9punkt - Die Debattenrundschau

Ihr Königreich der Unterdrückung endet

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.10.2022. Der Friedensnobelpreis für Ales Bjaljazki, CCL und Memorial hat in der Ukraine Kritik ausgelöst. taz und FAZ widersprechen vehement und würdigen neben der ukrainischen NGO dezidiert auch die Menschenrechtsaktivisten in Russland und Belarus. Im Guardian erklärt Brian Milakovsky, wie sich die Ukraine die Loyalität der russischsprachigen Bevölkerung erarbeite. Auf ZeitOnline fordert Meral Şimşek mehr Solidarität mit den Frauen und Kurden im Iran. Und Atlantic verabschiedet sich vom GIF.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.10.2022 finden Sie hier

Europa

Der Friedensnobelpreis geht in diesem Jahr an die ukrainische Menschenrechtsorganisation CCL, die seit der Besetzung von Krim und Donbass russische Kriegsverbrechen untersucht, an die in Russland verbotene Historikergruppe Memorial und an den belarussischen Menschenrechtsanwalt Ales Bjaljazki.

Die Auszeichnung bewirkt angesichts der Lage vielleicht nicht viel, kommentiert Barbara Oertel in der taz, aber Grund zur Kritik, wie sie in der Ukraine laut wurde, sieht sie nicht: "Wie grenzenlos muss der Hass sein, wenn er mit Ales Bjaljazki und Memorial auch diejenigen trifft, die bereits seit Jahrzehnten Diktatur und Unterdrückung mutig die Stirn bieten. Das lässt für die Zukunft nichts Gutes hoffen und sollte auch von denjenigen zur Kenntnis genommen werden, die einer zügigen Aufnahme von Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau das Wort reden. Und das mit dem Ziel, den Krieg möglichst schnell ad acta zu legen und wieder zur Tagesordnung übergehen zu können. Apropos Ales Bjaljazki: Wer redet heute, über zwei Jahre nach den wochenlangen Massenprotesten gegen die gefälschte Präsidentenwahl, noch von Belarus? Eben." Die Seite 100xSolidarität erinnert an die politischen Gefangenen in Belarus, deren Zahl inzwischen auf 1.100 Menschen angewachsen ist.

In einem weiteren Text stellt Oertel die Menschenrechtlerin Oleksandra Romantzowa vor, die für das Zentrum für bürgerliche Freiheiten (CCL) russische Kriegsverbrechen untersucht. Christian Jacon besucht das belarussische Oppositionsnetzwerk Nexta, das keine eigene Webseite betreibt, die gesperrt oder gehackt werden könnte, sondern seine Inhalte über Soziale Medien verbreitet.

In der FAZ stellt sich Kerstin Holm rückhaltlos hinter Memorial, dessen Erinnerungsarbeit sie schlichtweg heldenhaft findet: "Memorial, das sich Ende der Achtzigerjahre auf Initiative von Andrej Sacharow formierte, hat eine Herkulesaufgabe übernommen. Es sei darum gegangen, der Millionen Opfer des Staatsterrors zu gedenken, ihre Geschichten zu dokumentieren, Überlebende zu entschädigen, aber auch Täter zu identifizieren, erinnert sich Irina Scherbakowa. Man habe endlich die Wahrheit sagen wollen, auch wenn sie schrecklich war. Das war freilich nach dem Ende der Sowjetunion, als viele ihre Lebensgrundlagen verloren, viel verlangt. Außerdem bildeten sich schnell habgierige, unsoziale neue Eliten, die nicht zurückschauen wollten, sagt Scherbakowa. Weil es aber keine Aufarbeitung gab, gab es auch keinen Bruch mit der Vergangenheit, die, wie sich immer klarer zeige, Russland weiterhin gefesselt halte." Osteuropa hat ein Dossier zu Memorial zusammengestellt,

In der FAZ meldet Friedrich Schmidt unterdessen, dass der russische Oppositionspolitiker und Journalist Wladimir Kara-Mursa jetzt auch unter dem Vorwurf des Landesverrats angeklagt wurde, wofür ihm mehr als 20 Jahre Lagerhaft drohen.

