9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Krieg zweier Welten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.08.2022. In der FAZ fürchtet Viktor Jerofejew, dass der Mord an Darja Dugina ein Fanal ist: "Terror hat in Russland tiefe Wurzeln." In der Welt macht die französische Philosophin Bérénice Levet totalitäre Strukturen in ökologischen Bewegungen aus. Kulturen sind keine begrenzten Realitäten, warnt der Historiker Henri-Michel Yéré in der NZZ. Ist der NDR in Kiel nur das Megafon der Landesregierung, fragt Business Insider.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.08.2022 finden Sie hier

Europa

Schleifung sowjetischer Denkmäler:

Viktor Jerofejew meditiert in der FAZ über die Wurzeln der reaktionären Philosophie Alexander Dugins, die seine Tochter Darja sich zu eigen gemacht hat und die sie in den Abgrund zog. Ihr gewaltsamer Tod in einem Promiviertel bei Moskau hat für ihn den Charakter eines Fanals: "Terror hat in Russland tiefe Wurzeln und kann einen Flächenbrand auslösen. Wir hatten revolutionären Terror, Lenins roten Terror, Stalins Großen Terror. All diese Schrecken dürfen sich nicht wiederholen. Freilich sind im russisch-ukrainischen Krieg weder Terroranschläge noch Atomexplosionen ausgeschlossen. Je länger der Krieg dauert, desto klarer wird, dass es sich nicht um einen Krieg zweier Länder handelt, sondern zweier Welten, und dass von seinem Ausgang die Zukunft Europas abhängt."

Zehntausende Juden haben Russland in den vergangenen Monaten aus Angst verlassen, dass sich der Eiserne Vorhang wieder schließt, sagt Pinchas Goldschmidt, der 33 Jahre lang Moskauer Oberrabiner war und wegen des Kriegs nun selbst in Israel lebt, im FR-Gespräch. Viele weitere Juden werden folgen, denn der Antisemitismus in Russland wachse und die Angst vor einem geschlossenen Eisernen Vorhang sei nicht unrealistisch, meint er: "Ich würde sogar sagen, er ist schon zur Hälfte geschlossen. Schon heute ist es unmöglich, direkt nach Westeuropa oder in die USA zu fliegen. Es ist viel schwerer, Schengen-Visa zu bekommen, und dann hat Finnland auch noch beschlossen die Touristenvisa für russische Staatsangehörige stark einzuschränken. Das alles betrifft auch russische Jüdinnen und Juden. Finnland war eine wichtige Route: über St. Petersburg nach Helsinki - und diese Fluchtstrecke schließt sich nun auch. Dazu kommt, dass Teile der russischen Gesellschaft überhaupt nicht hinausdürfen. Wer für das Innenministerium arbeitet oder unter Verdacht steht, Zugang zu Staatsgeheimnissen zu haben, darf überhaupt nicht ausreisen."

Heute ist die jüdische Gemeinde in Deutschland fast ohne Bedeutung, klagt der Autor und Ex-Knesset-Präsident Avraham Burg in der SZ: "Sie befasst sich nur mit zwei Dingen: Gottesdiensten und der recht obsessiv verfolgten Frage, wie viele echte und eingebildete Feinde das jüdische Volk und der Staat Israel haben. Ihre Stimme ist nur in Debatten zu hören, die sie direkt betreffen (Schächtung, Beschneidung), aber ihre Mitglieder nehmen kaum an öffentlichen Debatten teil." Dabei müssten deutsche Juden Debatten entscheidend mitgestalten: "Wird Deutschland, der Motor Europas, weiter automatisch ein Verbündeter des jüdischen Staates sein, der Millionen von Palästinensern alle politischen und demokratischen Rechte verweigert? Oder wird es der Eckstein für einen neuen Dialog sein? Zum Beispiel für einen neuen europäischen Islam, der sich sowohl der glorreichen muslimischen Tradition verpflichtet fühlt wie den heutigen Werten des Westens?"

Laut Korruptionsindex von Transparency International belegt die Ukraine Platz 122. Mag sein, schreibt die ukrainische Schriftstellerin Oxana Matiychuk in ihrem Tagebuch in der SZ,  aber das sei kein Grund "Verhandlungen" zu fordern, nur weil die Ukraine keine "lupenreine Demokratie" sei: "Man ist nicht gewillt, etwas für ein massiv angegriffenes Land auf dem gemeinsamen europäischen Kontinent zu opfern, weil es korrupt ist. Man findet aber offensichtlich nichts Anstößiges daran, mit einem internationalen Verbrecher, der - wenn man schon Transparency International bemüht, einen noch fragwürdigeren Platz 136 einnimmt - weiterhin Geschäfte zu machen."
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Politik

