9punkt - Die Debattenrundschau

Projektionsfläche Elizabeth

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.09.2022. Die Kommentatoren freuen sich über die ukrainischen Terraingewinne und benutzen ein geflügeltes Wort Wolodimir Selenskis: "Die russische Armee hat uns ihre beste Seite gezeigt - ihre Rückseite." Nach der monarchistischen Verzückung der ersten Tage, gibt es nun auch ein paar intelligente Reflexionen über die Queen und ihr Wirken, unter anderem von Dominic Johnson in der taz, Nick Cohen in der Welt und Hari Kunzru in der New York Times. Die FAS kommt auf den Einfluss der Moon-Sekte in der japanischen Politik zurück. Die Autorin Waslat Hasrat-Nazim macht der westlichen Afghanistan-Politik im Standard bittere Vorwürfe.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.09.2022 finden Sie hier

Europa

Mit Staunen betrachtet mit vielen anderen Kommentatoren auch Klaus Hillenbrand in der taz die Rückerobrungen der ukrainischen Armee. "In diesen Tagen gerät die These vom unvermeidlichen russischen Sieg ins Wanken. Die ukrainische Armee macht erhebliche Geländegewinne, russische Einheiten flüchten, ihr Gerät zurücklassend, während die Militärs in Moskau von Umgruppierungen faseln. Ganz offenbar hat die Ukraine dank der Unterstützung mit Waffen doch die Möglichkeit zu großen Erfolgen. Von einem Sieg zu sprechen, wäre allerdings verfrüht, denn niemand weiß, ob sich die Rückeroberungen werden halten oder ausweiten lassen." Hier der taz-Bericht mit Einzelheiten.

Auch Richard Herzinger freut sich in seinem Blog: Wolodimir Selenski werde nicht nur als großer Stratege in die Geschichte eingehen, "sondern auch als treffsicherer Meister des geflügelten Wortes. Sein Satz: 'Die russische Armee hat uns ihre beste Seite gezeigt - ihre Rückseite' wird für alle Zeiten allen Menschen und Völkern als inspirierendes, ermutigendes Motto vor Augen stehen, die sich anschicken, sich von der Geißel der Menschheit namens 'Russische Föderation' zu befreien."

Das Innenministerium unter Nancy Faeser (SPD) stellt den "Expertenkreis Politischer Islamismus" ein, der sich vor allem mit legalistischen Formen des Islamismus beschäftigen sollte, berichtet Thomas Thiel in der FAZ. Statt dessen konzentriert sich Faeser auf die Bekämpfung sogenannter "Islamophobie" und unterstützt über das Forum "Demokratie leben" auch "die Initiative Claim, die gegen Islamophobie mobilisiert und gerade mit finanzieller Unterstützung der EU eine Islamophobie-Meldestelle einrichtet, die zum EU-weiten Standard für die Erfassung von antimuslimischem Rassismus werden soll. Die Arbeitsdefinition zur Islamophobie hat der Politikwissenschaftler Farid Hafez erstellt. Er stützt sich auf den von ihm selbst herausgegebenen Europäischen 'Islamophobie-Report'. Nun ist bekannt, dass der Islamophobie-Report, ein pseudowissenschaftliches Machwerk, von Hafez ausgiebig dafür genutzt wird, Kritiker des Islamismus (nicht des Islams) mit Islamophobie-Vorwürfen zu überziehen. Es ist auch kein Geheimnis, dass er von der türkischen SETA-Stiftung finanziert wird, dem wissenschaftlichen 'Sprachrohr des türkischen Präsidenten' (Deutsche Welle)." Unsere Resümees zu Hafez.

Allerdings soll auch das dem "Dialog der Kulturen "verpflichtete Internetmagazin qantara.de eingestellt werden, das Gelder vom Außenministerium erhält, klagt Stefan Weidner ebenfalls auf den Seiten des FAZ-Feuilletons.
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Internet

Das Hauptproblem an der Künstlichen Intelligenz ist, dass nur wenige sie haben, sagt die Expertin Meredith Whittaker im Gespräch mit Svenja Bergt von der taz: "Es sind nur einige wenige Konzerne, in deren Händen sich KI-Anwendungen befinden. Nur diese wenigen Konzerne haben die finanziellen und personellen Ressourcen, um die großen Modelle zu bauen, die es für KI braucht. Wir haben also eine immense Marktkonzentration. Und das, was sie programmieren, bildet ein Machtzentrum, das sich über unsere sozialen und politischen Institutionen stellt."
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Stichwörter: Künstliche Intelligenz

