9punkt - Die Debattenrundschau

Flüchten oder standhalten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.09.2022. Siv Bublitz verlässt den Fischer Verlag, ihr Nachfolger wird Oliver Vogel. SZ und FAZ erkennen darin das Eingeständnis eines Irrwegs. In der taz erklärt der Literaturwissenschaftler Uwe Schütte die Wokeness nicht als Folge linker Meinungsdiktatur, sondern neoliberaler Universitätspolitik. In der NZZ schreibt Michail Schischkin über Gorbatschow, der nicht groß in seinen Erfolgen war, sondern in seinem Scheitern. In der SZ meint Friedrich Küppersbuch klar: Die Konsequenz aus der RRB-Krise kann nicht mehr Macht für Gremien sein, sondern nur weniger Rundfunkrat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.09.2022 finden Sie hier

Kulturmarkt

Siv Bublitz verlässt den Fischer Verlag, an ihrer Stelle soll Oliver Vogel verlegerischer Geschäftsführer werden, meldet Felix Stephan in der SZ. Stephan versteht den Wechsel als "programmatische Kehrtwende": "Siv Bublitz... war vor allem als streng betriebswirtschaftlich denkende Saniererin und Change Managerin bekannt. Unter ihrer Führung reduzierte der Verlag die Zahl seiner Veröffentlichungen und fuhr das ruhmreiche Sachbuchprogramm zurück. Der Katalog wurde handlicher, das literarische Programm unterhaltsamer und das messbare Publikumsbedürfnis rückte ins Zentrum der publizistischen Tätigkeit. Langjährige Hausautoren wie Monika Maron und Thomas Brussig verließen den Verlag im Streit, andere, wie die spätere Buchpreisträgerin Anne Weber, gingen lautlos. Jetzt geht auch die Verlegerin, 'wegen unterschiedlicher Auffassungen über die weitere Entwicklung der Verlage', wie es in der Mitteilung heißt. Oliver Vogel war mehr als zwei Jahrzehnte Lektor für deutsche Gegenwartsliteratur bei S. Fischer, davon lange Programmleiter. In dieser Zeit hat er sich den Ruf erworben, den Bedürfnissen der Autoren und der Literatur jenen des Marktes im Zweifel stets den Vorrang einzuräumen."

In der FAZ sieht Andreas Platthaus das ähnlich, betont aber, dass die mit der Person Bublitz verbundenen wirtschaftlichen Erfolge ausblieben: "Stattdessen litt der Ruf des Hauses, vor allem durch die von Bublitz betriebene Trennung von der langjährigen Fischer-Autorin Monika Maron im Herbst 2020. Man muss dieses breit kommentierte Ereignis wohl als Beginn der Entfremdung von Bublitz und der Konzernspitze in Gestalt von Monika Schoellers Halbbruder Stefan von Holtzbrinck sehen, die dort ein abermaliges Umdenken auslöste: volle Fahrt zurück zur Zeit vor Bublitz. Das ist das Eingeständnis eines Irrwegs. Nicht Siv Bublitz ist gescheitert, sondern die Konzernvorstellung eines gewandelten S.-Fischer-Verlags. Angesichts von dessen großer Vergangenheit ist das erfreulich, ein Zugeständnis an literarische Qualität."

In der FAS springt Julia Encke der zuletzt in die Kritik geratenen Transformationsforscherin Maja Göpel zur Seite, sie kann an ihr nichts Anstößiges finden, im Gegenteil: "Wer die öffentlichen Auftritte von Maja Göpel seit einigen Jahren verfolgt, kann feststellen, dass sie in Konfliktsituationen besonders brillant ist."
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Ideen

Der Literaturwissenschaftler Uwe Schütte, der fast zwanzig Jahre an britischen Universitäten lehrte, ist der Verzweiflung nahe angesichts des intellektuellen Niedergangs, den die Wokeness dort befördert. Aber, meint Schütte in der taz, Wokeness ist vor allem auch ein Phänomen der Dienstleisterkultur an den britischen Unis, die ihre zahlenden Kunden zufriedenstellen möchten: "Durch die Neoliberalisierung der higher education verfielen nicht nur intellektuelle Neugier oder kritisches Denken, sondern etablierte sich seitens des academic managements zunehmend ein Regime, das dem Kunden, in der Furcht vor potentiellen Beschwerden, vor allem Inkommensurablen zu bewahren trachtet. Die Selbstzensur der Lektürelisten und die Proliferation von trigger warnings sind wesentlich vor diesem Hintergrund zu verstehen, selbst wenn sie in vielen Fällen durchaus berechtigte Anlässe haben können. Von einer 'linken Meinungsdiktatur', wie sie die Konservativen und rechte Gesinnungsgenossen als Schreckgespenst an die Wand malen, kann allein schon deshalb keine Rede sein, weil die allermeisten Dozierenden längst schon ihre akademische Freiheit zu selbstbestimmter Lehre weitgehend verloren haben in dem aufgenötigten Endzweck, den Studierenden einen glatten, möglichst stressfreien Weg zu einem Abschluss mit besserer Note als eigentlich verdient zu bahnen, sprich: dem Kunden value for money zu bieten."
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Stichwörter: Wokeness

Medien

In der SZ könnte sich Friedrich Küppersbuch gut vorstellen, wie man die Öffentlich-Rechtlichen ins 21. Jahrhundert schiebt: Weniger redundante Wellen, Konzentration auf Nachrichten und Zeitgeschehen, mehr Regionales oder auch Mitarbeiter-Beteiligung. Aber auf keinen Falle mehr Rundfunkrat, der eh nur tatenlos bestaune, was alles schiefgeht: "Sie alle zusammen sind die 'Gremien voller Gremlins', die Günther Jauch 2007 erschüttert abdrehen und 2015 endgültig hinschmeißen ließen. Jauch dürfte radikaler Umtriebe eher unverdächtig sein; in den Sendern triumphierten selbstbewusste Honorarmumien. Die Warnung blieb überhört, so bahnte sich der Weg weiter zum Gremieninfarkt des RBB. Wie man daraus 'mehr Verantwortung', 'mehr Macht für die Gremien' und gar 'bessere Ausstattung der Räte' ableiten kann, wie es der neue Medienänderungsstaatsvertrag vorsieht, ist einen Themenabend wert. Im Kinderteil erklären die Maus und Mai Thi, warum die Erde eine Scheibe ist."

