9punkt - Die Debattenrundschau

Wo die Grenzen zwischen Kulturen verlaufen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.09.2022. Das Menschliche an der Spitze der Machtpyramide siegte, zumindest vorläufig, schreibt Wladimir Sorokin in der SZ zum Tod Michail Gorbatschows. Thomas Schmid würdigt in der Welt Christian Ströbele und kommt auf seine Rolle als RAF-Anwalt zurück. Neuer Ärger beim NDR Kiel: Politik und Sendergewaltige mögen sich in SWH noch lieber als bisher bekannt, hat der Stern herausgefunden. Ärger auch bei der Restitution der Benin-Bronzen: Die Nachfahren von Sklaven der Sklavenhändler aus Benin wollen etwas ab - und treffen einen Punkt, findet Andreas Kilb in der FAZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.09.2022 finden Sie hier

Europa

Der Tod Gorbatschows hat schon seine symbolische Seite, fürchtet Barbara Oertel in der taz: Putin wird ihm jedenfalls keine Träne nachweinen. "Schließlich steht Gorbatschow wie kein anderer für den Untergang der einst so mächtigen Sowjetunion, die doch auf ewig währen sollte. Dieses 'unsägliche' Erbe zumindest teilweise zu revidieren, das ist das Projekt von Präsident Putin - sei es auch durch Anwendung von Gewalt und um den Preis zahlloser verlorener Menschenleben, wie derzeit in der Ukraine."

Der Politologe Archie  Brown wendet sich im Guardian gegen die irrige Idee des Westens, das Politbüro habe 1985 Gorbatschow als Generalsekretär installiert, weil er ein Reformer war. Irrig sei die Idee, weil es zu der Zeit überhaupt nicht jene Proteste gegeben habe, die ein autoritäres System in die Krise stürzen: "Nichts von alledem war 1985 der Fall - tatsächlich traten solche Unruhen erst einige Jahre nach Gorbatschows Perestroika-Reformen auf. Nicht die Krise ließ keine andere Wahl als Reformen, sondern die radikalen Reformen lösten die Krise aus. Die neuen Freiheiten ermöglichten es den unterdrückten Missständen von siebzig Jahren, einschließlich solche ethnisch-nationaler Natur, an die Oberfläche des politischen Lebens zu kommen."

Es wird Putin nicht gelingen, die Sowjetunion wiederauferstehen zu lassen, hofft der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin, der sich mit viel Sympathie an Gorbatschow erinnert: "Ganz gewiss wollte Gorbatschow die UdSSR nicht zerstören, sondern verbessern und das Leben darin lebenswerter und sicherer machen. Er glaubte noch an den guten Lenin. Er beging viele Fehler, seine schwachen Versuche, die Sowjetrepubliken zusammenzuhalten führten unwillkürlich zu menschlichen Tragödien. Doch im Vergleich mit der Stalinzeit war es das geringere Blut. Es hätte sich alles wesentlich schlimmer und blutiger abspielen können. Es kam nicht zu einem Bürgerkrieg. Das Menschliche an der Spitze der Machtpyramide siegte. Auch das Leben der Menschen da unten begann sich zu verändern. Die Menschen atmeten freier. Sie begriffen, was es heißt zu wählen. Früher wurde alles für sie entschieden - ob Meinung, ob Zigarettenmarke -, alle Auswahl traf der Staat. In der stalinschen Eisscholle taute das Menschliche."

In Russland wurde Gorbatschow verachtet, schreibt indes Frank Nienhuysen auf Seite 3 der SZ: "Der Sowjetunion trauern immer mehr Russen nach, Stalin wird in Wladimir Putins neuem Russland verklärt, während mit Gorbatschow die Bevölkerung bis zuletzt ungnädig gewesen ist. Auch wenn er Putin zunächst unterstützt hat, in dessen Amtszeiten so viel von dem beschnitten wurde, was Gorbatschow wichtig gewesen war, Pluralismus, Offenheit, Freiheit, ein besseres Verhältnis zum Westen."