Politik

Einen seltenen Einblick in die japanische Gesellschaft gibt Patrick Welter in der FAS. Er schildert den Einfluss der Moon-Sekte, besonders auf die eher reaktionären Faktionen in der LDP, jener ewigen Regierungspartei, der auch der ermordete Ex-Premier Shinzo Abe angehörte. Der Mörder gab Abes Nähe zu Moon als Motiv an. Die Nähe zur Sekte ist auch frappierend, weil sich die Ideologien von Moon und LDP kaum überschneiden. Weller sieht darin einen Reflex auf die japanische Kriegsschuld gegenüber Korea. "Nicht zuletzt weist die Sekte den Koreanern die Stellung des auserwählten Volkes zu, während den Japanern eine nur dienende Rolle zukommt. In der Lehre Moons wird Korea als Adam-Nation gesetzt, während Japan, das Korea 35 Jahre bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs besetzt hatte, als Eva-Nation Schuld trägt und diese ableisten muss. Das hat sehr reale Auswirkungen, etwa auf die Wartezeit für Paare von der Massensegnung bis zur Hochzeit."

Die Queen war vor allem eine Heldin des Rückzugs, sie präsidierte der Dekolonisierung und wandelte durch ihre huldvolle Präsenz das Empire in den Commonwealth, schreibt Dominic Johnson inn der taz. In Kenia hatte es in den Fünfzigern zwar den Mau-Mau-Aufstand mit Zehntausenden Toten gegeben. Aber anders als in Algerien gegenüber Frankreich, bleibt in Kenia kein Hass, so Johnson: "Kenias Elite floriert in englischen Clubs und an englischen Universitäten, Nairobis Start-up-Szene ist eng mit London verbunden, das britische Militär trainiert in Kenia. All dies wäre für Frankreich in Algerien undenkbar. Auch das Denken der einstigen weißen Landbesitzer in Kenia, das Land als riesigen Freizeitpark zu betrachten, überdauert im militärisch abgesicherten Tier- und Naturschutz. Der britische Idealismus ab 1945, als Großbritanniens Labour-Regierung junge Entwicklungshelfer ins Empire entsandte, um dort Aufbauarbeit zu leisten, lebt weiter in der modernen Entwicklungspolitik."

Der Autor Hari Kunzru, Sohn einer Engländerin und eines Inders, ist sich in der New York Times nicht ganz so sicher, ob das mit der Kontinuität im Bruch so gut funktioniert hat: "Ein Leben lang lächelte und winkte sie jubelnden Eingeborenen auf der ganzen Welt zu,  lebendes Gespenst eines Systems räuberischer und blutrünstiger Ausbeutung. Während dieser Zeit berichteten die britischen Medien enthusiastisch über königliche Touren durch die neuen unabhängigen Länder des Commonwealth, über exotische Tänze für die weiße Königin und über Cargo-Kulte, die ihrem Gemahl gewidmet waren. Ich hoffe, dass es den Briten leichter fallen wird, die ungesunde Abhängigkeit von der imperialen Nostalgie zu erkennen, wenn die Projektionsfläche Elizabeth verschwindet."

Die Queen hat etwas geleistet, aber sie hat auch versagt, meint im Interview mit dem WDR der Historiker Jürgen Zimmerer: Sie hat "nie ihre Stimme erhoben, um die Kolonialverbrechen als solche zu benennen. ... Die Queen hätte das eigentlich, genau weil sie die Monarchin am Übergang vom Empire zum Commonwealth und dann eben zum modernen Großbritannien war, auch reflektieren müssen. Das hat sie nicht gemacht, und ich denke, dass kann man einfach benennen und sagen, ja, sie ist diese große Identifikationsfigur, aber vielleicht ist sie das auch, weil sie nie jemanden auf die Füße getreten ist... " Nicht mal als Oberhaupt der Windsors, die auch ganz persönlich von den Kolonialverbrechen profitiert haben, habe sie Reue ausgedrückt "über das Blut, das an ihrem Vermögen klebt".

