9punkt - Die Debattenrundschau

Unter der Ägide des Palastes

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.08.2022. In der taz spricht Pramila Patten, die UN-Sonderbeauftragte für sexualisierte Gewalt in Konflikten, über Vergewaltigung als Waffe, auch im Krieg gegen die Ukraine. Armin Nassehi fragt in der SZ, warum nur Themen wie Maskenpflicht in Deutschland zu Debatten über Freiheit führen. Im Standard unterhalten sich Sabine Scholl und Eva Schörkhuber über die Bedeutung von Klassenunterschieden heute in Deutschland.  Saba-Nur Cheema und Meron Mendel verteidigen in der FAZ Salman Rushdie, aber nicht die Mohammed-Karikaturen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.08.2022 finden Sie hier

Europa

Pilar Safatle interviewt für die taz Pramila Patten, die UN-Sonderbeauftragte für sexualisierte Gewalt in Konflikten. Sie berichtet von 124 bestätigten Fällen von sexualisierter Gewalt. Die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher liegen. "Nach den mir vorliegenden Informationen deuten die bisherigen Berichte über sexualisierte Gewalt allerdings nicht auf ungeplante Vergewaltigungen hin. Sie zeigen durchaus, dass Vergewaltigungen strategisch eingesetzt werden: um zu demütigen, Angst zu verbreiten, das soziale Gefüge zu zerreißen und den Opfern und ihrem Umfeld zu signalisieren, dass es nirgendwo sicher ist. Es handelt sich zudem nicht um Einzelfälle, und die Berichte kommen überwiegend aus Gebieten, in denen russische Streitkräfte stationiert waren."

Großspurig verkündete die deutsche Regierung nach Kriegsbeginn, sie werde russischen Oppositionellen die Einreise erleichtern. Am Fall des Oppositionellen Wadim Kobsew, der für Alexej Nawalny arbeitete und seine Verfolgung in zahlreichen juristischen Papieren dokumentieren kann, zeigen Friedrich Schmidt und Markus Wehner in der FAZ, dass die Behörden die Versprechen ihrer Chefs nicht einhalten. Kobsew war nach Georgien geflüchtet und hatte dort die Einreise nach Deutschland beantragt: "In der Ablehnung las er auf Englisch, die Schwelle für ein humanitäres Visum sei 'sehr hoch' und solche Visa könnten 'nur in sehr wenigen Fällen gewährt werden'. Auch könne in Kobsews Fall 'im Vergleich zu anderen Fällen keine schwere politische Verfolgung festgestellt werden'. Zudem sei Georgien 'ein relativ sicheres Land'. Kobsew kennt zwar zwei Russinnen, deren Anträge auf humanitäre Visa für Deutschland aus Georgien Erfolg hatten. Doch mehrere seiner Bekannten erhielten trotz üppiger Belege für ihre Strafverfolgung in Russland Absagen."

In Rostock wurde des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen gedacht, das man jetzt auch so nennt. Christian Jakob berichtet für die taz von den Gedenkfeiern. Die Molotow-Cocktails richteten sich gegen Roma und gegen vietnamesische Vertragsarbeiter. Eine Nebenbemerkung Jakobs zeigt, wie die Politik damals reagierte: "Nur vier Wochen nach dem Pogrom unterzeichnete der damalige Innenminister Rudolf Seiters (CDU) ein 'Abkommen zur Erleichterung der Rückkehr ausreisepflichtiger Ausländer' mit Rumänien, auf dessen Grundlage die Roma, die zur Zeit des Pogroms im Sonnenblumenhaus gelebt hatten, größtenteils kurze Zeit später abgeschoben wurden. Für die Gruppe der vietnamesisch-stämmigen Bewohner*innen des Hauses sprechen am Samstag zwei Frauen des Vereins 'Korientation' aus Berlin. Die Opfer 'hätten unsere Eltern sein können', sagen sie. Das Pogrom sei der 'tragische Höhepunkt anti-asiatischen Rassismus, der unsichtbar gemacht wird' und der 'bis in die Gegenwart reicht'. Es berühre sie direkt, dass es bis heute keine offizielle Entschuldigung oder Wiedergutmachung gebe."
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Gesellschaft

