass das Regime an der Fatwa festhält und jeden unterstützt, der sie verwirklichen will, schreibt sie in der Washington Post. Berühmt wurde Alinejad durch ihre Aktionen für iranische Frauen (in der taz wurde sie neulich dafür angegriffen, mehr hier) Ihr eigener Fall zeigt deutlich, dass die Mullahs auf Mord sinnen: "Der Angriff auf Rushdie ging mir besonders nahe. Auch ich wurde wiederholt von dem bösartigen Regime in Teheran ins Visier genommen, weil ich seine hasserfüllte Politik gegenüber Frauen kritisiert habe. Vor zwei Wochen hatte ich Glück im Unglück: Die Polizei verhaftete einen Mann mit einem geladenen Gewehr im Stil einer AK-47 in seinem Auto, nachdem er einen gescheiterten Versuch unternommen hatte, in mein Haus in Brooklyn einzudringen. Der Vorfall erinnert an ein anderes Komplott, das das FBI im Jahr 2021 vereitelte, als Bundesstaatsanwälte vier mutmaßliche iranische Agenten anklagten, die sich verschworen hatten, mich zu entführen und in den Iran zurückzubringen."

Alinejad postete heute auch auf Twitter:

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Stichwörter: Alinejad, Masih, Fatwa, Komplott

Gesellschaft

Thomas Thiel berichtet für die FAZ über Streit in der feministischen Organisation Terre des Femmes. Der Vorstand hat dort ein Positionspapier zurückgezogen, das einige Forderungen der Transgender-Bewegung ablehnte (unser Resümee) Aber nicht alle in der Organisation sind einverstanden. Thiel versteht ihre Kritik: "Wie .. soll man für Frauen kämpfen, wenn die Frau von Gendertheoretikern und Transverbänden selbst musealisiert und nur noch, als hätte sie keinen Verstand, über einzelne Körperteile und Körpervorgänge wie die Menstruation erklärt wird? Tut die Gender- und Queertheorie dem Patriarchat nicht den größten Gefallen, wenn sie Frauen hinwegdekonstruiert?"

Mit der Karlsruher Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Masern-Impfpflicht für Kita-Kinder wird noch einmal klar: "Die körperliche Integrität des Einzelnen kann eingeschränkt werden, um die Schwächsten in der Gesellschaft vor Krankheit zu schützen", schreibt Wolfgang Janisch in der SZ. Aber im Unterschied zur Corona-Impfung existiert bei der Masernimpfung eine "solide Faktenbasis", betont er: "Damit lassen sich die grundrechtlichen Gewichte sehr präzise auswiegen. Das Gericht siedelt die Grundrechte von Eltern und Kindern sehr hoch an, also die körperliche Integrität sowie die elterliche Gesundheitssorge. Es kann sich aber doch eine Bemerkung nicht verkneifen: Das Elternrecht diene nicht etwa ihrer persönlichen Selbstbestimmung - sondern den Kindern. Im Zentrum aber steht der Schutz der Schwachen und Gefährdeten. Und damit hat das Gericht noch einmal ausgesprochen, was das in den Pandemiejahren so häufig ins Feld geführte Wort Freiheit bedeutet. Freiheit markiert eben keinen absoluten Anspruch, sondern bemisst sich stets im Verhältnis zur Freiheit der anderen."

"Mit dieser Rechtsprechung kann nahezu alles, was irgendjemanden vor einer Erkrankung oder Tod schützen soll und damit mittelbar auch das Gesundheitssystem entlastet, angeordnet werden", kritisiert die Strafrechtlerin Jessica Hamed im Gespräch mit Michael Maier (Berliner Zeitung): "Langfristig ist hierhin ein Trend zur Pflicht zur Gesundhaltung zu erkennen. Grenzen wurden nicht definiert und scheinen auch nicht zu existieren."
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Medien

Der RBB will das Bonussystem, also die "leistungsorientierten Vergütungen" abschaffen, lässt der geschäftsführende Intendant Hagen Brandstäter, der selbst von dem System profitierte, verlauten, meldet die Welt: "Das Bonussystem ist stark umstritten, weil dessen Existenz bis vor kurzem unbekannt war und es in anderen ARD-Häusern offenbar auch nicht existiert. Noch am Dienstag hatte Brandstäter im brandenburgischen Landtag keine Zahlen zu Gehältern und Boni der Führungsspitze genannt. Er sprach gar davon, dass es gar kein Bonussystem gebe. Es handele sich vielmehr um außertarifliche Arbeitsverträge - 27 davon würden demnach variabel vergütet samt Zielvereinbarungen."

Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 1986 dem ÖRR Verfassungsrang zugebilligt und ihn zu einem "Selbstbedienungsladen" gemacht, den einzig die KEF "willkürlich" kontrolliert, schreibt Eric Gujer in der NZZ und wundert sich nicht, dass Schlesinger und Co. das System missbrauchen. Er fordert: "Die Parlamente sollten eine echte und nicht bloß fiktive Verantwortung für die Finanzierung erhalten. Wenn über die Höhe der Rundfunksteuer öffentlich gestritten wird, wenn sich die Parteien für ihre Positionen rechtfertigen müssen, dann wird es sehr viel schwieriger, eine Gebührenerhöhung durchzuwinken."
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Wissenschaft

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Stichwörter: Influencer