9punkt - Die Debattenrundschau

Eine Mischung aus Knicks und Verbeugung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.09.2022. Die taz berichtet aus den befreiten - und erleichterten! - Gebieten in der Ukraine. Das Verfassungsreferendum in Chile ist hier kaum wahrgenommen worden - dabei hat es Beachtung verdient, findet Welt-Autor Thomas Schmid. Jean-Luc Godard hat den assistierten Suizid gewählt um zu sterben - darüber lohnt es sich nachzudenken, schreibt Gereon Asmuth in der taz. Im Iran sind zwei Queer-Aktivistinnen wegen "Korruption auf Erden durch die Beförderung von Homosexualität"  zum Tode verurteilt worden - Zeit für Proteste, findet hpd.de.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.09.2022 finden Sie hier

Europa

Auch in den jetzt befreiten Gebieten haben russische Soldaten Kriegsverbrechen begangen, berichtet Juri Larin in der taz. Er hat mit der Schulleiterin Natalja Sasadtschenko gesprochen, die ein lebhaftes Bild der Besatzung zeichnet: "Sie ist immer noch empört darüber, dass die russischen Besatzer sogar ihre Familien nachholen wollten. 'Sie waren überzeugt, dass sie hier für immer bleiben werden. Einer von ihnen kam von der Wolga, er sagte: Ach, bei Ihnen gefällt es mir so gut, nach dem Sieg komme ich mit meiner Familie zurück. Hier ist es so schön. Bei uns gibt es nur Steppe und hier sind Wälder, Flüsse - hier will ich mit meiner Familie bleiben.'"

Wie weit wäre die Ukraine wohl schon, wenn gleich nach dem Bundestagsbeschluss vom 28. April auch "schwere Waffen" geliefert worden wären, fragt der Historiker und Brigadegeneral a. D. Klaus Wittmann in der Welt: "Die deutsche Regierung sollte sich daher endlich zu viel konsequenterem Nachdenken darüber veranlasst sehen, was die unablässig beteuerte Unterstützung der Ukraine konkret erfordert: zügigere Entscheidungen, raschere Lieferungen von mehr Waffensystemen sowie - endlich und vorrangig - auch von Panzer, Schützen und Transportpanzern."

In der SZ versucht die schottische Autorin A.L. Kennedy ihre Landsleute zu verstehen, die um ihre Monarchin trauern: "Dasselbe Parlament, das nicht wieder einbestellt werden konnte, um uns vor einem Winter des Hungers und der Kälte zu bewahren, hat sich nun versammelt, um in einer Art Wettkampf liebedienerischen Gedenkens über Elizabeth II. zu sprechen. Unsere neue Premierministerin hat ihre Stimme um eine halbe Oktave gesenkt und eine Mischung aus Knicks und Verbeugung erfunden, die so aussieht, als sacke Liz Truss zusammen, weil jemand ihr die Marionettenfäden durchgeschnitten hat. Vielleicht hat der Akt der Ernennung dieser Frau zur Regierungschefin der Königin den Rest gegeben."

Ungarn hat zwar noch ein relativ liberales Abtreibungsrecht, aber schwangere Frauen sollen sich jetzt den Herzschlag des Fötus anhören, bevor sie sich entscheiden, berichtet Ralf Leonhard in der taz. Die liberale Regelung will man nicht abschaffen, weil sie von zwei Dritteln der Frauen befürwortet wird. Dafür operiert man in kleinen Schritten: "Die Beratungsgespräche würden in letzter Zeit zunehmend aggressiv geführt, was den Zugang zur Abtreibung spürbar schwieriger gemacht habe. Gleichzeitig wurden auch finanzielle Anreize geschaffen, die die Mutterschaft attraktiver machen und den Frauen die ihnen nach dem Weltbild Orbáns zustehende Rolle in einer christlichen Familie zuweisen."
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Geschichte

Eine der großen Ängste der Bundesrepublik war die gesellschaftliche Zersplitterung, wie  sie die Weimarer Republik vorgelebt hatte, schreibt der Historiker Frank Bösch in der Zeit. Also schuf man übergreifende Organisationen wie Einheitsgewerkschaften über "Volksparteien" wie die CDU. Auch das hatte einen Preis: "Die Integration der Rechten in eine demokratische Partei war .. nicht unproblematisch: Sie prägte die Gesetzgebung in vielen Bereichen über Jahrzehnte, gerade gegenüber Minderheiten. Ausländer, Homosexuelle, aber auch die weibliche Bevölkerungsmehrheit trugen die Folgen. In der Ministerialbürokratie saßen nur scheinbar 'überparteiliche Experten'. De facto waren sie meist konservativ eingestellt - und hatten einen nationalsozialistischen Hintergrund. Ihre Gesetze und Verordnungen stellten oft den Schutz des Staates über den Schutz demokratischer Individualrechte. Einheit und Gemeinschaft standen weiterhin über pluralistischer Vielfalt."
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Ideen

Keine Regierung, keine Behörde und erst recht keine Minderheit kann den knapp 200 Millionen Deutschsprechern vorschreiben, welche Wörter sie gebrauchen dürfen, schreibt Matthias Heine in seinem Buch "Kaputte Wörter", aus dem die Welt heute einen Auszug druckt: "Auch dann nicht, wenn solche Minderheiten sich von den Wörtern betroffen oder diskriminiert fühlen. Betroffenheit und Diskriminierung sind unklare psychologische Kategorien, die, wenn sie zur Legitimation politischen Handelns herangezogen werden, Willkür ermöglichen. Die lange, meist düstere Geschichte politischer Sprachlenkung bei der manischen Jagd auf Fremdwörter im Kaiserreich, der ideologischen Manipulation im Dritten Reich und in der DDR sowie zuletzt bei der Rechtschreibreform sollte eigentlich zu Zurückhaltung mahnen, zumal die beiden letztgenannten Eingriffe in den natürlichen Sprachwandel im Namen eines unklaren Fortschritts stattfanden."

