9punkt - Die Debattenrundschau

Dass es an der Zeit ist, keine Angst mehr zu haben

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.09.2022. Putins Magie steckt in seiner Fähigkeit, Macht und Stärke auszustrahlen - der Westen darf nicht drauf reinfallen, mahnt der russische Autor Dmitry Glukhovsky in der Berliner Zeitung. Ebenfalls in der Berliner Zeitung prangert Michael Wolffsohn nach der Documenta den immer gesellschaftsfähigeren Antisemitismus links der Mitte an. Die taz hat einen Trost in den italienischen Widrigkeiten: Die italienische Rechtskoalition hat nicht wirklich die Mehrheit. Bei newlinesmag.com schreibt Hassan Hassan den Nachruf auf den spirituellen Führer der Muslimbrüder Yusuf al-Qaradawi, der als gemäßigt galt und Selbstmordattentate pries.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.09.2022 finden Sie hier

Europa

Den Sieg der Rechtskoalition in Italien haben die Parteien der Linken, die Cinque Stelle und der Mitte mit verschuldet, erläutert Michael Braun in der taz. Das Rechtsbündnis hat weniger Stimmen als seine Gegner: "Es ist ein Treppenwitz. 50 Prozent der Italiener*innen stimmten für ein offenes Land, offen für Minderheiten, offen gegenüber Europa und der Welt. Sie stimmten für Listen, die die Rechte der LGBTIQ-Community respektieren, die bei Migration nicht an Abwehr denken, sondern an Staatsbürgerschaft für in Italien groß gewordene Kinder von Einwanderern, die Italien fest in Europa verankert sehen und auf eine starke EU setzen. Mit 44 Prozent muss sich das andere Lager begnügen, in dem zwei hart rechtspopulistische Parteien dominieren."

Wie immer bei der Rechten kann man sich darauf verlassen, dass die internen Differenzen zum Himmel schreien, erzählt Braun in seinem Bericht zu den Wahlen. Beispiel Außenpolitik: "Die Siegerin hat sich klar als Transatlantikerin positioniert, ist für die Beibehaltung der Russlandsanktionen und für die Fortsetzung italienischer Waffenlieferungen an die Ukraine. Ganz anders sieht der alte Putin-Freund Berlusconi die Dinge. In einer TV-Sendung wenige Tage vor der Wahl behauptete er, Putin sei 'in den Krieg gedrängt worden' und habe die Ukraine überhaupt nur attackiert, um in Kiew 'anständige Leute' an der Regierung zu installieren. Und der ebenfalls traditionell prorussische Salvini bekennte sich verbal zwar zu den Sanktionen, legte dann aber nach, sie seien Italien 'von Europa auferlegt worden' - und deshalb solle 'Europa' gefälligst für den durch sie entstehenden ökonomischen Schaden in Italien zahlen."Eric Bonse berichtet für die taz über Reaktionen in Brüssel.

Matthias Rüb will in der FAZ keine Alarmstimmung aufkommen lassen: "Draghi war nicht der Messias, und Meloni ist nicht die Teufelin. Und "um die Krise zu meistern, braucht Italien die rund 200 Milliarden Euro aus dem Wiederaufbaufonds der EU. Die neue Regierung in Rom wird bei Nachverhandlungen mit Brüssel eine partielle Umwidmung der Mittel von grüner Vision auf akute Nothilfe zu erreichen versuchen, aber voraussichtlich keine Konfrontation über Grundsatzfragen provozieren." Auch Welt-Autor Thomas Schmid ist sich sicher: "Italien wird dadurch kein faschistisches Land werden. Meloni weiß, dass sie nicht gegen den europäischen Strom schwimmen kann."

Nochmals in der FAZ weist Karen Krüger auf Giorgia Melonis Tolkien-Kult hin, den sie mit vielen Rechtsextremen teilt: "Tolkien war jede Form von extremistischer Politik verhasst. Seine Erzählungen von hellhäutigen Kriegern, die sich gegen die dunkle Ork-Armee zur Wehr setzen, erwiesen sich jedoch als ideale Projektionsfläche für rassistisch motivierte Ideologien und Aufrufe zur Ablehnung der Moderne."