In der SZ fragt sich der Soziologe Armin Nassehi, erschöpft von der kindischen Debatte um die Maskenpflicht, ob wir als Gesellschaft überhaupt noch mit kollektiven Herausforderungen umgehen können: Den Kritikern, die sich auf medizinische Argumente erst gar nicht einlassen, hält er entgegen, dass unsere Freiheit immer auch einen Ordnungsrahmen hat - sonst gäbe es sie nicht. Doch "erst kollektive Herausforderungen machen darauf aufmerksam - und erzeugen einen Widerstand, der in manchen (sogar regierenden) Subkulturen so tut, als seien die Grundfesten der sozialen Ordnung in Gefahr. Anders ausgedrückt: Erst wenn durch Herausforderungen die individuell erlebten Freiheitsmöglichkeiten eingeschränkt werden, entdeckt man die Widerständigkeit des Gesellschaftlichen und kämpft dagegen - blind dafür, wie stark die vorherigen Handlungsmöglichkeiten bereits gesellschaftlich formiert waren und wie sehr die Privilegien mancher Lebensform exakt dieser Ordnung entstammen."

Salman Rushdie mag das identitätspolitische Paar Saba-Nur Cheema und Meron Mendel in seiner FAZ-Kolumne noch verteidigen. Aber die Mohammed-Karikaturen? "Wo wird solche Kritik und Satire nur als Vorwand genutzt, um Vorurteile und Ressentiments gegen eine Minderheit zu legitimieren? Wenn in den sogenannten Mohammed-Karikaturen, die von Dänemark bis Frankreich abgedruckt wurden, Muslime als hakennasig abgebildet werden, mit einer natürlichen Neigung zu Gewalt und zur Sodomie mit Kamelen - dann reden wir über etwas anderes, nämlich über Islamfeindlichkeit und Rassismus. In der Diskussion über antisemitische Kunstwerke auf der Documenta 15 kam glücklicherweise auch niemand auf die Idee, dass die Darstellung von Juden mit blutunterlaufenen Augen, Vampirzähnen und Hakennase nur Religionskritik war." Die Behauptungen über die Mohammed-Karikaturen sind leider nicht mit Abbildungen belegt.

Spiegel-Redakteur René Pfister befasst sich in einem längeren Artikel mit woken Ideologien und staunt unter anderem über eine Studie, die die Bundesregierung beim Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, kurz DeZIM, in Auftrag gegeben hat. Sie sollte herausfinden, wie rassistisch die Deutschen sind. 90 Prozent sprechen sich gegen Rassismus aus, ein erfreuliches Ergebnis, findet Pfister, auch wenn  die verbleibenden Rassisten nicht geleugnet werden dürfen. Und doch klingen die Autoren der Studie pessimistisch, notiert Pfister: "Die Autoren beklagen, 'dass bei der Hälfte der Bevölkerung Reflexe der Abwehr und eine damit einhergehende Bagatellisierung von Rassismus zu beobachten sind'. Um diese drastische These zu untermauern, haben sie den Befragten unter anderem folgende Aussage vorgelegt: 'Es ist absurd, dass einem Rassismus unterstellt wird, wenn man lediglich fragt, wo jemand herkommt.' 63,4 Prozent stimmten zu. Aber wieso ist es Rassismus, wenn sich jemand für die Lebensgeschichte seiner Mitmenschen interessiert?"

