9punkt - Die Debattenrundschau

Kraft, nicht aufzugeben

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.08.2022. Heute ist der ukrainische Unabhängigkeitstag. Russland überzieht das Land seit genau sechs Monaten mit seinem Krieg. Ein Verhandlungsfrieden rückt angesichts der komplett enthemmten russischen Rhetorik in immer weitere Ferne, füchtet die SZ. David Patrikarakos setzt für Unherd seine Berichterstattung über die besetzte Stadt Cherson fort - die Ukrainer wollen ihre Kinder nicht nach dem russischen Lehrplan unterrichten lassen. Weiter wird über die Haltung der russischen Bevölkerung spekuliert: Hat sie überhaupt eine?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.08.2022 finden Sie hier

Europa

Heute ist Unabhängigkeitstag der Ukraine. Der Krieg dauert seit genau sechs Monaten.

Friedrich Schmidt berichtet für das FAZ.Net von der Trauerfeier für Darja Dugina, auf der ihr Vater Alexander Dugin sagte, der "höchste Preis", den seine Tochter bezahlt habe, könne nur durch einen Endsieg gerechtfertigt werden. Der FSB tue unterdessen so, als sei sie das eigentliche Ziel des Attentats gewesen, so Schmidt: "Jetzt wird sie von Putins Apparat zu einer großrussischen Version der Jungfrau von Orléans stilisiert. Den Ton gab eine Erklärung Dugins vor, in der es am Montag hieß, seine Tochter habe ihr 'jungfräuliches Leben' auf dem 'Altar' des Sieges Russlands 'geopfert', was 'die Söhne unseres Vaterlandes zu Heldentaten inspirieren' solle. Putin verlieh Dugina postum einen Orden 'für Mut und Selbstaufopferung bei der Ausübung der Berufspflicht' wie einer Soldatin."

Je länger der Krieg in der Ukraine andauert, desto weniger scheint ein Verhandlungsfrieden möglich, meint ein ratloser Stefan Kornelius in der SZ. "Die russische Führung hat ein furchteinflößendes Bild von 'Recht' und 'Humanität' entwickelt. Wie zur Illustration dröhnt nach dem Anschlagstod der Ideologentochter Darja Dugina dieses Zerrbild einer Gesellschaftsordnung aus allen Kommunikationskanälen des russischen Staates. Unwerte Menschen, Auslöschung, Ehrentod und der patriotische Opferaltar - das zur Philosophie stilisierte Weltbild nährt den Mythos eines Überlebenskampfes gegen eine feindselige Welt. Die endzeitliche Auseinandersetzung mit dem vermeintlich Bösen zwingt die russische Öffentlichkeit zum ultimativen Opfergang, zur bedingungslosen Solidarisierung mit dem Drachentöter an der Spitze des Staates. ... Der ideologisch-propagandistische Überbau verbietet dem Präsidenten den kontrollierten Rückzug, es bleibt nur der Sieg oder die eigene Zerstörung."

"Russland muss durch militärische Misserfolge zu Gesprächen mit der Ukraine gezwungen werden", meint der Soziologe Herfried Münkler im Interview mit der Berliner Zeitung. Deshalb würden Waffenlieferungen an die Ukraine einen Frieden eher fördern als Passivität. "Mit Waffenlieferungen aus dem Ausland beschleunigt man also einen Prozess, an dessen Ende Verhandlungen stehen. In Deutschland gibt es offenbar keine Kultur des militärisch-strategischen Denkens, deswegen werden diese aus Expertensicht absurden Forderungen nicht als falsch erkannt. Der Weg an den Verhandlungstisch führt einzig über militärische Erfolge der Ukraine, die Russland die Aussicht auf den großen Sieg nehmen."