"Das Wichtigste ist, dass der Westen keine Schwäche Putin gegenüber zeigt", erklärt der russische Autor Dmitry Glukhovsky, der in seiner Heimat per Haftbefehl  "Diskreditierung der militärischen Streitkräfte der Russischen Föderation" gesucht wird, im Interview mit der Berliner Zeitung. "Putins Magie steckt in seiner Fähigkeit, Macht und Stärke auszustrahlen." Das verfange "bei Menschen, die sich selbst schwach fühlen, sie bekommen das Gefühl, dazuzugehören. Das einzige Mittel, diese Magie erfolgreich zu bekämpfen, wäre zu zeigen, dass er eigentlich keine Macht hat. So funktionierten die ukrainischen Gegenangriffe der letzten Tage: Sobald die russische Armee sich schwach zeigt, wird auch Putins Position geschwächt. Er entschied sich zu dieser Mobilmachung, um vor seinen eigenen Eliten aus Geheimdienst und Polizei zu bestehen."

Bernard-Henri Lévy ist mit dem Zug von Kiew nach Charkiw gereist und hat unterwegs immer wieder Halt gemacht. Überall trifft er jetzt hoffnungsfrohe Menschen erzählt er in der SZ. Und er trifft einen Protagonisten aus seinem Film "Warum die Ukraine" wieder: "Er hat eine Überraschung für uns: In Erinnerung an die langen Abende, an denen mein Freund und Reisebegleiter Gilles Hertzog seinen Männern das Epos des Freien Frankreichs erzählte, hat er beim Oberkommando der ukrainischen Streitkräfte durchgesetzt, dass sein Bataillon, das 197. der Brigade A7363, in 'Bataillon Charles de Gaulle' umbenannt wird. Die Zeremonie findet bei einem Umtrunk statt, der in der ländlichen und feuchten Stille seines Biwak-Hauptquartiers auf der Motorhaube eines Geländewagens serviert wird." Die ukrainische und die französische Fahne werden entfaltet, "gemeinsam, Ukrainer und Franzosen im Einklang, stimmen wir unsere Nationalhymnen an. Nur ein Schatten trübt unsere Freude. Auf dem Weg nach Süden wird uns eine Drohne gezeigt, die am Vortag abgeschossen wurde. Es ist ein großer, weißer Vogel, aus dessen Innereien die Eingeweide herausschauen. Und wenn wir genau hinschauen, entdecken wir elektronische Bauteile - Made in France ..."
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Internet

Russlands Präsident Wladimir Putin hat dem ehemaligen US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden am 26. September 2022 die russische Staatsbürgerschaft verliehen, meldet unter anderem golem.de mit Reuters. "Spekulationen, wonach der 39-Jährige nun in die russische Armee eingezogen werden könne, wies dessen Anwalt Anatoli Kutscherena zurück. Snowden könne nicht rekrutiert werden, weil er bislang noch nicht in der russischen Armee gedient habe, sagte Kutscherena laut Medienberichten der russischen Nachrichtenagentur Ria Novosti."
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Ideen

Warum gibt es selbst noch angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine so viel Hass gegen den Westen? Von Alexander Dugin über Giorgia Meloni bis hinein in die eigenen akademischen Milieus? "Gemeinsam "ist allen Kritiken des 'Westens', ihm die eigenen Versprechen entgegenzuhalten", schreibt der Soziologe Armin Nassehi in der SZ. Aber das ist ein Missverständnis, meint er. Der Westen ist nicht perfekt. Dafür ist er widersprüchlich und lernfähig, und das ist besser als Perfektion, weil es Potenzial hat: "Die Herausforderungen des 'Westens' bestehen darin, die Fähigkeit zur Selbstkritik wirklich ernst zu nehmen und zu lernen, dass aus der gruppenspezifischen Erfahrung von Chancenungleichheit und strukturellen Hindernissen nicht die Idee der gruppenspezifischen Verteilung von Rede-, Reflexions- und Repräsentationsrechten wird. Wenn es jenseits einer intellektuellen oder denkgeschichtlichen Erfahrung des Westens ein wirklich westliches Erbe gibt, dann ist es die eigene langsame Inklusionsgeschichte, immer mehr Gruppen gemäß den eigenen Standards zu Individuen zu emanzipieren, die sich nicht durch ihre Gruppenzugehörigkeit definieren."
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Religion