Ein stark erwarteter Bericht der Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte Michelle Bachelet über die Menschenrechtslage in Xinjiang wird nun kurz vor Ende der Politikerin womöglich nicht mehr veröffentlicht, berichtet Friederike Böge in der FAZ. Schon die China-Reise der Kommissarin Ende Mai (unsere Resümees) war von Menschenrechtsorganisationen und westlichen Staaten scharf kritisiert worden: "Falls der Bericht nicht mehr unter Bachelets Leitung erscheinen sollte, würde das die Glaubwürdigkeit der Chilenin und ihres Amtes beschädigen. Fachkundigen Beobachtern ist es schon jetzt unerklärlich, dass Bachelet in ihrer vierjährigen Amtszeit nicht detailliert Stellung zu den massiven Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang genommen hat, die nach Einschätzung von Völkerrechtlern und mehreren westlichen Parlamenten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder als Genozid einzustufen seien."

Eine Million Rohingya sitzen nun seit fünf Jahren in den Lagern von Bangladesh fest - und nichts hat sich in der Region zum Besseren gewendet, bilanziert Arne Perras in der SZ: "Heimkehr ist keine absehbare Option: Die Armee Myanmars konnte schwerste Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung begehen, ohne dafür zu büßen. Schlimmer noch: Die Generäle haben sich zurück an die Macht geputscht und morden weiter. Dabei verfolgen sie nicht nur die muslimische Minderheit, sondern alle Gruppen, die sich ihrer Gewaltherrschaft entgegenstemmen. Gleichzeitig führen die Verwerfungen zwischen Russland, China und dem Westen dazu, dass die Junta von außen nichts zu fürchten hat; es gibt keine gemeinsame Sanktionspolitik, die Generäle können ihren Staatsterror fortsetzen."
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Medien

Es gibt auch Ärger beim NDR, berichten Jan C. Wehmeyer und Philip Kaleta im Business Insider, allerdings ganz anderer Natur als beim RBB. Es geht um den NDR Kiel. Redakteure machen laut Bericht den Vorwurf, dass die Berichterstattung über die Landesregierung im Sinne des Ministerpräsidenten Daniel Günther glattgebügelt werde: "Die Mitarbeiter berichten, 'es gebe einen 'politischen Filter' in der Redaktion, 'eine Art Pressesprecher der Ministerien''. Weiter heißt es im Bericht: "Es werde teilweise nicht vom Ministerpräsidenten Daniel Günther oder seinem Stellvertreter Heiner Garg, sondern von 'Daniel' oder 'Heiner' gesprochen." Der Redaktionsausschuss des NDR hält die Aussagen der Redakteure - so das Fazit - für 'glaubwürdig'. Der NDR erklärt dazu, dass sich die 'pauschale Beurteilung 'Klima der Angst'' aus Sicht der Verantwortlichen in Kiel nach persönlichen Gesprächen mit zahlreichen Mitarbeitenden nicht bestätigt habe."

Auch der Stern hat zu den Vorwürfen recherchiert. Der Artikel steht hinter der Zahlschranke, wird aber im Presseportal resümiert: "Der Stern hat mehrere Fälle recherchiert, welche die Vorwürfe der Redaktionsmitglieder bestätigen. So hat der NDR nicht über eine Alkoholfahrt mit Unfallfolgen des einstigen CDU-Parlamentariers Hans-Jörn Arp berichtet. Die Alkoholfahrt des engen Vertrauten von Ministerpräsident Daniel Günther war großes Thema in den Medien des Bundeslandes, wurde beim NDR jedoch totgeschwiegen."
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Kulturmarkt

Die Energie- und Papierpreise explodieren, das pandemiebedingte Umsatzplus im Buchhandel pendelt sich wieder auf das niedrige Vor-Corona-Niveau ein, dazu kommen unzählige Remissionen, schreibt Herbert Ohrlinger, Leiter des Zsolnay Verlags, im Freitag: "Nicht nur Amazon, aber vor allem Amazon sendet im großen Stil Remissionen, also bei den Verlagen georderte Bücher, die nicht verkauft wurden, zurück. Es handelt sich um Rekordwerte von 30 Prozent und mehr des Jahresumsatzes einzelner Verlage. (…) Nicht verkaufte Bücher werden nämlich (nach immer kürzer werdenden Fristen) auf Kosten der Verlage zurückgeschickt. Mit einer gewissen Verzögerung werden diese sogenannten Remissionen bilanzwirksam und enthalten ein beträchtliches Risiko, sofern sich die Balance verschiebt."
Archiv: Kulturmarkt
Stichwörter: Buchhandel, Papierpreise, Corona