David Patrikarakos setzt für Unherd seine Berichterstattung (mehr hier) über die besetzte Stadt Cherson fort, wo ihm mehrere Quellen berichten, dass die Russen nun versuchen, die Ukrainer mit kleinen Bestechungen für sich zu gewinnen, etwa in dem sie Renten an die Alten zahlen: "Dies gilt nun für alle Bereiche - vor allem für die Bildung. Die Schulen werden im September wieder eröffnet, und im Moment wollen die meisten Ukrainer in Cherson nicht, dass ihre Kinder zurückkehren. Da Moskau russische Lehrer schickt, um sie nach einem vom Kreml genehmigten Lehrplan zu unterrichten, haben die Eltern ihre Kinder zu Hause behalten, um stattdessen online mit dem ukrainischen Lehrplan zu lernen. Doch jetzt bieten die örtlichen Behörden finanzielle Unterstützung für Bücher und Uniformen an - alles, um sie durch die Schultür zu bekommen."

Die taz bringt ein Dossier zu sechs Monaten Krieg gegen die Ukraine. Dominic Johnson resümiert das bisherige Geschehen: "Inzwischen tritt der Krieg schleichend in eine dritte Phase ein, die die zweite ergänzt. An den Fronten bewegt sich seit Juli wenig: Die russische Großoffensive im Donbass ist erlahmt, die angekündigte ukrainische Gegenoffensive im Süden beschränkt sich auf Nadelstiche. Der Fokus liegt auf gegenseitiger Destabilisierung, aus dem Stellungskrieg erwächst ein beweglicher Psychokrieg mit dem Ziel der Verunsicherung. Die Ukraine, jetzt mit Artillerie größerer Reichweite, zerstört russische Militärinfrastruktur weit hinter den Frontlinien, sogar auf der Krim. Russland zerbombt ukrainische Städte - wenn man sie schon nicht einnehmen kann, dann wenigstens plattmachen."

Die taz-Autorin Anastasia Magasowa, die von der Krim stammt, erzählt in dem Dossier, wie in ihr der Hass wuchs, besonders wegen der ausbleibenden Reaktion der russischen Zivilgesellschaft: "Dieses bösartige Gefühl kann einen von innen zerstören, aber in einem Krieg gibt es Kraft, nicht aufzugeben. Es ist mir unangenehm das zuzugeben, aber dieses Gefühl wächst in mir - gegen meinen Willen. Dazu beigetragen hat der große Krieg Russlands gegen mein Land. Der brutale Angriff dringt so tief ein, dass er sogar ein lange entwickeltes Weltbild verändern kann."

Die Behauptung, die meisten Russen würden den Krieg gegen die Ukraine unterstützen, ist russische Propaganda, behauptet Maria Aljochina von Pussy Riot im Interview mit der NZZ. "Viele Russen hassen das Regime. Aber nur wenige glauben daran, dass man etwas ändern kann. Und viele haben Angst. Unterdessen kann man schon für Anti-Kriegs-Statements in den sozialen Netzwerken zu bis zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt werden. Tatsächlich hat die Repression aber nicht erst mit dem Krieg begonnen. Wir von Pussy Riot waren vor zehn Jahren vielleicht eine Art Protestpioniere, aber viele Leute haben Putin ebenfalls bekämpft und mussten ihr Engagement mit Haftstrafen bezahlen oder noch teurer." Der Westen müsse sich jedoch gegen Putin wehren: "Die ganze Erfahrung des politischen Protests in Russland zeigt: Es wird nie besser, wenn man Eingeständnisse macht dem Regime gegenüber. Putin versteht nur die Sprache der Gewalt. Und sonst nichts!"