Der Fernsehprediger und einflussreiche islamische Geistliche Yusuf al-Qaradawi ist im Alter von 96 Jahren gestorben. Hassan Hassan zeichnet bei newlinesmag.com seine Karriere nach. In gesellschaftspolitischen Fragen erließ der Muslimbruder Edikte, die im muslimischen Kontext als modern gelten. Er sprach sich gegen Genitalverstümmelung bei Frauen und für Koedukation aus. Das machte ihn populär. "Das Gleiche gilt jedoch für seine Rechtfertigung von Selbstmordattentaten. Es wäre unfair, Qaradawi allein für die Selbstmordattentate verantwortlich zu machen, da diese Taktik bereits von militanten palästinensischen Hauptakteuren akzeptiert und von scheinbar säkularen Regimen wie den Baathisten in Damaskus unterstützt wurde, bevor der Geistliche seine Unterstützung dafür zum Ausdruck brachte. Aber die Tatsache, dass er und andere vermeintlich gemäßigte Kleriker sie befürworteten, trug zweifellos dazu bei, dass sie in den Mainstream gelangte. Die Gefahr von Fatwas, die von ansonsten gemäßigten Geistlichen herausgegeben werden, besteht darin, dass sie Selbstmordattentate normalisieren, die lange Zeit als randständig und extremistisch angesehen wurden, mehr als jede radikale Rhetorik." Besonders gegen Israel hielt al-Qaradawi Selbstmordattentate für gerechtfertigt.

Außerdem: Gisa Bodenstein berichtet bei hpd.de, dass der Evangelische Kirchentag in Nürnberg nächstes Jahr vom Land Bayern mit 5,5 Millionen Euro subventioniert wird, die höchste Subvention jemals für ein solches Fest. Hinzukommen 4 Millionen Euro von der hoch verschuldeten Stadt Nürnberg.
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Medien

Michael Hanfeld gibt in der FAZ, weitgehend basierend auf Recherchen des Business Insider, weitere Episoden aus dem barocken Leben in den öffentlich-Rechtlichen Anstalten zum besten: "Beim Bayerischen Rundfunk geht es um Zusatzeinkünfte des Spitzenpersonals durch Aufsichtsratsmandate bei Tochterfirmen und bei anderen Unternehmen. Insbesondere geht es um den Fall der technischen Direktorin Birgit Spanner-Ulmer. Sie fiel zunächst mit zwei Dienstwagen auf - einem, in dem sie von zwei Fahrern im Wechsel kutschiert wird, und einem zweiten, bei dem sie sich selbst ans Steuer setzt." Ob sie damit nach Salzgitter fährt? Dort saß sie nämlich im Aufsichtsrat der Salzgitter AG und hat "63.250 Euro zu ihrem ordentlichen BR-Gehalt von knapp 266 .000 Euro erhalten".
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Stichwörter: Bayerischer Rundfunk

Gesellschaft

"Es reicht", ruft Michael Wolfssohn in der Berliner Zeitung. "Genug des Antisemitismus, ob ausdrücklich gegen 'die' Juden oder 'nur' verkleidet als Antiisraelismus beziehungsweise Antizionismus. ... Anschauungsunterricht über den Antisemitismus der Fachidioten lieferten dieses Jahr die Kasseler Documenta sowie die Beiträge auf und im Vorfeld der Karlsruher Tagung des Ökumenischen Kirchenrates. Es waren nicht die ersten und gewiss nicht die letzten Belege für den im vornehmlich linken und links'liberalen' deutschen sowie internationalen 'Wissens-' und Kulturmilieu hegemonialen Antisemitismus, der sich als Israelkritik maskiert. Warum, dies muss kurz erklärt werden, ist Antiisraelismus zugleich Antisemitismus und nicht eben nur Israelkritik? Israelkritik richtet sich, wie in und zwischen Demokratien legitim und notwendig, gegen bestimmte Personen, Parteien, Institutionen oder Koalitionen in Israel. Antiisraelismus beziehungsweise Antizionismus richtet sich gegen die Existenz des jüdischen Staates."

