9punkt - Die Debattenrundschau

Begraben wird jeder

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.09.2022. Die Financial Times analysiert die erkaltenden Beziehungen zwischen Wladimir Putin und Xi Jinping, für den Putins Krieg den Nachteil hat, dass er nicht siegreich ist. Auch die Popdiva Alla Pugatschowa, ein Idol von Millionen Russen, hat den Krieg scharf kritisiert, ein Symbol, meint unter anderem die FAZ. Zeit online kann sich der Faszination des Queen-Begräbnisses nicht entziehen. Christian Lindner fragt laut  Neuer Osnabrücker Zeitung trotzdem, ob ARD, ZDF und Phoenix das Begräbnis wirklich parallel übertragen mussten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.09.2022 finden Sie hier

Europa

Das Begräbnis der Queen hat eine Orgie weltweiter Berichterstattung ausgelöst. Es war dennoch ein würdiges Begräbnis, meint auf Zeit online Christina Rietz. Der Prunk gehörte ganz selbstverständlich dazu, aber auch der Ritus der Kirche: "Im letzten öffentlichen Akt dieses vielaktigen Trauerspiels tappte dann der neue König vorsichtig zum Sarg seiner Mutter, legte eine kleine Standarte auf ihm ab und sah blinzelnd zu, wie der Lord Chamberlain seinen Amtsstab über dem Sarg zerbrach. Dann wurde der Leichnam den Augen entzogen und in die Gruft herabgelassen. Wohl niemand sonst auf der Welt wird heute noch mit solchem Pomp begraben, aber begraben wird jeder. Das ist das Anschlussfähige an der Sache. Und deshalb verstand man auch den neuen König, als ihm noch einmal seine Hymne gesungen wurde. Man verstand ihn, wie er die Augen schloss, um nicht zeigen zu müssen, dass er eigentlich weinte. Er wird nun herrschen, aber er ist eben auch der Nächste, den man hier begraben wird."

Bestimmte Teile der britischen Gesellschaft saßen aber in den letzten Tagen wohl nicht gebannt vorm Fernseher. In Leicester kam es nach einem Cricket-Spiel zwischen Pakistan und Indien zu Zusammenstößen der Hindu- und der muslimischen Community, berichtet unter anderem der Guardian: "Die aufgeheizte Stimmung wurde durch Videos verschärft, die am Wochenende im Internet kursierten und zeigen, wie ein Mann eine Fahne vor einem Hindu-Tempel in der Melton Road in Leicester herunterreißt, sowie durch ein weiteres Video, auf dem eine Fahne verbrannt wird."

Die russische Popdiva Alla Pugatschowa, in Russland offenbar ein Idol für Millionen, hat sich von Putins Krieg losgesagt. Sie solidarisierte sich auf Instagram mit ihrem Mann Maxim Galkin, der wegen kriegskritischer Äußerungen zum "westlichen Agenten" erklärt worden war und schob noch mehr hinterher, indem sie forderte, dass "das Sterben unserer Jungs für illusorische Ziele, die unser Land zu einem Paria machen und das Leben unserer Bürger erschweren, aufhört". Für FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt ist das ein symbolischer Moment, denn Pugatschowa ist "auch für Russen ein Star, die nicht soziale Netze nutzen und die von anderen Kriegsgegnern nicht erreicht werden können - für Russen, die Putins 'Spezialoperation' stillschweigend billigen oder offen gutheißen. Der ukrainische Präsidentenberater Olexij Arestowitsch wertete Pugatschowas Appell gar als 'Explosion im Selbstverständnis der Bürger, die die Legitimationsgrundlage des Putin-Regimes ausmachen'." In der taz berichtet Bernhard Clasen.

Gideon Rachman analysiert in der Financial Times die erkaltenden Beziehungen zwischen Wladimir Putin und Xi Jinping. Bei ihrem Treffen zu den Olympischen Spielen am 4. Februar hatten die beiden noch erklärt, dass die Freundschaft zwischen ihren Ländern "keine Grenzen" habe. Aber da hatte Xi vielleicht noch an Putins schnellen Sieg in der Ukraine geglaubt. Nun hat Putin beim Autokratentreffen in Samarkand erklärt, er nehme Xis Sorgen ernst. Und sogar der "globale Süden" wendet sich ab: "Auf dem Gipfeltreffen in Samarkand rügte der indische Premierminister Narendra Modi Putin öffentlich mit den Worten, dass 'heute nicht mehr die Zeit des Krieges ist'. Der russische Staatschef konnte nur noch versprechen dass 'wir unser Bestes tun werden, um dies so schnell wie möglich zu beenden'. In der UN-Vollversammlung stimmte Indien letzte Woche zusammen mit hundert anderen Ländern dafür, dass der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski eine Videoansprache halten darf. Nur sechs Länder sprachen sich zusammen mit Russland gegen die Rede aus. China enthielt sich der Stimme."
Archiv: Europa

Ideen

"Als Plattformdenker wie -kritiker ist Habermas dem deutschen Diskurs weit voraus", finden die Medienwissenschaftler Andreas Barthelmess und Stefan Börnchen in der taz und reihen den Autor des "Neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit" in die Phalanx der Netzkritiker à Jaron Lanier oder Shoshana Zuboff ein: "In der westlichen Welt ist heute Google die Suchmaschine, Amazon der Onlinehändler und Facebook das soziale Netzwerk. Wettbewerb und damit auch Vielfalt im alten Sinne gibt es hier nicht mehr. Das Paradox lautet: Wettbewerb findet statt - aber nur auf dem Kanal von Twitter, Facebook und Instagram. Dieses Kuratierungsmonopol der Plattformen, ihre Gleichgültigkeit, ja ausdrücklich erklärte Nichtverantwortlichkeit gegenüber jeglichem Inhalt sowie ihre ökonomische Eskalationsagenda übersieht der deutsche Diskurs - nicht aber Habermas."
Archiv: Ideen