Die taz widmet ihrem verstorbenen Gründer Christian Ströbele noch einmal ein Dossier. Stefan Reinecke lotet die politische Kräfte aus, die den RAF-Anwalt und Grünen-Politiker antrieben: "Sein Ethos war kein revolutionäres, sondern im Kern ein liberales: Man muss den Einzelnen gegen den Staat verteidigen. Und den Staat immer vom Individuum aus denken... Er war der prinzipientreue Einzelkämpfer, kritisch gegen Kapitalismus, Militär, Staat, der im Bundestag konsequent gegen alle Auslandseinsätze der Bundeswehr stimmte. Aber jenseits davon machte er auch pragmatisch-politische Deals. Zu rot-grünen Regierungszeiten half er dabei, Schilys rigide Antiterrorgesetze unauffällig zu entschärfen. Er war eben nicht nur der ewige Rebell, sondern facettenreicher. Ein linker Bürger, der sich im Spannungsfeld zwischen zwei Polen bewegte: den linksegalitären, kollektiven Idealen und dem Bürgerlichen, Individualistischen, Solitären."

In der FR hängen die frühere taz-Chefin Bascha Mika und Geschäftsführer Kalle Ruch ihren Erinnerungen an Ströbele nach: "Christian wollte die Welt verbessern, ganz klar. Es ging um flüchten oder standhalten. Entweder verziehen wir uns auf eine einsame Insel und machen uns ein schönes Leben oder wir verändern die Gesellschaft."
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Europa

Michail Gorbatschow war nicht in seinen Erfolgen groß, sondern in seinem Scheitern, schreibt der russische Schriftsteller Michail Schischkin in der NZZ. Schließlich wollte Gorbatschow die Sowjetunion vor eben dem Zusammenbruch retten, auf den sie sich zuwälzte: "Wie jeder Diktator kannte Gorbatschow das Land, über das er herrschte, nicht, da er durch Bajonette und Referenten von ihm getrennt war. Selbst sein einstiger Protokollchef, Wladimir Schewtschenko, hat das eingestanden: 'Es gab eine Fehlkalkulation: Wir kannten unser Land nicht gut genug, wir kannten unsere Nomenklatura nicht gut genug. Unsere Gemeinschaft zerbrach, das war unsere und seine Tragödie.' Nicht nur für Putin, auch für Gorbatschow war der Zusammenbruch der Sowjetunion "die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Im Film 'Gorbatschow. Paradies', einem Meisterwerk von Witali Manski aus dem Jahr 2020, erklärt er, dass er auch am Ende seines Lebens ein überzeugter Kommunist geblieben sei: "Ich sehe Lenin als unseren Gott an." Gorbatschow wollte sein morsches, kommunistisches Imperium modernisieren, aber er war ein schwacher Diktator: 'Man sagte mir, ich solle schießen lassen, und ich erwiderte, dass dies nicht der richtige Weg sei.' Den Zerfall und das Ende der Sowjetunion hielt er für einen Staatsstreich." Mansky Porträt ist in der arte-Mediathek zu sehen.

Im Tagesspiegel erinnert die im Exil lebende russische Journalistin Anna Narinskaya daran, dass Gorbatschow besonders seine partnerschaftliche Beziehung zu seiner Frau Raissa verübelt wurde: "Der Präsident Michail Gorbatschow wurde endlos beschuldigt, er sei ein 'Pantoffelheld' - das ist selbst heute noch eine der schlimmsten Beleidigungen für einen Mann in Russland." Natürlich ist die Idee absolut aus der Mode geraten, dass große Männer Geschichte machen, aber so ganz absehen möchte Jonathan Freedland im Guardian nicht von Persönlichkeiten: Früher hatte die Welt Gorbatschow und Mandela, heute haben wir Trump, Johnson und Truss."
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Politik

Das Gas mag Putin verknappen, den Ausstoß von Fake News ganz bestimmt nicht, warnt Georg Mascolo in der SZ und blickt besorgt auf das byzantinische Gewirr an Arbeitskreisen, Sondereinheiten und Expertengruppen, die in der Bundesregierung für die Abwehr gezielter Desinformation zuständig ist: "In der Analyse hat das deutsche Vorgehen seine Stärken. In der Reaktion liegen sie nicht. Auf Attacken dieser Art, so sagen es diejenigen, die mit der Abwehr betraut sind, müsse schnell, entschieden und bisweilen auch hart reagiert werden. Nach den Regeln der digitalen Welt, die meistens in einem gewissen Widerspruch zu denen der Bürokratie stehen... 'Debunking' - entlarven - gilt als entscheidend. Das verlangt klare Zuständigkeiten, Reaktionsgeschwindigkeit und einen gewissen Mut zum Risiko. Gesucht wird also nicht nur ein zuständiges Ministerium, sondern auch ein besonderer Typus von Beamtin oder Beamten. Jemand, der nicht zuerst darauf achtet, wer alles bereit ist mitzuzeichnen."
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Stichwörter: Fake News, Bürokratie