9punkt - Die Debattenrundschau

Gerötete Nasen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.09.2022. Der russische Angriff auf die Ukraine ist auch ein Krieg um die Geschichtsschreibung, erkennt der ukrainische Historiker Jaroslaw Hrytsak auf ZeitOnline. In der Berliner Zeitung fordern zwei ehemalige Botschafter Israels den Ökumenischen Rat auf, Israels Siedlungspolitik als Apartheid zu verurteilen. Die taz erwartet einen heißen Herbst, aber keine Querfront auf deutschen Montagsdemos. Außerdem lernt sie, warum Giorgia Melonis Fratelli d'Italia in Italien so beliebt sind. Die FAZ blickt nach Frankreich, das auf einen neuen König wartet. Netzpolitik fragt: Wann wird die anlasslose Fluggastüberwachung den Forderungen des EuGH angepasst?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.09.2022 finden Sie hier

Europa

Giorgia Melonis Partei Fratelli d'Italia ist in ihrem Land auch deshalb so beliebt, weil sie nie mit anderen Parteien koaliert hat und deshalb im politischen System Italiens unverbraucht erscheint, lernt taz-Korrespondent Michael Braun auf einer Wahlkampfveranstaltung der Fratelli. "Diese Dauer-Oppositionsrolle hilft den Fratelli d'Italia jetzt ungemein. Seit Jahren schon ist das Gros der Bürger*innen eher schlecht gelaunt, aus gutem Grund. Finanzmarktkrise 2008/2009 und Eurokrise von 2011 haben dem Land schwere Schläge versetzt. Sie führten zu tiefen, bis heute nicht aufgeholten Einbrüchen bei Wachstum und Einkommen. So ist Italien das einzige europäische Land, in dem die Löhne 2020 um drei Prozent unter denen von 1990 lagen - zum Vergleich: In Deutschland sind sie im gleichen Zeitraum um 33 Prozent gewachsen. Zwei Schuldige haben viele Wähler*innen für die missliche Lage ausgemacht: die traditionellen Parteien und die Europäische Union. Und so profitierten spätestens seit 2018 'Anti-Establishment'-Parteien an den Wahlurnen."

Frankreich wartet auf einen neuen König, während Emmanuel Macron seine Amtszeit ohne Parlamentsmehrheit absitzt, berichtet in der FAZ Jörg Altwegg "Noch ist das Parlament nicht wieder zusammengetreten. Bislang hat es vor allem Geld verteilt. Der Treibstoff wird subventioniert, die Preise für Gas und Strom bleiben gedeckelt. Die Fernsehgebühren werden erlassen. Doch langsam werden die Konflikte und Affinitäten zwischen den alten und neuen Ideologien sichtbar. Das Parlament soll für die Opfer des Vichy-Gesetzes, das bis 1982 Homosexuelle diskriminierte, Entschädigungen einführen. Wegen Homophobie sehen sich vier Minister mit Rücktrittsforderungen konfrontiert. Die Ankläger sind mit Kritikern Israels liiert, die eine Verurteilung des 'Apartheid-Staats' anstreben. Diese Debatten sind nach den Demonstrationen der Impfgegner mit Judenstern und der Gelbwesten mit aufgespießten Macron-Köpfen allerdings ein zivilisatorischer Fortschritt. Doch außerhalb des Parlaments scheint sich nur noch Michel Onfray über die Stoßrichtung zu empören: 'Die Synagogen brennen, und wir schauen weg.'"
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Gesellschaft

Auf Montagsdemos in Leipzig haben rechte und linke Gruppen einen "heißen Herbst" angekündigt, berichten in der taz Konrad Litschko und Rieke Wiemann. Eine "Querfront" hätten sie aber nicht gebildet, atmen die beiden erleichtert auf: "Beide Demonstrationen trennen Polizeigitter und Gleise, auf denen Straßenbahnen durchzuckeln. 'Es gibt keine Solidarität von rechts', halten Linke ein riesiges Banner den Rechtsextremen entgegen. Und auf der Bühne wird sich immer wieder von den Rechtsextremen distanziert. ... Auch die Abgrenzung zu Russlandfreunden in den Reihen der Linken funktioniert - zumindest auf der Bühne. Unisono verurteilen Pellmann, Schirdewan und Mohamed Ali den 'rechtswidrigen Angriffskrieg' Putins - in den Demoreihen sehen das indes nicht alle so, wie Gesprächen zu entnehmen ist. Und auch Pellmann betont: 'Viele Probleme sind auch hausgemacht.' Die Entlastungspakete der Bundesregierung seien keineswegs ausreichend, auch das dritte, 65 Milliarden Euro schwere Paket. Pellmann nennt es ein 'Entlastungspäckchen', Schirdewan hält es für 'Klein-Klein', Mohamed Ali schimpft, dass 300 Euro Einmalzahlung für Rentner:innen 'nicht mal für einen Monat' reichten."

