9punkt - Die Debattenrundschau

Der Raum der großen Zeit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.09.2022. Michelle Bachelet, UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, hat wenige Minuten vor Ende ihrer Amtszeit einen Bericht über den chinesischen Umgang mit den Uiguren vorgelegt. Immerhin: Menschenrechtsverletzungen werden deutlich benannt, freuen sich die Zeitungen. Auch Unternehmen wie Volkswagen können dem Thema nun nicht mehr ausweichen, hofft der Tagesspiegel. In der NZZ veröffentlicht die russische Schriftstellerin Elena Chizhova eine Hommage auf Michail Gorbatschow, während Richard Herzinger in seinem Blog den deutschen "Gorbi-Kult" kritisch beleuchtet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.09.2022 finden Sie hier

Europa

Heute herrscht "Brutalität, wo einst Scham war", schreibt Christian Jakob in der taz. Immer noch sterben Flüchtlinge im Mittelmeer, aber Europa steht zu seiner Abschottung, und die Öffentlichkeit hat sich abgewandt: "Der Blick nach Malta, nach Libyen, nach Italien, nach Algerien, nach Ceuta und Melilla, an den Ärmelkanal, an die Grenzen von Polen und Belarus, von Kroatien und Serbien zeigt ein ähnliches Bild: eine mörderische Entrechtung Hilfloser, wofür sich heute niemand mehr ernsthaft schämt, wofür keine politischen Konsequenzen mehr zu befürchten sind. Im Wochentakt sinken Flüchtlingsboote im Mittelmeer, immer noch, immer wieder, obwohl ihre Rettung ein Leichtes wäre." In einem zweiten Artikel berichtet Jakob, dass es allein im August 16 tödliche Unfälle im Mittelmeer gab.

Weltweit existieren heute etwa zweihundert sogenannte "frozen conflicts", "in denen meist Separatisten staatliche Ansprüche auf abgetrennte Territorien erheben, die von der überwältigenden Mehrheit der Staatengemeinschaft nicht anerkannt werden", schreibt die Historikerin Ulrike von Hirschhausen bei Tagesspiegel+. Man muss nur nach Transnistrien schauen, um die Gefahr solcher Konflikte zu erkennen, fährt sie fort: "Anfang der neunziger Jahre haben russischsprachige Eliten, meist Geschäftsleute aus der Stahlindustrie, die Abtrennung des kleinen Flecken Landes von der neu entstandenen Republik Moldau durchgesetzt. Transnistrien, zwischen Moldau und der Ukraine gelegen, mit rund 375.000 Einwohnern, wird heute von kaum einem Land der Welt anerkannt und hat ein autoritäres Regime, das freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit massiv beschneidet. Die russische Regierung liefert dem isolierten Regime gratis Gas und nützt die aufgelaufenen Schulden als Pfand im Poker um Konfliktverhandlungen. Zwischen den Bewohnern Transnistriens und der Republik Moldau gibt es keine ethnischen Ressentiments, der entscheidende Faktor ist vielmehr die russische Regierung, welche die ungelöste Situation für sich nützt."

Gestern war in Russland "Tag des Wissens", berichtet FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt. Die Schule fängt wieder an. Und Putin sprach nach einer Stippvisite an Gorbatschows Sarg (an der Beerdigung wird er nicht teilnehmen) in Kaliningrad zu Kindern. Es gibt einen neuen Lehrplan: "Drittklässler sollen demnach unter anderem lernen, dass 'das Glück der Heimat teurer ist als das Leben'; Fünftklässler sollen lernen, dass die 'enorme Militärhilfe des kollektiven Westens' für die Ukraine "die Gefechte in die Länge zieht und die Zahl der Opfer der Operation erhöht'. Verschiedene Altersklassen sollen Geschichten vom Krieg hören wie die von 'Hauptmann Alexandr Romanow', der 'eine Gruppe ukrainischer Nationalisten' in ein Minenfeld gedrängt habe, wo sie indes nicht auf Minen getreten seien, sondern sich ergeben hätten."