Kulturpolitik

Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat  sich mit Nigeria auf eine Rückgabe der Benin-Bronzen geeinigt. Zwei Drittel der 500 Artefakte gehen gleich zurück nach Nigeria, ein Drittel darf vorerst als Leihgabe bleiben. Andreas Kilb nimmt das alles in der FAZ zur Kenntnis, notiert aber auch, was der Vertrag "nicht annähernd klärt", nämlich "die Frage, welchen Einfluss die nigerianischen 'Partner', deren Kooperationsfreude zu betonen man nicht müde wird, künftig auf die Darstellung der Benin-Artefakte nehmen sollen." Hier höre man bisher nur Flötentöne. Bei der Präsentation der Bronzen seien aber auch folgende Fragen zu stellen: "Ist denn die Aufklärung geschichtlicher Tatsachen auch nur ein Narrativ - oder hat sie einen höheren Rang als die Mythen der Nationen? War das Königreich Benin am transatlantischen Sklavenhandel beteiligt oder nicht? Hat es mit den dabei erlösten Profiten seine Kunstproduktion angekurbelt und Feuerwaffen gekauft, mit denen es seine Nachbarvölker unterjochte, oder ist das nur eine eurozentristische Zuspitzung?"

In der taz schreibt Susanne Memarnia, dass die ersten Bronzen noch in diesem Jahr zurückgehen werden, welche, entscheidet Nigeria, das auch entscheidet, welche als Leihgabe erst mal hierbleiben dürfen. Allerdings werde  es im ersten von zwei Benin-Räumen in Berlin nur eine Bronze geben: "den Gedenkkopf einer Königinmutter, oder: Iyoba. Im zweiten Raum werden rund dreißig der historischen Objekte gezeigt, dazu aktuelle Kunst aus Nigeria." Im Tagesspiegel freut sich Birgit Rieger: "Berlin setzt damit international Maßstäbe. Deutschland ist eines der ersten Länder, das Benin-Kunst an Nigeria zurückgibt. Bisher haben nur die USA und zwei britische Universitätsmuseen Raubkunst aus dem ehemaligen Königreich Benin restituiert. ... Das British Museum in London, das ebenfalls ein riesiges Konvolut an Benin-Bronzen besitzt, weigerte sich bis dato, eine Restitution der Werke in Betracht zu ziehen."
Archiv: Kulturpolitik

Ideen

"Nicht alle Menschen mit brauner oder schwarzer Haut werden ausgebeutet, nicht alle Weißen sind böse Unterdrücker", sagt der in Abidjan geborene Historiker Henri-Michel Yéré im NZZ-Gespräch, in dem er darum ringt, in der Debatte um kulturelle Aneignung (Unsere Resümees) Verständnis für beide Seiten aufzubringen. "Kultur existiert nicht für sich alleine, sondern immer im Umfeld von gewissen Machtverhältnissen. Und Leute, die aus fremden Ländern kommen, haben manchmal das Gefühl, dass man mit ihren kulturellen Ausdrucksformen genauso umgeht, wie man sie auch in der Gesellschaft als Menschen behandelt: respektlos und unwürdig", räumt er ein. "Aber generell zu sagen: Diese Kultur gehört einem gewissen Ort, finde ich problematisch. Wenn wir das sagen, sprechen wir wie Nationalisten. Das mache ich nicht gerne, denn wir wissen, was in der europäischen Geschichte passiert ist. Kulturen sind keine begrenzten Realitäten. Wenn nur noch gewisse Leute gewisse Kunstformen praktizieren dürfen, dann ist das das Gegenteil von Kunst."

In ihrem aktuellen Buch "L'écologie ou l'ivresse de la table rase" analysiert die französische Philosophin Bérénice Levet totalitäre Strukturen in gegenwärtigen ökologischen Bewegungen, vorwiegend mit Blick auf Frankreich. Das wahre Anliegen europäischer Grüner sei die "Entwestlichung" der Welt, denn sie stellen "nicht die Zivilisation im Allgemeinen infrage, sondern die westliche Zivilisation, in der sie nur Dominanz und Raubbau sehen", sagt sie im Welt-Gespräch mit Ute Cohen und erläutert: "Der von Umweltschützern erträumte Mensch wird kein Fleischfresser mehr sein, nicht mehr jagen, in den Zirkus oder zu Stierkämpfen gehen. An Totalitarismus gemahnt auch, dass die Umweltschützer vom politischen Voluntarismus, der eine politische Tugend ist, in Richtung Konstruktivismus abgleiten. Menschen und Völker sind nur noch Material, das nach einer Idee geformt werden muss. Die Politik verfolgt keine präzisen, zeitlich begrenzten Ziele, sondern macht sich zum Erbauer einer neuen Menschheit. Daher können die stärksten Zwangsmaßnahmen ergriffen werden, mit dem Argument, dass es sich nur um ein vorübergehendes Übel handelt."
Archiv: Ideen