Harry Nutt fragt sich in der Berliner Zeitung, warum die Demonstrantinnen im Iran im Westen so wenig Unterstützung finden. Vielleicht liegt es daran, dass hierzulande "der Lesart, das Kopftuch als einschüchterndes Zeichen der Unterdrückung der Frau zu betrachten, zuletzt immer häufiger entgegengehalten wurde, dass leichtfertig die freie Wahl der Frauen ignoriert werde, es selbstbewusst als Ausdruck des Glaubens zu tragen. Nicht selten wurden die Auseinandersetzungen symbolisch aufgeladen zu rechthaberischen Schaukämpfen, frei von wechselseitigen Vereinfachungen waren sie nie. Allzu selten jedenfalls trugen sie jener alltäglichen Praxis Rechnung, die der Umgang mit einem Stück Stoff bedeutet. ... Von außen bleibt kaum mehr als das Signal, die Menschen nicht vergessen zu haben. Umso wichtiger wäre da nun ein Zeichen der Solidarität jener Muslime, die in Gesellschaften leben, in denen Religionsfreiheit gelebt werden kann. Mit Kopftuch und ohne."
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Politik

Mahsa Amini ist kein Einzelfall. In iranischen Gefängnissen werden regelmäßig Menschen gefoltert und ermordet, erzählt der Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan in der FAZ. Und gegenüber Frauen sind die Regime-Schergen besonders brutal. "Seit Jahren nutzen immer mehr Menschen in Iran das Internet, und es vergeht kein Tag, an dem kein neues Video dort auftaucht, das Fälle dokumentiert von Mädchen und jungen Frauen, die man verhaftet, weil sie nach offizieller Lesart nicht ordnungsgemäß verschleiert sind. Oft zeigen diese kurzen Filme, wie überaus brutal Beamte bei der Festnahme von Frauen vorgehen."
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Kulturpolitik

"Wir sind in Mali, Bamako, Baco Djocoroni", leitet Jonathan Fischer sein Welt-Interview mit Abdel Kader Haidara ein, dem Mann, der die Manuskripte von Timbuktu außer Landes schmuggelte, als die Islamisten dort einfielen. Einen großen Teil kann man jetzt im Original und englischsprachiger Kurzzusammenfassung jetzt im Internet einsehen (immerhin 40.000 Seiten). Das Geld für die Konservierung dieser Manuskripte ist richtig angelegt, betont er, auch wenn Mali eins der ärmsten Länder der Welt ist: "Wir können bis heute viel aus diesen alten Schriften lernen. Sie sind - weil sie bisher in Familienbesitz waren und weder Universitäten noch Bibliotheken zur Verfügung standen - eine noch nicht erschlossene Fundgrube für die Wissenschaft. Und dann korrigieren sie auch ein Weltbild: Lange glaubte man im Westen, dass das präkoloniale Afrika ein unzivilisierter Flecken auf der Landkarte war. Nun wird klar: Wir besitzen eine reiche Schriftkultur, Afrikaner haben schon seit einem Jahrtausend ihre Geschichte und Wissenschaft in Büchern festgehalten." Eines der eindruckvollsten Manuskripte, erzählt er, sei ein "medizinisches Buch aus dem 15. Jahrhundert: Es handelt von der Kunst des Operierens, speziell Operationen der Geschlechtsorgane. Das hatte ich nicht erwartet. Die Beschreibungen gehen bis hin zu Analysen der Gewebezellen und der Blutwerte..."
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