Ziemlich kritisch kommt Richard Herzinger in seinem Blog auf den deutschen "Gorbi-Kult" zurück, der seit seinem Tod kurz nochmal aufflammte: "Die Verklärung Gorbatschows stellte ein konstitutives Element der jahrzehntelangen deutschen Anbiederungs- und Beschwichtigungspolitik gegenüber Moskau dar. Zugespitzt läuft das deutsche Narrativ über die Befreiungsjahre 1989/1990 auf die Kernüberzeugung hinaus, 'Gorbi' habe Europa die Freiheit und uns Deutschen die Einheit geschenkt. Diese Großzügigkeit vonseiten eines sowjetischen Führers wurde als das Resultat beharrlicher Vertrauensbildung durch unverdrossenen 'Dialog' gewertet."

In einem sehr schönen Text in der NZZ erzählt die russische Schriftstellerin Elena Chizhova, wie Gorbatschow ihr die Freiheit und den Glauben an Worte zurückgab. Und sie kommt auf die Zerrissenheit und Belastung Gorbatschows zu sprechen, dem in Russland vorgeworfen wird, er habe die "Sowjetunion zerstört": "Ich glaube, Gorbatschow empfand das Ende der Sowjetunion als seine persönliche Schuld. Nicht zufällig war er ständig bemüht, sich zu rechtfertigen und die Verantwortung für das Geschehen dem 'bösen Jelzin' und dessen Gesinnungsgenossen zuzuschreiben. Darin sehe ich ein tiefes Paradox: Eine Persönlichkeit von historischer Bedeutung versucht sich von dem loszusagen, womit sie in die Weltgeschichte eingehen wird. Kaum jemand im heutigen halbsowjetischen Russland ist sich der historischen Größe jenes Mannes bewusst, der es bei all seinen persönlichen menschlichen Schwächen und Zweifeln vermocht hat, sein Land aus der Isolation herauszureißen und es in den Raum der großen Zeit zurückzuführen."

Polen fordert von Deutschland Weltkriegs-Reparationen in einer Höhe von 1,32 Billionen Dollar, die Bundesregierung lehnt jegliche Zahlung ab, meldet unter anderem der Tagesspiegel mit dpa. "Die Frage von Reparationen zwischen Deutschland und Polen ist seit Jahrzehnten durch etliche Erklärungen und Verträge verbindlich abgeschlossen, auch wenn Polens faktischer Regierungschef Jarosław Kaczyński solche entsprechenden historischen Tatsachen gern leugnet - zumindest öffentlich", erinnert Florian Hassel in der SZ. Aber um die PiS ist es nicht gut bestellt: "Geblieben sind der PiS indes ihre Stammwähler, oft auf dem Land wohnend, Ressentiments pflegend, von der PiS seit 2015 mit immer neuen Sozialleistungen verwöhnt - und wenig vertraut mit den historischen Fakten oder den zahlreichen Winkelzügen Kaczyńskis oder seines Justizministers Zbigniew Ziobro bei der Beseitigung einer unabhängigen Justiz. Es ist diese Stammwählerschaft, an die sich die Wiederbelebung des Reparationsthemas richtet."
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Medien

Gestern waren neue Belege für die herzliche Verbundenheit von Politik und NDR Kiel aufgetaucht (unser Resümee). Johannes Schneider sieht das mit Beziehungen strategischer Paare zwischen öffentlich-rechtlichen Journalisten und Politikern in Zeit online zwar recht gelassen, zumal in einer relativen medialen Wüste wie Schleswig-Holstein: "Dass Protagonistinnen aus Politik und Verwaltung und Journalisten persönliche Beziehungen pflegen, im Zweifel auch seit Zeiten, wo beide Seiten noch in ganz anderen Funktionen tätig waren, bedeutet ja nicht gleich, dass Einflussnahme und Machtmissbrauch stattfinden." Aber im Fall des FDP-Politikers Sven Partheil-Böhnke, der mit dem leitenden politischen NDR-Redakteur Stefan Böhnke verheiratet ist, fällt ihm doch eine gewisse Schamlosigkeit auf, und er zitiert aus einer Interviewäußerung des Politikers: "Mit meinem Mann als politischem Journalisten und über unsere besonderen Kontakte in die Kieler Landespolitik habe ich zudem einen guten Berater für die politische sowie die tägliche Arbeit und ein sehr gutes und nützliches Netzwerk."