Im Standard unterhalten sich die Autorinnen Sabine Scholl und Eva Schörkhuber ausführlich über die Bedeutung von Klassenunterschieden heute in Deutschland. Die Unterschiede zeigen sich schon bei der Einschulung, erklärt Scholl: "Kinder aus prekären Verhältnissen müssen Bewegungen vollziehen, um an Bildung zu kommen. Meist befindet sich die bessere Schule in einem eher bürgerlichen Terrain. Aber werden die Kinder von den Lehrpersonen dazu ermuntert, obwohl ihre Eltern nicht zum Sprechtag kommen, oder bekommen sie eine Gymnasialempfehlung, wenn sie ausländisch klingende Namen tragen? Muss das Kind sich aus den schlechteren Bezirken in eine unvertraute Umgebung begeben? Muss es gewisse Verhaltensformen lernen und mit Lehrern zurechtkommen, die andere Verhaltensformen erwarten als die, die dem Kind von Haus aus vertraut sind? Damit beginnt die Klassenreise." Dass Klassenunterschiede heute keine Bedeutung mehr haben, glaubt auch Schörkhuber nicht: "In Österreich gehören ja auch angeblich alle zur Mittelschicht. Das hat, glaube ich, etwas mit der Kreisky-Ära in den Siebzigerjahren zu tun, aber es ist eben auch die Folie für diese Art von hegemonialer Universalisierung, bei der bestimmte Standpunkte, bestimmte Praktiken oder bestimmte habituelle Ausdrucksformen als normal gesetzt werden. Die Frage, warum bestimmte und auch sehr spezifische Schablonen als normal gelten, wird gar nicht mehr gestellt."
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Geschichte

Der Historiker Jochen Staadt erinnert auf der "Ereignisse und Gestalten"-Seite der FAZ an den Auftritt der DDR-Mannschaft bei den Olympischen Spielen von 1972. Sportlich war sie äußerst erfolgreich. Aber "an der Trauerfeier für die ermordeten Israelis im Olympiastadion nahm die Delegation der DDR nicht teil. Der Staatssicherheitsdienst zog aus der am 6. September 1972 auf dem Flugfeld von Fürstenfeldbruck gescheiterten Geiselbefreiung die Konsequenz des Aufbaus einer eigenen Anti-Terror-Abteilung. Diese schritt allerdings nicht gegen Terrororganisationen aus dem Nahen Osten ein, die vom Gebiet der DDR aus den 'westlichen Imperialismus' bekämpften, so geschehen am 5. April 1986 mit einem Bombenanschlag auf die von amerikanischen Soldaten besuchte Diskothek 'La Belle' in Westberlin mit drei Todesopfern und 28 Schwerverletzten."

Ebenfalls für die FAZ besucht Marc Zitzmann einen neuen Holocaust-Gedenkort im Bahnhof von Pithiviers (Website), von wo aus Juden aus Frankreich deportiert wurden.
Archiv: Geschichte

Kulturpolitik

Nach dem Rückgabevertrag der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) mit dem Staat Nigeria geht der Streit um die Benin-Bronzen in eine neue Runde, berichtet Matthias Busse in der Welt, diesmal in Nigeria, wo darüber gestritten wird, wer die Bronzen bekommen soll: "Anlass war die öffentliche Vorstellung der Pläne für einen Museumspavillon, der erste Abschnitt des geplanten Edo Museum of West African Art (EMOWAA). Nach Ankündigung des ehemaligen deutschen Außenministers, Heiko Maas, sollte dieser Bau die deutschen Restitutionen beherbergen. Aber genau gegen ein solches unabhängiges Museum einer nigerianischen Stiftung geht eine mit dem Königshaus verbündete Gruppe an. Osazee Amas-Edobor, Sprecher einer "Coalition of Benin Socio-Cultural Organizations", verlangt stattdessen ein königliches Museum unter der Ägide des Palastes zu errichten." Und aus den USA melden sich Afroamerikaner, die daran erinnern, dass Benin einst mit Sklaven handelte und dafür auch mit den Metallen bezahlt wurde, aus denen die Bronzen gegossen wurden. Die Juristin Deadria Farmer-Paellmann hat darum bereits "das Miteigentum der Sklavennachfahren daran in einigen amerikanischen Museen angemeldet" und forderte Deutschland auf, die Bronzen nicht zurückzugeben, mit dem bemerkenswerten Satz: "Solange die Bronzen sich auf westlichem Boden befinden, haben wir immer noch eine Aussicht auf Gerechtigkeit."
Archiv: Kulturpolitik