Gorbatschow war "auch ein Propagandist der großrussischen Einheit. Diese Einheit stellte er, im Zweifel, über das Völkerrecht", schreibt Malte Lehming im Tagesspiegel: "Die Krim sei ein Teil Russlands, hat Gorbatschow stets betont. Die völkerrechtswidrige Annexion der ukrainischen Halbinsel hat der ehemalige sowjetische Präsident verteidigt. 'Die Wahrheit besteht darin, dass man die Krim nicht von Russland losreißen darf', sagte er im November 2014 bei einem Besuch in Berlin. Denn: 'Wir sind eine starke Nation, und wir haben was zu sagen.' Wenn er jetzt Präsident wäre, hätte er es genauso gemacht wie Wladimir Putin."

In der ARD-Mediathek ist aktuell Werner Herzogs Gorbatschow-Porträt von 2018 zu finden.

Hans-Christian Ströbele war über die Grenzen hinaus stur, aber auch in der Lage, ohne Opportunismus nachzugeben, schreibt Thomas Schmid in der Welt und erinnert etwa an Ströbeles Rolle als Andreas Baaders Anwalt im RAF-Prozess: "Da der Anwalt in Ströbeles Verständnis unabhängig von Schuld oder Unschuld immer rückhaltlos auf der Seite der Angeklagten zu stehen hat, verteidigte er Baader auch politisch. Und das hieß: Die strafrechtlich relevanten Taten der RAF spielten keine Rolle, der Mandant war für ihn das unschuldige Opfer staatlicher Willkür. In seiner Parteinahme für die Angeklagten überschritt er zuweilen die Grenze dessen, was einem Anwalt erlaubt ist - weswegen er selbst angeklagt und auch verurteilt wurde. In Ströbeles Welt waren die Dinge klar geschieden. Die - in der Tat zuweilen, aber längst nicht immer - schlimmen Haftbedingungen der RAF-Angeklagten galten ihm als Beweis für einen durch und durch repressiven Staat. Dass es aber erdrückende Gründe für die strafrechtliche Verfolgung der RAF-Mitglieder gab, dafür fühlte er sich nicht zuständig, dazu schwieg er beharrlich oder überhöhte gar die Täter zu Opfern. Stets aus seinem ehrlichen, aber auch einseitigen Gefühl für Gerechtigkeit heraus. 1975 schloss ihn die SPD aus der Partei aus."
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Kulturpolitik

Einen wunden Punkt trifft die New Yorker Anwältin Deadria Farmer-Paellmann mit einem Brief, der deutsche Museen auffordert, die Benin-Bronzen zurückzuhalten, bis Nigeria die Nachfahren der Sklaven, mit denen es handelte, entschädigt hat (mehr dazu hier), meint Andreas Kilb in der FAZ. "Im postkolonialen Weltbild haben die Benin-Bronzen den Rang von Kronjuwelen: Sie sind das Zeichen der Stärke Afrikas, seiner kulturellen Gleichwertigkeit, seiner glorreichen Vergangenheit. Dass diese Glorie, wie jede Form imperialer Kultur, eine barbarische Kehrseite hat, hören die Aktivisten aus Nigeria oder Senegal weniger gern. Aber der Prozess der historischen Gerechtigkeit lässt sich nicht an einer beliebigen Stelle anhalten. Wer die Rückgabe der Bronzen als Wiedergutmachung für koloniales Unrecht fordert, kann den Unrechtszusammenhang nicht ausblenden, aus dem die Skulpturen einst hervorgingen. Insofern wirft der Brief der amerikanischen Anwältin ein Schlaglicht auf einen Vielvölkerstaat, der seine Vergangenheit noch längst nicht bewältigt hat."
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Stichwörter: Benin, Benin-Bronzen, Nigeria, Senegal

Ideen

Die hysterische Debatte gegen kulturelle Aneignung (Unsere Resümees) offenbart nicht nur "die ideologischen Parallelen zwischen islamistischem, postmodernem linkem und neurechtem Gedankengut. Sie erinnern auch an die alten Zeiten der Kolonialherrschaft. Denn diese basierte auf der kulturellen Trennung der Völker - und auf verlogenen orientalistischen Märchen", schreibt Kacem El Ghazzali in der NZZ. Ihnen gemein sei eine "essenzialistische und deterministische Deutung von Kultur. Denn wo finden wir reine, saubere Kulturen, in denen das Eigene vom Fremden scharf unterschieden werden kann? Vielleicht nur in der Vorstellung einiger Illusionisten, die für rassische und kulturelle Überlegenheit eintreten. Dabei ist das, was Islamisten und andere Eiferer für authentische Kultur halten, zum Teil selbst ein Produkt des Kolonialismus: Die Kolonialherren waren nicht primär daran interessiert, ihre Wertvorstellungen in die Welt zu exportieren. Vielmehr ging es ihnen um den Erhalt konservativer traditioneller Strukturen, die der Sicherung der eigenen Macht dienten."