"Selbst wohlmeinende Intellektuelle wollen heute lieber nicht an die Politik rühren, sondern, wenn nötig, Aktivismus betreiben", sagt die Philosophin Lisz Hirn, die mit "Macht Politik böse?" gerade eine Streitschrift über die Voraussetzungen politischen Handelns geschrieben hat, im Standard-Gespräch mit Ronald Pohl: "Ausschlaggebend für die Verfasstheit unserer Öffentlichkeit ist Social Media. In denen geht es ums Gefallenwollen. Gefallen ist die erste Empfindung. (…) Mit der Androhung des großen Stromausfalls steht und fällt unsere Kultur. Wahrscheinlich betrachten wir darum Putins Angriffskrieg viel zu oberflächlich. Er droht uns mit der Auslöschung unseres digitalen 'Geworden-Seins'. Er stellt uns vor die Frage, wer oder was wir noch sein wollen. Und wirft uns zugleich stammesgeschichtlich in ein früheres Stadium zurück. Indem er uns zum Beispiel fragen lässt, wie viel uns der Festmeter Holz zum Einheizen wirklich wert ist."
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Gesellschaft

Jean-Luc Godard hat den assistierten Suizid gewählt um zu sterben. Darüber lohnt es sich nachzudenken, schreibt Gereon Asmuth in der taz: "Zufälligerweise starb Godard in dem Sommer, in dem auch der deutsche Bundestag sich anschickt, der Sterbehilfe eine neue gesetzliche Grundlage zu geben. In der Debatte wird hart darum gerungen, was es heißt, in Würde selbstbestimmt zu sterben. Zu dürfen. Zu können. Ob es angesichts der Endgültigkeit dieser Entscheidung nicht angebracht ist, die Hürde noch viel höher zu legen. Eine Beratung zwingend vorzuschreiben. Oder den Weg so weit wie möglich frei zu machen für diejenigen, die gehen wollen. Gerade weil diese Debatte so schwerfällt, gerade weil sie abstrakt kaum zu führen ist, ist es umso wichtiger, dass über prominente Beispiele wie jetzt bei Jean-Luc Godard geredet wird."
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Medien

Die Zeit betreibt im Fall des Galeristen Johann König reine Verdachtsberichterstattung, schreibt Michael Angele im Freitag. Den "Formulierungen riecht man den Angstschweiß möglicher Klagen an". Angele will das Gebaren von Presse in solchen Konstellationen nicht akzeptieren: Die Zeit tue so, "als wäre sie unschuldig, diesen Vorgang einfach nur berichtend. In Wahrheit wurden die 'Anschuldigungen' für den Galeristen ja nur deshalb existenzbedrohlich, weil sie von ihr öffentlich gemacht wurden. Die Gerüchte, die schon 'lange in der Kunstszene kursierten', schadeten König nicht, das tun Gerüchte nie, ein Schaden setzt erst durch ihre Verschriftlichung ein, hier erst der anonyme Brief und jetzt der Zeitungsartikel, der in den sozialen Medien einen Prozess in Gang setzte, der mit Shitstorm ungenau beschrieben ist."
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Politik

Das Verfassungsreferendum in Chile ist hier kaum wahrgenommen worden. Dabei hat es Beachtung verdient, findet Welt-Autor Thomas Schmid. Einerseits habe das von Diktatur und Wirtschaftsliberalismus geprägte Chile eine  neue Verfassung dringend nötig, andererseits stimmt er den chilenische Wählern zu, die den vorliegenden Entwurf der neuen linken Regierung mit großer Mehrheit ablehnte. Zu tief hätten die Klauseln in das Leben der Gesellschaft selbst eingegriffen: "So sollte es ein Recht auf 'Erholung, Ruhe und den Genuss von Freizeit' geben. Die Neurodiversität wurde in Verfassungsrang erhoben - was bedeutet hätte, dass etwa Autismus und Legasthenie nicht mehr als Defekte, sondern als natürliche Formen menschlicher Vielfalt gelten. Und die Harmonie, die Menschen ja nur im Umgang miteinander herstellen können, sollte ebenfalls durch die Verfassung garantiert sein. Diese proklamierte die 'harmonische Beziehung' aller 'symbolischen und kulturellen Ausdrucksformen' als verbindliche Norm."
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Religion

Die Queer-Aktivistinnen Zahra Sedighi-Hamadani (31) und Elham Chubdar (24) sind im Iran wegen "Korruption auf Erden durch die Beförderung von Homosexualität" zum Tode verurteilt worden, berichtet Hella Camargo bei hpd.de. Im Iran sollen in diesem Jahr schon 250 Menschen hingerichtet worden sein, internationale Proteste seien darum dringend vonnöten. Aktivistinnen, die in Deutschland protestierten, seien überdies von Bütteln des Teheraner Regimes bedroht worden: "Nach Bekanntwerden des Urteils hatten Mina Ahadi, Maryam Namazie, Rana Ahmad und weitere Menschenrechtsaktivist*innen mit Protesten reagiert, die unter anderem von Deutsche Welle Persian begleitet wurden. In Köln kam es dabei zu Übergriffen. Während die Tatsache, dass zwei Frauen der Tod droht, die Störer kaum zu interessieren schien, nahmen diese jedoch Anstoß an einem Schild mit der Aufschrift 'Allah is a woman' (Allah ist eine Frau), das Namazie hochhielt. Mit 'Allahu Akbar'-Rufen versuchten sie, die Proteste zu unterbrechen und ein Bedrohungsszenario aufzubauen."
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