Perlentaucher Thierry Chervel beobachtet in einem kleinen Twitter-Thread, dass das Phänomen des "strategischen Paars" (Ehefrau und Ehefrau, Ehemann und Ehefrau, Ehemann und Ehemann) sehr viele der öffentlich-rechtlichen Skandale auszeichnet: "Die Skandale sollten von Ethnologen untersucht werden, die sich mit der Heiratspolitik in diesen Institutionen befassen. Dass sich private Beziehungen mit institutioneller Macht so verknüpfen, offenbart meiner Meinung nach eine Feudalisierung unsrer Gesellschaft."

Außerdem: Stefan Locke berichtet aus Leipzig für die FAZ von einem Prozess gegen den ehemaligen MDR-Manager Udo Foht, dem gravierende Finanzjonglierereien vorgeworfen werden, ein Fall aus dem Jahr 2011, der erst jetzt verhandelt wird.

Viel im Gespräch ist eine Untersuchung der Uni Bielefeld, die untersucht hat, wie sehr Jugendliche der Politik und den Medien vertrauen und dabei herausfand, dass sie es nicht tun. Studienleiter Holger Ziegler verhaftet im Gespräch mit Uwe Ebbinghaus von der FAZ die üblichen Verdächtigen: "Dabei fiel auf, dass die Gruppe, die angab, massives Misstrauen gegenüber Medien zu haben, sich selten oder gar nicht übers Radio, über Zeitungen, das Fernsehen oder digitale Angebote der entsprechenden Medienhäuser informiert, sondern fast ausschließlich über soziale Netzwerke. Hier war die Neigung, Verschwörungstheorien zu glauben, fünf Mal höher als bei denjenigen, die auch klassische Medien nutzen. Das ist eindeutig keine Petitesse."

Das von Fahrettin Altun, einem früheren Think-Tank-Wissenschaftler und Vertrauten von Erdogan, geleitete sogenannte Kommunikationsdirektorat in Ankara soll die türkischen Mainstream-Medien total kontrollieren, berichtet Thomas Avenarius (SZ) unter Berufung auf eine Reuters-Recherche: "Das Amt lenke die Nachrichtengebung der regierungsnahen Sender, Zeitungen und Online-Auftritte. Chefredakteure und Kolumnisten würden mit Anrufen und Whatsapp-Nachrichten auf die jeweils vorgegebene Linie eingeschworen. (…) Erleichtert werde das Vorgehen des Direktorats durch die Besitzer der Sender und Blätter. Über die Vergabe staatlicher Anzeigen würden die Medien wirtschaftlich unter Druck gesetzt."
Archiv: Medien

Politik

Michelle Bachelet, UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, hat wenige Minuten vor Ende ihrer Amtszeit ein brisanten Bericht über den Umgang der chinesischen Regierung mit Uiguren und anderen Minderheiten veröffentlicht, meldet unter anderem die SZ: "'Das Ausmaß der willkürlichen und diskriminierenden Inhaftierung von Angehörigen der Uiguren und anderer überwiegend muslimischer Gruppen (...) könnte internationale Verbrechen, insbesondere Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darstellen', heißt es in dem Bericht. Den Menschen seien von 2017 bis 2019 und möglicherweise darüber hinaus fundamentale Rechte vorenthalten worden." Warum veröffentlichte Bachelet den Bericht erst jetzt? "Bachelet stand unter immensem Druck, wie sie vergangene Woche berichtete. Während viele Regierungsvertreter mit wachsender Ungeduld auf die Veröffentlichung gepocht hätten, habe sie auch einen Brief von rund 40 Regierungen erhalten, die sie drängten, von der Veröffentlichung abzusehen. Einzelne Länder nannte sie nicht."