Über Aneignung werde nur noch im "Modus des Verbots" gesprochen, ärgert sich Jens Balzer, der gerade das Buch "Ethik der Appropriation" veröffentlicht hat, im Gespräch mit Susanne Lenz (Berliner Zeitung). Kritik an einer kulturellen Aneignung, die sich gegen die Ausbeutung der Kultur von Minderheiten durch die Mehrheitskultur wendet, findet er erstmal legitim. Aber: "Wenn man diese spezifische Kritik aber auf das Verhältnis zwischen Kulturen im Allgemeinen zu übertragen versucht, dann läuft man Gefahr, einen identitären Kulturbegriff zu formulieren. Wer kann denn schon genau sagen, wo die Grenzen zwischen verschiedenen Kulturen verlaufen, und wer kann mit Sicherheit behaupten, genau zu einer bestimmten Kultur zu gehören und darum ein Eigentumsrecht an ihr zu besitzen." Auch auf den deutschen Antisemitismus und die Winnetou-Debatte (Unsere Resümees) kommt Balzer zu sprechen: "Für die antiimperialistische Linke war Israel als Kolonialmacht immer auch ein Hauptfeind. Im Grunde war Arafat in den Siebzigern der Winnetou der linken Gegenkultur. Man imaginierte ein einfaches Wüstenvolk, das gegen die technisch modernen, imperialistischen Besatzer kämpft, genau wie das die Indianer gegen die weißen Kolonisatoren getan haben. Die heutige postkoloniale Linke - jedenfalls die in Deutschland - steht ganz klar in dieser Tradition."
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Medien

Aufruhr im NDR, das renommierte "Zapp"-Magazin, selbst eine NDR-Sendung, brachte gestern Abend eine Sonderausgabe. Es gibt neue Enthüllungen über das Funkhaus Kiel im an sich so friedlich wirkenden Bundesland Schleswig-Holstein. Dass es Vorwürfe von allzu großem freundlichem Einvernehmen zwischen den Spitzen der Politikredaktion und CDU-Talent Daniel Günther gab, war ja schon bekannt (unser Resümee).

Die Enthüllungen kommen nicht aus dem Sender selbst, sondern vom Stern. So sah die Anmoderation im "Schleswig-Holstein-Magazins", an sich einem Monument freundlichen Biedersinns, aus:


Die neueste Meldung des Stern ist: "Leiter des NDR-Landesstudios in Kiel lassen Ämter ruhen." Es geht unter anderem um den Chefredakteur Norbert Lorentzen und Julia Stein, "Leiterin der trimedialen Redaktion Politik und Recherche", Stein hatte auch mal das "Zapp"-Magazin "geleitet. Der Direktor des Landesfunkhauses Schleswig-Holstein, Volker Thormählen, teilte in einem Statement mit: 'Norbert Lorentzen und Julia Stein haben mich am heutigen Nachmittag gebeten, sie bis auf weiteres von ihren bisherigen Aufgaben im Landesfunkhaus Schleswig-Holstein zu entbinden. Ich habe ihrem Wunsch entsprochen und mich bei ihnen für diesen Schritt bedankt.' Thormählen ergänzte: 'Ich möchte der guten Ordnung halber daran erinnern, dass die Unschuldsvermutung gilt.'"

Leider stehen die Stern-Recherchen nicht online. Der Linken-Politiker Fabio De Masi resümiert auf Twitter die Vorwürfe gegen Stein, die Recherchen zur Geschichte es Deutschen Roten Kreuzes erschwert haben soll. Es ging um Gewalt gegen Kinder in Landverschickungsheimen in den fünfziger und sechziger Jahren. Das Pikante daran: "Chefin des DRK SH ist eine Ex SPD-Landespolitikerin, ihre damalige Lebensgefährtin war damals Vorsitzende des Landesrundfunkrates Kiel." Ein weiterer Vorwurf des Stern laut der Zusammenfassung im NDR selbst: "Ein leitender Redakteur der Politikredaktion soll Wahlkampf für seinen Mann im Kampf um ein Bürgermeisteramt gemacht haben." Mehr auch bei ntv.de.
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Kulturmarkt