Es brauchte gar nicht erst die brutale Besatzungspolitik der Truppen, um auch die Ukrainer im Osten des Landes gegen Russland aufzubringen, betont Brian Milakovsky im Guardian. Nach 2014 hat sich Kiew die Loyalität der russischsprachigen Bevölkerung hart erarbeitet, indem es eine gute Staatlichkeit demonstrierte: Die Behörden ließen Straßen, Parks, Schulen, Stadien, kommunale Wohngebäude und öffentliche Räume instandsetzen. Neue öffentliche Dienstleistungszentren entstanden. Städte wie Mariupol, Kramatorsk und Sjewjerodonezk wurden deutlich attraktiver und versanken nicht, wie von Russland vorhergesagt, im Chaos. Dies stand im Gegensatz zur nahe gelegenen 'Volksrepublik', wo die wirtschaftliche Isolierung von der Ukraine und die kleptokratische, halbkoloniale Verwaltung durch Russland zu nichts anderem als Abstieg führte."

Auf Twitter bekennt sich die Ukraine derweil mehr oder weniger deutlich zu dem Anschlag auf die Krimbrücke, der die Kombattanten auf Twitter in Rauschzustände versetzt.

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Geschichte

Im taz-Interview mit Sophie Jung wird der Stadthistorikerin Iryna Sklokina ein wenig unbehaglich beim Blick auf ukrainische Städte wie Odessa oder Poltawa, die historisch stark mit Russland verwoben sind: "Jetzt wird versucht, alles zu dekonstruieren, was kulturell mit Russland in Verbindung steht. Einige denken über die Musealisierung solcher Orte nach. Andere schlagen vor, den öffentlichen Raum umzugestalten, Gedenktafeln auszuwechseln, die Vermittlung zu ändern, um irgendwie die Komplexität der Geschichte anzusprechen. Aber es gibt auch den Vandalismus lokaler Aktivisten. Ich fürchte, je länger dieser Krieg andauert, desto schlichter und monolithischer wird das ukrainische Verständnis von Kultur. Wir werden also auch nationalistischer."
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Stichwörter: Vandalismus, Odessa

Politik

Auf ZeitOnline ruft die kurdische Autorin Meral Şimşek die Frauen in Europa zu mehr Solidarität mit den Iranerinnen auf. Jîna Mahsa Amini sei von den iranischen Sittenwächtern totgeprügelt worden, weil sie eine Frau war, weil sie das Kopftuch ablehnte, weil sie Kurdin war. Und sie zeigt sich kämpferisch: "Je mehr der Kampf der Frauen für Emanzipation erstarkt, desto stärker ufert diese Barbarei aus. Die Männer wissen, dass ihr Königreich der Unterdrückung endet, sobald die Frauen frei sind, und davor fürchten sie sich. Diese Tragödie ist bei Frauen von Völkern, die unter Besatzung leben, noch furchtbarer. Im Laufe der Geschichte haben Kolonisatoren und Besatzer Frauen oft im Lichte der Moral- und Ehrauffassung ihrer Gesellschaften als Kriegsbeute oder als Instrument zur Einschüchterung betrachtet und in verschiedener Weise gequält."
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Medien

Mit GIFs geht es zu Ende, ahnt jetzt auch Kaitlyn Tiffany in Atlantic. Spätestens seit Vice verkündete, animierte Bilddateien seien nur noch für Boomer, gelten sie als cringe. Tiffany findet es trotzdem schade: "Ich glaube, es wird immer eine Handvoll Masochisten geben, die sich abmühen, ein GIF zu erstellen und es irgendwo zu posten - weil sie sich der perfekten animierten Schleife verschrieben haben und weil sie glauben, dass es etwas spirituell Wichtiges ist, sich für ihre Erstellung zu verrenken."
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Stichwörter: Vice