Kenan Malik wirft im Observer als Republikaner einen zwar respektvollen, aber skeptischen Blick auf die Queen und das, was sie verkörperte: "Monarchie mag als über der Politik stehend angesehen werden, aber ihre bloße Anwesenheit ist selbst eine zutiefst politische Aussage; eine Aussage darüber, inwieweit man dem Volk und dem demokratischen Prozess vertrauen kann, und darüber, warum jemand, der in die richtige Familie hineingeboren wurde, besser geeignet ist, die Nation zu repräsentieren, als jemand, der vom Demos gewählt wurde."

Die Queen war auch deshalb so beliebt, weil sie sich (fast) immer aus der Tagespolitik heraushielt, erklärt Nick Cohen in der Welt. Bei Charles hat er Zweifel. Und dann sind da noch die Folgen des Brexit: "Im Jahr 1953 war das Vereinigte Königreich noch der Herrscher über ein globales Empire. Es hatte dazu beigetragen, den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen. Und vor allem war es vereint - was man vom Vereinigten Königreich, das Elisabeth II. im Jahr 2022 hinterlässt, nicht behaupten kann. Die Entscheidung, die Europäische Union zu verlassen, hallt in diesem Land noch nach ... Die Wiedervereinigung Irlands, die einst wie ein Fantasiegespinst erschien, scheint nicht mehr so unwirklich zu sein. Auch Schottland hat für den Verbleib in der EU gestimmt. Die schottischen Nationalisten nutzen die Tatsache, dass die Engländer ihnen den Brexit aufgezwungen haben, als guten Grund für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum. Der Respekt vor und die Loyalität gegenüber der Königin haben dieses seltsame Land zusammengehalten. ... Jetzt, da sie von uns gegangen ist, haben wir das Gefühl, dass die Träume, die ihr Königreich zusammen hielten, im Sterben liegen."

Waslat Hasrat-Nazimi, die als Vierjährige mit ihren Eltern aus Afghanistan geflohen war, hat ein Buch veröffentlicht, "Die Löwinnen von Afghanistan", das den Widerstand der Frauen gegen die Taliban beschreibt. Im Interview mit dem Standard macht sie dem Westen bittere Vorwürfe, diese Frauen mit seinem Rückzug im Stich gelassen zu haben: "Die Frauen in Afghanistan waren immer ein Spielball der Mächte. Gerade das Thema Mädchenschulen ist ein sensibles. Dass Mädchen in Afghanistan zur Schule gehen, war das Vorzeigeprojekt der Westmächte, das sie als ihren Erfolg verbuchten. Für die Taliban ist es daher die wirksamste Rache, diesen Erfolg zu zerstören und die Mädchenschulen zu schließen. Allerdings war dieser westliche Erfolg nie einer. Wir wissen mittlerweile von den 'Ghost Schools', in die viel Geld floss und die gar nicht existierten. Auch vor dem Abzug der Westmächte 2021 besuchten nicht alle Mädchen eine Schule."
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Ideen

Die "Weltoffen"-Fraktion lässt sich auch nicht von dem Desaster entmutigen, das sie mit der Documenta angerichtet hat. Nun formiert sich mit Förderung des Auswärtigen Amtes eine "Coalition for Pluralistic Public Discourse (CPPD)", die sich in einem Manifest als "ein Netzwerk von rund 50 diskursbestimmenden Intellektuellen, Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen, die auf unterschiedlichste Weise zu Erinnerungskultur und Vielfalt arbeiten und forschen", vorstellt. Es geht darum, welche "Selbsterklärungsprozesse" welcher Gruppen "in staatlicher Förderung, in Ausstellungen, Publikationen" sichtbar werden, also um Geld und wem es zugeteilt wird. Die Schoa wird soll zwar "als zentrales Verbrechen des 20. Jahrhunderts weiterhin im Zentrum stehen. Gleichzeitig kann dies in der pluralen Gesellschaft nur gelingen, wenn wir die Vielfalt gesellschaftlicher Erinnerungsereignisse und ihrer Träger*innen mit ihren Erinnerungen an Flucht und Vertreibung, Gewalt, Entmündigung und Überleben ernst nehmen. Das bedeutet auch das Einbeziehen historischer und aktueller Verflechtungen von Antisemitismus und Rassismus, kolonialer Geschichte und Verbrechen." Hier die fünfzig "diskursbestimmenden Intellektuellen" von Max Czollek über Kübra Gümüşay bis zu Saba-Nur Cheema, hier das Impressum und hier die vielen Stellenausschreibungen.
Archiv: Ideen