Die verzögerte Veröffentlichung des Berichts liegt auch daran, dass es für Einheimische so gefährlich geworden ist, mit Ausländern über wichtige Dinge zu sprechen, schreibt der Anthropologe James McMurray im Guardian: Diejenigen, "die die Masseninternierungen und andere Gräueltaten in Xinjiang öffentlich ansprachen, wurden von Peking sanktioniert und verleumdet, als Teil seiner unermüdlichen Bemühungen, die Wahrnehmung seiner Politik in der Region zu kontrollieren. Diese Bemühungen folgen seit 2017 einem ähnlichen Muster: Leugnen, was passiert, bis die Beweise erdrückend sind, und dann versuchen, diese Beweise in ein positives Licht zu rücken (…). Danach werden diejenigen, die die Wahrheit ans Licht bringen, verurteilt und bestraft."

Damit "liegt ein UN-Dokument vor, dem sich keiner entziehen kann", kommentiert Stefan Kornelius ebenfalls in der SZ: "Kein Investor in Xinjiang, kein Kanzler auf Arbeitsbesuch. Bachelet hält außerdem eine wichtige Nachricht an alle Mitgliedstaaten der UN parat: dass Menschenrechtsverstöße auch benannt werden. Es gibt kein Zweiklassenrecht, das sich etwa an der Höhe des Bruttoinlandsprodukts bemisst. Menschenrechte sind universale Rechte, sie lassen sich nicht umdeuten oder relativieren, auch nicht von einem der mächtigsten Staaten der Erde. Der Bericht stellt China in eine Ecke, aus der es schwerlich entkommen kann. Nach der Umarmung Russlands und der Eskalation um Taiwan wächst die ideologische Kluft zum Westen."

Der Bericht offenbart nicht viel, was man nicht schon wusste, meint Gregor Dotzauer im Tagesspiegel. Aber: "Wenn aus dem Bericht politisch erst einmal nichts folgt, weil es weder eine mehrheitlich getragene UN-Resolution geben wird, noch eine solche über den Appell hinaus wirksam wäre, zwingt es doch zumindest Unternehmen wie Volkswagen mit höchster moralischer Autorität, seine Vogel-Strauß-Haltung an Standorten wie der uigurischen Hauptstadt Ürümqi zu überdenken. Das wiederum könnte politische Akteure beeinflussen."

Frauke Steffens erzählt in der FAZ vom immer engeren Bündnis des Silicon-Valley-Investors Peter Thiel mit neurechten bis faschistoiden Politikern in den USA. Produziert wird dabei gefährlicher ideologischer Quark: "Peter Thiel wirbt vordergründig für eine Herrschaft der Technokraten, seine Vorstellungen sind indes durchsetzt von Visionen einer vermeintlich überlegenen Herrscherklasse, die die Geschicke des Landes besonders effizient bestimmen könnte. Demnach kann ein 'Einzelner' das Schicksal der Menschen zum Guten wenden."
Archiv: Politik

Geschichte

Der deutsch-jüdische Autor und Psychologe Louis Lewitan erlebte das Olympia-Attentat 1972 vor Ort. In der Jüdischen Allgemeinen rechnet er scharf ab mit der Bundesregierung, dem Bundesnachrichtendienst, dem Olympischen Komitee, dem Freistaat Bayern und den Sicherheitsbehörden, denen er "kollektives Versagen" auf allen Ebenen vorwirft. Ein "unwürdiges Trauerspiel" nennt er auch die jetzige Einigung, Aufklärung fehle bis heute: "Die schreckliche Vergangenheit des Olympia-Attentats wirft auch heute noch einen langen Schatten, aus dem die deutsche Regierung offensichtlich nicht willens ist herauszutreten. Stattdessen hüllt sie sich weiter eisig in Schweigen, wenn es etwa um die lückenlose Aufdeckung der unsäglichen Kooperation zwischen der nachgiebigen, erpressbaren Bundesregierung unter Willy Brandt und der terroristischen 'Palästinensischen Befreiungsorganisation' PLO geht. Ebenso ungeklärt bleibt, warum Mohammed al-Safadi und Jamal al-Gashey, zwei der drei überlebenden Attentäter, bis zum heutigen Tag nicht vor einem deutschen Gericht zur Verantwortung gezogen wurden. Ihr Aufenthaltsort ist den deutschen Behörden seit langem bekannt."
Archiv: Geschichte