Medien

Die Rundfunkkommission der Länder bereitet einen neuen Staatsvertrag vor, um die Existenz der öffentlich-rechtlichen Sender abzusichern. Im Interview mit Helmut Hartung von der FAZ erklärt NRW-Staatskanzleichef Nathanael Liminski sein Entsetzen über die jüngsten Vorfälle bei RBB und NDR und macht klar: "Diese Verfehlungen im Management spielen jenen in die Hände, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk grundsätzlich infrage stellen. Wir müssen unterscheiden zwischen Hetze und Kritik. Hetze zielt auf die Abschaffung, Kritik auf den Erhalt des öffentlich-rechtlichen Rundfunks."

Christian Lindner fordert unterdessen eine Deckelung der Gebühren, melden unter anderem die Ruhrbarone: "In einem Gespräch mit der Neuen Osnabrücker Zeitung forderte der FDP-Vorsitzende, die Rundfunkgebühren einzufrieren. 'Dass ARD, ZDF und Phoenix live und parallel vom Begräbnis der Queen aus London senden und mit jeweils eigenem Personal in London sind, belegt anschaulich, dass es erhebliches Einsparpotenzial gibt', merkte Lindner als Beispiel aus diesen Tagen an."

Markus Beckedahl von Netzpolitik hat vor dem Journalistenverband DJV eine Grundsatzrede über die Zukunft des Journalismus gehalten. Er fordert, dass Journalismus als gemeinnütziger Zweck anerkannt wird, so dass Stiftungen journalistische Projekte unterstützen können: "Das ermöglicht eine dritte Säule neben kommerziellen Medien und dem Öffentlich-Rechtlichem System. Es wird niemanden etwas weggenommen, aber mehr Wettbewerb ermöglicht. Gerade da, wo es , wie auf lokaler Ebene häufig keinen Wettbewerb mehr gibt, weil die Geschäftsmodelle nicht mehr funktionieren. Immer mehr Stiftungen sehen die Systemrelevanz von Journalismus als wichtige Säule unserer Demokratie an. Und würden mehr Geld in diese Richtung geben, wenn sie die rechtlichen Möglichkeiten dazu bekommen. Schach und Modellbau sind schon heute gemeinnützig. Das ist auch ok so. Aber Journalismus ist systemrelevanter und müsste deswegen auch gemeinnützig sein."
Archiv: Medien

Kulturpolitik

In der Welt kann sich Carl von Siemens nicht mit dem Berliner Stadtschloss anfreunden. Für ihn ist es eine Missgeburt: Ausdruck eines preußischen Antidemokratismus, der mit der Bezeichnung Humboldt-Forum und den ethnologischen Sammlungen übertüncht werden soll. Vielleicht hätte man sich an diesem Ort mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen sollen, statt fremde Kulturen herbeizukarren: "Die Geschichte, die der Neubau des Stadtschlosses symbolisiert, ist die Geschichte zweier verlorener Gebäude, des Hohenzollernschlosses und des Palasts der Republik. Es ist die Geschichte eines Orts, an dem deutsche Staatsgebilde einander mit der Abrissbirne begegnet sind. Es ist eine Geschichte von Preußensehnsucht, Preußenhass und Preußenangst. Es ist eine Geschichte von Narrativen, die nicht miteinander vereinbar sind - und gerade deswegen wäre es reizvoll gewesen, diese Narrative gegeneinander antreten zu lassen. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, zu recherchieren, welche möglichen Gegenstände einer solchen Ausstellung heute noch vorhanden sind, welche verloren gegangen sind und welche in Lagern vor sich hin dämmern. Die preußischen Kronjuwelen etwa und der Balkon, von dem Karl Liebknecht die Republik ausgerufen hat. Der 'runde Tisch' und der Saal, in dem die einzige frei gewählte Volkskammer der DDR den Beitritt zum Grundgesetz beschloss. Lithographien von Burgen, Schlössern und Adelssitzen aus der Werkstatt von Alexander Duncker , gerettetes Interieur - natürlich beleuchtet von den berühmten Lampen des Palasts der Republik. DDR-Bürgerrechtler im Preußenschloss, das hätte mir gefallen!"
Archiv: Kulturpolitik

Geschichte

Die Brutalität des russischen Kriegs gegen die Ukraine zeigt, dass sich Russland nie mit den Gräueltaten der Roten Armee auseinandergesetzt hat, meint der Historiker Hubertus Knabe in der Welt. "Für die meisten Russen beginnt der Zweite Weltkrieg erst im Jahr 1941, als Deutschland die Sowjetunion überfiel. Die unter Putin massiv geförderte Erinnerung an den 'Großen Vaterländischen Krieg' kultiviert ein pathetisches Narrativ, in dem die Russen stets Opfer und Helden sind, aber niemals Täter. Das stalinistische Ehrenmal in Berlin, das einen Rotarmisten mit einem Kind im Arm zeigt, versinnbildlicht dies bis heute. Ein solcher Umgang mit der Vergangenheit wäre in Deutschland undenkbar. Schon vor mehr als 20 Jahren haben zwei Wanderausstellungen die Verbrechen der Wehrmacht einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht." (Früh dran waren wir damit aber auch nicht gerade.)
Archiv: Geschichte