Tobias Timm und Stefan Koldehoff erzählen in der Zeit "Tim und Struppi"-hafte Geschichten um verschwundene Mumien, Goldsärge und hieroglyphenverzierte Stelen,die im arabischen Frühling bei Raubgrabungen entdeckt worden waren und über einen Hamburger Galeristen und verschiedenene deutsche Museen liefen, bevor sie bei der Polizei aktenkundig wurden: "Mit deutschen Museen hatte der Galerist über Jahrzehnte offenbar ein System aufgebaut, das für ihn und die Museen in vielerlei Hinsicht vorteilhaft war: Der Galerist lieh seine Ware oder Teile seiner Sammlung an verschiedene ägyptische Museen in Deutschland aus, die sich mit den Stücken schmücken und an ihnen forschen konnten." Die Affäre hat internationale Weiterungen, auch ein hoher Louvre-Beamter kam in Haft.
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Stichwörter: Kunstraub, Antikenschmuggel

Gesellschaft

Die Islamismus-Expertin Claudia Dantschke arbeitet mit deutschen IS-Kämpfern und ihren Frauen und Kindern, die noch in Syrien sind, und versucht, sie  aus kurdischen Lagern nach Deutschland zurückzuholen, wo sie teilweise Gefängnisstrafen zu erwarten haben. Nicht Mitleid sollte uns dabei leiten, sondern wohlverstandenes Eigeninteresse, meint sie im Gespräch mit Yassin Musharbash in der Zeit: "Die sind mangelernährt. Viele haben Angst. Früher haben sie vom Märtyrertum geträumt, jetzt schicken sie ihren Müttern weinerliche Sprachnachrichten: Hol mich hier raus! Was macht dieser Gegensatz mit denen? Ich glaube, die sind tickende Zeitbomben, aus psychischer Sicht. Wir bekommen dann irgendwann Psychopathen zurück, voller Hass und Wut, ohne jede Aufarbeitung ihrer Taten. Deswegen denke ich, sie sollten so schnell wie möglich zurückgeholt werden."
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Stichwörter: Islamischer Staat, Islamismus

Geschichte

In letzte Minute haben sich deutsche Behörden und die Angehörigen der Opfer des Olympia-Attentats von 1972  geeinigt. Die Opfer erhalten nach jahrzehntelangem Kampf um eine würdige Behandlung eine Entschädigung von 28 Millionen Euro, berichtet Aaron Wörz in der taz. Und eine Aufarbeitung der Geschehnisse wurde vereinbart, denn die deutsche Behörden hatten 1972 trotz der Warnungen, die es gegeben hatte, schmählich versagt und sie hatten keine Hilfe aus Israel akzeptiert: "Bei dem chaotischen Versuch, die Geiseln zu befreien, starben neun israelische Sportler auf einem Flugplatz in der Nähe von München. Die Familien wollen deshalb eine offizielle Entschuldigung der deutschen Regierung. Zudem seien noch Akten unter Verschluss. In der Mitteilung über die Einigung kündigte die Bundesregierung am Mittwoch eine 'Aufarbeitung der Geschehnisse durch eine Kommission deutscher und israelischer Historiker, die rechtskonforme Freigabe von Akten, die Einordnung und Übernahme von politischer Verantwortung im Rahmen der Gedenkveranstaltung' an."

in einer historischen Koinzidenz jähren sich gleichzeitig die Verhandlungen der Adenauer-Regierung mit Israel zum siebzigsten Mal, die zu Entschädigungszahlungen führten. Der Historiker Constantin Goschler erinnert in der Zeit daran, dass die Israelis ursprünglich gar nicht direkt mit Deutschland reden wollte, sondern hofften, die Alliierten einschalten zu können. Aber die wollten nicht: "Die katastrophale ökonomische Situation des 1948 gegründeten israelischen Staates, der sich seither im Dauerkonflikt mit seinen arabischen Nachbarn befand und Hunderttausende Holocaust-Überlebende aus Osteuropa aufnahm, zwang die Regierung in Jerusalem schließlich dazu, ohne Mittler mit den Deutschen zu sprechen."
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