Sergej Michailow beschreibt die Haltung der russischen Bevölkerung in Deskrussie eher als passiv. Den Krieg verfolge von der heimischen Couch wie ein entferntes Ereignis. Die hetzerischen Talkshows aber erfreuen sich großer Beleibtheit beim Publikum. "Offensichtlich geht das Putin-Regime gerade den Schritt von der Wahldiktatur zur nächsten, noch kaum erkennbaren Stufe. Diese Art der Staatsführung lässt - wie wir wissen - weder Raum für politische Freiheiten noch für Politik überhaupt. Doch die Russen sind offenbar nicht besorgt über diese Entwicklung und haben kaum Lust, ihre Meinung zu irgendeinem Thema zu äußern. Abgesehen von einigen Monaten im Jahr 1917 und dem kurzen Zeitraum zwischen 1991 und 1993 kennt die russische Geschichte keinen nennenswerten demokratischen Aufbruch im öffentlichen Leben, was Begriffe wie Wahllegitimität oder Gewaltenteilung unhörbar macht."

In der SZ findet Sonja Zekri das diskutierte Visa-Verbot für Russen unklug: "Tatsächlich sind es vor allem die Stimmen der Opposition in und außerhalb Russlands, die ein europäisches Einreise-Verbot glaubhaft in Zweifel ziehen. Der Ex-Unternehmer Michail Chodorkowskij, Ex-Schach-Weltmeister Garri Kasparow, der Satiriker Viktor Schenderowitsch und die Publizistin Julia Latynina, die sich mit anderen zum 'Anti-Kriegs-Komitee' zusammengeschlossen hatten, warnten, dass auch jene betroffen sein könnten, die durch die Ablehnung des Krieges langjährige Gefängnisstrafen riskierten. ... Aus der Sicht der Ukrainer stellt sich das alles erwartungsgemäß anders dar. Ein Russe, der weder ausgereist ist noch im Gefängnis sitzt, tue nicht genug gegen den Krieg, hört man auch von vielen Ukrainern."
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Ideen

Dass technische Erfindungen von Frauen so wenig gewürdigt werden, liegt bisweilen auch an ihnen selbst, meint im Interview mit der SZ die schwedische Wirtschaftsjournalistin Katrine Marçal, deren Buch "Die Mutter der Erfindung. Wie in einer Welt für Männer gute Ideen ignoriert werden" gerade auf Deutsch veröffentlicht wurde. "Bei meinen Interviews stieß ich immer wieder darauf. Die Schwedin Aina Wifalk etwa, die den Rollator entwickelt hat, was ganz offensichtlich ein sehr wichtiges Gerät ist, sah sich trotzdem nie als Erfinderin. Oder die schwedische Erfinderin, die eine der wichtigsten Figuren hinter der Entwicklung des Handys war. In allen Interviews erklärt sie, sie habe nur ihren Job gemacht. Diese Einschätzung müssen wir angehen, um an die Fähigkeit der Frauen zu kommen, die unsere Gesellschaft braucht." Dazu gehört auch eine Überprüfung, warum selbst in Schweden 98 Prozent des Risikokapitals für Erfindungen an Männer geht, so Marçal.
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Gesellschaft

Musa Deli ist ein Psychologe, der sich mit den Problemen eingewanderter und doch nie recht angekommener Türken in Deutschland befasst, und die sind groß, in allen drei Generationen. Deli hat ein Buch darüber geschrieben, "Zusammenwachsen". Elena Witzeck hat ihn für die FAZ getroffen:. "Die Ursachen ihrer Krankheiten liegen oft in den über mehrere Generationen entstandenen Traumata, dem Leben zwischen den Stühlen. Viele sehnen sich zurück nach einer Kindheit, in der sie mit ihren Eltern vereint sind. Das verstehen am besten die, die ihre Kultur teilen. 'Wenn ein Türke mich anschaut', sagt Deli, 'weiß ich, was er mir sagen will. Wenn der sagt: Meine Leber brennt, dann weiß ich, das heißt, er ist depressiv und antriebslos. Oder wenn er sagt: Das Paradies liegt unter den Füßen der Mütter. Dann weiß ich, er kann seiner Wut über seine Mutter, die ihn vielleicht alleingelassen hat, keinen Ausdruck verleihen.' Delis Interventionen sollen vorübergehend sein, aber manche von ihnen haben schon fünf Jahre gedauert. "
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