In der NZZ setzt die Autorin Mithu Sanyal alles daran, ein wenig Frieden in identitätspolitische Debatten zu bringen: Lasst uns ein "diverseres Wir" denken, fordert sie - und darauf achten, wo struktureller Rassismus beginnt. Sanyal nennt ein paar Beispiele: In einer Studie in Deutschland in wurden Grundschulkinder gefragt: "Welche Vorurteile könnte man gegen Schwarze, Juden, Muslime usw. haben? Und: Was sind die Hauptstädte der Bundesländer? Und die Kinder konnten ausnahmslos die Vorurteile aufzählen - die natürlich kein Bestandteil des Curriculums sind -, aber nur die wenigsten kannten die deutschen Landeshauptstädte, welche Bestandteil des Curriculums sind. Und das ist ein Problem. Ebenso wie rassistisches Nichtwissen. So sind in der Medizin Krankheitssymptome nur auf weißer Haut erforscht."
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Ideen

In der Berliner Zeitung fordern Ilan Baruch und Alon Liel, beide Ex-Botschafter Israels für Südafrika, den Ökumenischen Rat der Kirchen auf, Israels Siedlungspolitik als Apartheid zu verurteilen. Es müsse außerdem betont werden, "dass es nicht antisemitisch ist, Israels Behandlung der Palästinenser als Apartheid zu bezeichnen", schreiben sie: "Wir hoffen, dass die Mitglieder der Vollversammlung die Realität in den besetzten palästinensischen Gebieten als das anerkennen, was sie ist: als Apartheid. Sie würden damit einen entscheidenden Schritt zur Förderung von Ehrlichkeit und Gerechtigkeit leisten, während ein Großteil der westlichen Welt weiterhin dazu schweigt. Seit mehr als einem halben Jahrhundert arbeitet Israel daran, sowohl die Geografie als auch die Demografie der besetzten palästinensischen Gebiete durch expansive Siedlungspolitik zu verändern - eine Politik, die nach internationalem Recht illegal ist."

Außerdem: In der NZZ rät der Historiker Oliver Zimmer gerade jetzt einen Blick auf die Ideen des liberalen britischen Intellektuellen Matthew Arnolds zu werfen. Arnolds verurteilte materielles Wachstum, institutionelle Modernisierung, Kommerzialisierung und Konsum: "Der Vormarsch dieser Zivilisation habe ein Verständnis von Freiheit gefördert, das den Einzelnen und seine Ansprüche verabsolutiere. Durch die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in eine Vielzahl von Gruppen, jede mit ihren eigenen Präferenzen und Interessen, drohe den Menschen der Sinn für größere Zusammenhänge abhandenzukommen."
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Politik

Sehr ausführlich schildert die chinesische Journalistin Franka Lu auf ZeitOnline, wie verschiedene Finanzkrisen chinesische Bürger um ihre Ersparnisse brachten und Proteste zum Schweigen gebracht wurden. Zudem kam es im Juli zu einem Beben im Immobiliensektor, tausende Familien erhielten die Nachricht, dass ihre Apartments nicht fertiggestellt würden, die Darlehen müssen sie dennoch zurückzahlen: "Um die Bedeutung dieser Krise zu verstehen, muss man wissen, dass der Hauskauf in China viel wichtiger ist als in den Gesellschaften Europas. Oft ist er die Voraussetzung, nicht nur für einen selbst, sondern auch für die eigenen Kinder, um überhaupt Zugang zu Ausbildung/Job/finanzieller Unterstützung in einer anderen Stadt zu bekommen. In einem Land, das Mietern wenig Schutz bietet, kann der Immobilienbesitz einen davor bewahren, willkürlich aus der Wohnung geworfen zu werden oder immense Mieten zu zahlen. (…) Die Immobilienpreise sind so enorm gestiegen, dass ein junger Chinese für eine Stadtwohnung heute das Vermögen von sechs Familienmitgliedern, also auch der Eltern und Großeltern, anlegen muss. Es ist nicht ungewöhnlich, dass der monatliche Darlehenrückzahlungsanteil die Hälfte oder gar zwei Drittel des monatlichen Einkommens eines jungen Paars ausmacht, und zwar über zwanzig bis dreißig Jahre."
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Stichwörter: China, Finanzkrise

Überwachung

In netzpolitik kritisiert Markus Reuter die anlasslose Fluggastüberwachung, die Millionen europäische Flugreisende jedes Jahr über sich ergehen lassen müssen. "Allein im letzten Jahr waren mehr als 62 Millionen Menschen von der Speicherung betroffen", lernt er aus der Antwort des Bundesinnenministeriums (PDF) auf eine kleine Anfrage der linken Abgeordneten Martina Renner. Auch der Europäische Gerichtshof hatte letztes Jahr die Fluggastdatenüberwachung als zu weitgehend eingestuft. Getan hat sich jedoch noch nichts: Das Gericht verlangte wegen der verletzten Grundrechte von Millionen Reisenden eine Beschränkung der Datensammlung und -auswertung auf das 'absolut Notwendige'. Die betreffende EU-Richtlinie, die das massenhafte Sammeln, Übermitteln und Verarbeiten von Reisedaten vorschreibt, um Terrorismus und schwere Kriminalität vorzubeugen, solle mit dieser Entscheidung in Einklang mit EU-Rechten gebracht werden. In der Antwort auf die kleine Anfrage heißt es, dass die 'Bundesregierung unter Einbindung der betroffenen Behörden die Auswirkungen der Entscheidung auf die deutsche Rechtslage und Verarbeitungspraxis' analysiere, diese 'komplexe Prüfung' sei noch nicht abgeschlossen. Schon jetzt zeichne sich aber ab, dass das Urteil zu 'Beschränkungen für die Verarbeitung von Fluggastdaten' führen werde." Nur wann, das weiß anscheinend niemand.
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Geschichte

Der russische Angriff auf die Ukraine ist auch ein Krieg um die Geschichtsschreibung, schreibt der ukrainische Historiker Jaroslaw Hrytsak auf ZeitOnline: "Wir sind es gewohnt, die Ukraine und ihre Vergangenheit im Schatten Russlands zu betrachten. Tatsächlich ist der russische Faktor in der ukrainischen Geschichte relativ neu. Seine Anfänge gehen auf das Ende des 17. und den Anfang des 18. Jahrhunderts zurück. Bis zu diesem Zeitpunkt - und im Westen der Ukraine bis zum Zweiten Weltkrieg - waren die ukrainischen Länder der östliche Rand des gemeinsamen europäischen Raums mit seinen Traditionen der Teilung in weltliche und religiöse Macht, in Macht der Monarchen und Parlamente, der Staatselite und Gesellschaft. Der Schrittmacher dieser Traditionen war der polnische Faktor. Abgesehen davon, dass die Ukrainer den Polen gegenüber feindlich gesonnen waren, übernahmen sie die Art und Weise, wie diese ihre Macht organisierten, sowie die Traditionen des Patriotismus und Nationalismus. Die Ukrainer mögen sprachlich und kulturell den Russen relativ nahestehen, politisch sind sie aber den Polen viel näher."

In der FAZ erklärt der Schriftsteller Marius Ivaskevicius, warum Michail Gorbatschow in Litauen nicht sehr beliebt ist: Die Litauer verzeihen ihm die Toten, für die das sowjetische Militär verantwortlich war, bei den Protesten in der Nacht vom 12. auf den 13. Januar 1991 nicht. Aber Ivaskevicius, der in seinem Artikel auch nachdrücklich den deutschen Journalisten Hans-Wilhelm Steinfeld würdigt, ist auch froh, dass damals Gorbatschow und nicht ein Putin an der Macht war: "Viele, die heute über vierzig sind, verfolgt irgendwo tief im Unterbewusstsein wie ein Schatten die Alternative jener hoffnungslosen Existenz in der Sowjetunion. Wie ein Albtraum, aus dem du erwacht bist, von dem du aber noch den Schauer am ganzen Körper fühlst, während das Bewusstsein langsam in die Realität übergeht. Was, wenn jene Welt nicht zusammengebrochen wäre? Wenn dein ganzes Leben grau wie ein Sumpf wäre, und die einzigen Farben, die dich schmücken, wären das Abzeichen der Kommunisten am grauen Jackenaufschlag und die vom übermäßigen Trinken gerötete Nase?"
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Medien

Der Berliner Zeitung liegt ein Brief vor, in dem sich mehrere NDR-Redakteure des Ressorts Politik und Recherche im Oktober 2021 von kritischen Kollegen distanzieren, die die Missstände um ein verhindertes Interview mit einem Kritiker des Schleswig-Holsteinischen Ministerpräsidenten Daniel Günther aufdecken wollten, berichtet Michael Maier, der das nicht ernst nehmen kann: "Inspiriert von Stefan Böhnke, der gegenüber Kollegen gern mal über seine Zeit bei der Jungen Union schwärmt, verfassten einige Kollegen ein Schreiben, das intern als 'Ergebenheitsadresse' verspottet wird. In dem Brief, der den unter Beschuss geratenen Führungskräften Julia Stein, Norbert Lorentzen und Volker Thörmählen beispringt, heißt es: 'Es stehen offenbar anonyme, schwerwiegende Vorwürfe gegen nicht näher genannte Redaktionsmitglieder im Raum, die unsere Arbeit in Misskredit bringen, ohne dass der Redaktionsausschuss ausführlich mit möglichst vielen Mitgliedern der Redaktion gesprochen hat, um sich ein tatsächliches Bild der Lage zu verschaffen.' Dieser Vorwurf greife ins Leere, sagen Journalisten, die die Fall kennen: Wie nämlich aus dem Bericht, der der Berliner Zeitung vorliegt, zu erkennen ist, wird ein konkreter Fall mit Namen und Zuordnung geschildert." Für Maier zeigt der Vorfall exemplarisch "ein strukturelles Defizit bei den öffentlich-rechtlichen Sendern auf: Es gibt keine 'innere Pressefreiheit'."

Rechtlich ist der ÖRR ein Sonderfall, schreibt auch Claudia Tieschky in der SZ: "Er unterliegt in der EU zum Beispiel nicht den Wettbewerbsregeln für kommerzielle Unternehmen, ein wichtiges Kriterium für diesen Status ist - Achtung - die 'Binnenkontrolle', also die staatsferne Aufsicht der Sender durch Rundfunkräte und Verwaltungsräte. Man kann es auch so sagen: Voraussetzung für diesen Rundfunk ist ein immenser Vertrauensvorschuss in die Redlichkeit aller Beteiligten. Man muss daran glauben, dass ehrenamtliche Kontrolleure in Rundfunkräten nicht nur anwesend sind, sondern Engagement und Kritik zeigen. Dass Verwaltungsräte finanzielle Grenzen setzen. Dass eine von der Allgemeinheit finanzierte Führungsspitze besonders sauber ist. Dass ein Gebilde wie die ARD auf schon fast exotische Art kleinteilig sein mag, aber vertrauenswürdig."

Derweil berichtet Spon von Vorwürfen gegen NDR-Landesfunkhausdirektorin Sabine Rossmann: Sie soll unter anderem PR-Kunden ihrer Tochter im Programm platziert haben. Neben dem Online Portal Business Insider kommen die Vorwürfe auch von einem Rechercheteam des NDR: "Laut NDR-Rechercheteam habe es am 17. Juli 2017 eine Anfrage der Hamburger Morgenpost gegeben, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hätten sich an die Zeitung gewandt und von einem 'herrischen Führungsstil' Rossbachs und einem 'Regime des Schreckens' berichtet. Die Antwort des NDR demnach: 'Nicht konkretisierte anonyme Vorwürfe kommentieren wir nicht.'"
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